Aktuelle Ausgabe November/Dezember 2019


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»Das ganz gewöhnliche Leben«

Porträt der Berliner Schriftstellerin Katja Lange-Müller
Die Eigentümlichkeit ihrer Texte liegt in der Verbindung von alltäglicher Szenerie und dazugehörigem lässig-lakonischem Ton mit ausgefeiltester Kompositions-kunst

Von Barbara Potthast

»Die Figuren sind immer das Erste«, sagt Katja Lange-Müller, wenn sie nach ihrer Arbeitsweise gefragt wird. Vieles an ihrer Art zu erzählen ist besonders und ihre Figuren gehören unbedingt dazu. Keine Erfolgsmenschen, sondern vom Leben gebeutelt, erreichen sie unerwartete Größe, wenn sich ihr unspektakulärer Alltag irgendwann zu einem einzigartigen, ja historischen Geschehen aufgipfelt. Die Schriftstellerin fühlt sich mit ihren Figuren, die sie quälen und nicht in Ruhe lassen, eng verbunden und auch wieder nicht. Um mit ihnen auszukommen, weil es ohne sie nicht geht und weil sie sich für Katja Lange-Müller entschieden haben, hat sie beschlossen, die Figuren selbst reden zu lassen – so erklärt sie es in einem Buch über ihre schriftstellerische Arbeit, Das Problem als Katalysator, das aus ihren Poetikvorlesungen des Jahres 2016 hervorgegangen ist.

Auch uns Lesern kommen ihre Helden ganz nah: Lange-Müller erzählt meistens in der Ich-Form und nutzt die Möglichkeit, die Figuren, die nicht allzu viel von sich halten, ihr Allerinnerstes zeigen zu lassen, auch das Schwache, womöglich Beschämende. Gerade dies stellt sich aber letztlich oft als die Größe der Figuren heraus – wie auch bei ihrer Schöpferin selbst, die ihre Poetikvorlesungen an der Frankfurter Universität mit der Bemerkung beginnt: »Womöglich bin ich hier falsch. Ich habe nicht mal Abitur.«

Dass Katja Lange-Müller kein Abitur hat, ist eine Konsequenz der deutschen Geschichte. Geboren 1951 als Tochter einer Mutter, die eine der mächtigsten DDR-Politikerinnen wurde, und eines Vaters, der später stellvertretender Intendant des DDR-Fernsehens war, erlebt sie eine Kindheit nach dem Ideal der jungen DDR-Pädagogik – einige Jahre davon im Heim. Sie muckt auf, mault gegen das System und fliegt mit 16 »wegen unsozialistischen Verhaltens« von der Schule. Katja lernt den Beruf der Schriftsetzerin, und hier in der Druckerei, beim Herstellen von staatstragenden Broschüren und Zeitschriften, wird sie endgültig empfindlich gegen die verlogene Sprache der Diktatur und entwickelt ihr Stilideal sprachlicher Lakonie.

Später, im Jahr 2002, wird sie diesem untergegangenen Beruf einen Roman widmen: Die Letzten: Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei. Diese kleine private Ostberliner Druckerei ist in den ausgehenden 70ern in doppeltem Sinn am Ende: weil der Computersatz die alte Linotype (und ihre Bediener) überflüssig macht und weil die Erosionserscheinungen der DDR sich nicht mehr verbergen lassen. Die Belegschaft besteht aus drei Männern und der Ich-Erzählerin Püppi, von denen jeder seine traurige, eng mit der DDR-Geschichte verwobene Geschichte hat. Der stille Manfred mit dem Genie für Maschinen zum Beispiel wird von seinem Polier als »das kollektivunfähigste Arschloch aller Zeiten« bezeichnet; als der Polier bei einem Gerangel mit Manfred zu Tode kommt, erklärt man diesen für schizophren. Willi, der eigentlich Heinz heißt, entwickelt in der Druckerei ein Verfahren, Kassiber in den Drucksachen zu verschicken, indem er die Wortzwischenräume zu großen Buchstaben anordnet, die nur für geübte Augen lesbar sind. Bezeichnenderweise nutzt der von seiner tyrannischen Mutter unterdrückte Willi dieses originelle, aber in der Diktatur zweifellos verbotene Kommunikationsverfahren nicht für politische, sondern für sehr persönliche Botschaften: MUTTERSAU ist seine erste Geheimnachricht an die Welt.

Es sind die privaten, intimen Auswirkungen der Diktatur auf ihre Figuren, von denen Katja Lange-Müller erzählt, und es sind Prägungen aus der Kindheit. Ihre Helden sind Beschädigte, Freaks, schräge Vögel, die, wenn es darauf ankommt, Außergewöhnliches leisten können. Überhaupt prägt der Sinn der Autorin für das ganz gewöhnliche Leben ihre Texte von Grund auf. Das, was auf den ersten Blick gewöhnlich und niedrig aussieht, kann in Wahrheit erhaben sein, so wie die »Schizo-Omas und senilen Demenzen« in einer gero-psychiatrischen Frauenstation in der frühen tragikomischen Erzählung Manchmal kommt der Dot auf Latschen.

Von den Paradoxien des Lebens kann das »unsozialistische« Kaderkind Katja Lange-Müller erzählen wie keine Zweite. Dazu tragen nicht zuletzt ihre Erfahrungen in den vielen unterschiedlichen Berufen bei, die sie in den 70ern und 80ern in der DDR und den sozialistischen Bruderländern ausgeübt hat: Redakteurin, Hilfskrankenschwester, Fabrikarbeiterin, Lektorin und andere mehr. In diesen Jahren bildet sich die Schriftstellerin heraus, und als sie 1984 schließlich die DDR verlässt und in die BRD ausreist, kann sie im westdeutschen Literaturbetrieb rasch reüssieren. Sie bekommt bedeutende Literaturpreise und schreibt seitdem viel beachtete Romane und Erzählungen – darunter den Bestseller Böse Schafe, ihr bestes Buch.

Der Roman spielt zwischen 1988 und 1990, als Soja, Ende 30, Republikflüchtling und in Westberlin gestrandet, sich in den HIV-infizierten Junkie und Ex-Knacki Harry verliebte, ihm zu helfen versuchte und scheiterte. Soja erzählt dem toten Harry, von dem ihr nichts als ein paar Tagebuchfetzen geblieben sind, ihrer beider Geschichte zehn Jahre später aus der Rückschau. Sie erzählt in einer um Sachlichkeit und Genauigkeit bemühten Sprache, so als wolle sie einem Verstehen des Ungeheuerlichen, Unbegreiflichen, das sie mit Harry erlebt hat, endlich näherkommen. Damals sah es eine kurze Frist lang so aus, als könne die tatkräftige, für ihren Freund Berge versetzende Soja ihn womöglich von der Sucht befreien, doch durch das Agieren seines Drogentherapeuten geriet Harry zurück in die Abhängigkeit. Er starb dann rasch als eines der ersten HIV-Opfer Berlins, während im Hintergrund die geteilte Stadt unterging und sich die Weltordnung veränderte.

Die Großartigkeit dieses Romans liegt beileibe nicht im Plot – sie liegt in der Komposition von Sojas Erzählung. Sie rekonstruiert in nüchternem Ton, dass das Glück (für Soja »Freiheit verheißende Bedürfnislosigkeit«) eine Zeitlang tatsächlich möglich war und wie die Möglichkeit des Glücks den Figuren im Alltag nach und nach und unmerklich entglitt. So entsteht im Text eine Sogwirkung – der Faktor Zeit spielt dabei eine entscheidende Rolle –, die den Leser erfasst und fordert. In der Entwicklung der Geschichte von Soja und Harry wird mehr unterdrückt als ausgesprochen; das Wort Liebe kommt so gut wie gar nicht vor. Der Leser wird bei diesem Schwebezustand geradezu gezwungen, seine eigenen Klischees zu überprüfen, sich zu fragen, was hier richtig und angemessen gewesen wäre, wer versagt hat und was er selbst getan hätte, denn Sojas Erzählung liefert keine Deutung und keine Erklärung.

»Erst wenn wir uns den Fragen stellen, die der Text uns stellt«, sagt Katja Lange-Müller über ihre Art zu schreiben, »erst dann entdecken wir die ungeschriebenen, ungesagten oder sogar unsäglichen Wörter unter und hinter dem soeben Gelesenen.« Der Romantitel Böse Schafe bezeichnet genau das: die Unmöglichkeit, ein klares Urteil über die Figuren zu fällen, ihre Schuld oder Unschuld festzusetzen. Am Ende fängt der Roman das ganz große Glück dann doch noch ein: Es liegt im Erzählen. Wenn Soja ihrem Harry erzählt und sich an das Vergangene erinnert, steht die Zeit still.

Es sind die Großen der klassischen Novellistik – Kleist, Melville, Hemingway –, die sich Katja Lange-Müller als Lehrmeister (oder »Lotsenfische«, wie sie sagt) gewählt hat, und sie kann sich mit ihnen messen. Die Eigentümlichkeit ihrer Texte liegt in der Verbindung von alltäglicher Szenerie und dazugehörigem lässig-lakonischen Ton mit ausgefeiltester Kompositionskunst. So entstanden perfekte Erzählungen wie Die Enten, die Frauen und die Wahrheit in dem gleichnamigen Band. Tatsächlich ist die kurze Erzählung oder Kurzgeschichte das Grundmodul ihrer Kunst, hier liegt ihre Meisterschaft. Die Qualität ihrer Romane, nicht zuletzt auch die des 2016 erschienenen Romans Drehtür, beruht auf der kunstvollen Komposition von einzelnen Episoden, Szenen, Erinnerungsfetzen. Und damit kommen wieder die Figuren der Katja Lange-Müller ins Spiel, die dem Leser nicht gleichgültig bleiben können und von denen alles ausgeht.

Barbara Potthast, Jahrgang 1963, ist nach ihrem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie jetzt Professorin für Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart mit dem Schwerpunkt auf der südwestdeutschen und der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts sowie der Nachkriegsliteratur.

 

Zum Weiterlesen:

Die Letzten: Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei. 2000 (nur antiquarisch)

Böse Schafe. Roman. 2007. 208 Seiten, 16,95 Euro

Die Enten, die Frauen und die Wahrheit. Erzählungen. 2009. 256 Seiten, 8,49 Euro

Drehtür. Roman. 2016. 224 Seiten, 19 Euro

Das Problem als Katalysator. Frankfurter Poetikvorlesungen. 2018. 192 Seiten, 20 Euro

Alle bei Kiepenheuer & Witsch, Köln

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