Aktuelle Ausgabe November/Dezember 2019


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"Zwei Ausstellungen über das Schreiben von Hand: im Literaturmuseum der Moderne in Marbach und im Schulmuseum Friedrichshafen""

Von Irene Ferchl

Auf dem Weg zur Schrift und zur Poesie

»Für das Schreiben mit der Hand läutet das Totenglöckchen«, behauptet Hans Magnus Enzensberger in einem Interview, er selbst allerdings sei noch »von der alten Schule, […] ein Kritzler, das heißt, ich nehme einen Zettel und schreibe auf, was mir einfällt, und das ist nur der Anfang eines langen Prozesses«. Enzensberger, der im November seinen 90. Geburtstag feiert, hat das Magazin, in dem das Interview nachzulesen ist, und die Marbacher Ausstellung angeregt. Sein bei den BesucherInnen beliebter »Landsberger Poesieautomat« markiert unübersehbar deren Auftakt und bildet zusammen mit seiner Idee eines »Nadeltextes« gewissermaßen die Rechtfertigung für einen befreienden Umgang mit Literatur, denn »unter jedem Text findet sich ein anderer, finden sich viele andere, mehr als die Weisheit des Lesers und Schreibers sich träumen lassen«. Kurz: Es darf gespielt werden!

Die Aufforderung »Hands on!« ist wörtlich gemeint: man soll anpacken und ausprobieren. Also etwa im dunklen Raum mit einem »Luftschreiber«, das heißt mit Armbewegungen und Licht, Linien an die Wände zu malen, die die Unterschriften von Hermann Hesse, Franz Kafka und Friedrich Schiller umkreisen oder überschreiben. Man kann mit ausgeschnittenen Buchstaben Anagramme basteln, wie Oskar Pastior es genial vorgemacht hat, oder mit geschlossenen Augen Schweinchen kritzeln – was auf ein Vorbild aus Thomas Manns Zauberberg zurückgeht –, kann im sogenannten »Marbacher Alphabet« ausgewählte Buchstaben aus Dichterhandschriften nachmalen oder die zu Tieren mutierten Buchstaben von Cornelia Funke. Man kann sich in das Grammatik-Brettspiel von Sibylle Lewitscharoff vertiefen oder sich mit den überall herumstehenden Stiften, ja sogar mit Griffeln auf Schiefertafeln zeichnerisch vergnügen. An einem Novembertag für Kindergartenkinder dürfen diese nach einer Vorlesestunde Handschriften – die sie natürlich noch weniger als Erwachsene entziffern können – abmalen.

Ob über dem ganzen Mitmachen, das zweifellos eine Motivation zur Beschäftigung darstellen kann, nicht andererseits die Wertschätzung eines Kunstwerks in den Hintergrund tritt? Wo liegt dessen Bedeutung, wenn ich alles auch selber kann? Die Antwort auf diese sich unwillkürlich aufdrängende Frage bleibt die Ausstellung schuldig.

»Eine fließende Handschrift bringt die Gedanken zum Fliegen«

Ein Hauptthema der Marbacher Ausstellung ist die Aneignung und Entwicklung der eigenen Handschrift sowie die Entstehung von Dichtung. Dazu sind im Schillersaal des Museums Faksimiles von Schulheften, Kinderbriefen, Zeichnungen und Schreibübungen auf Tischen ausgebreitet und sicherheitshalber angebunden; in der ständigen Ausstellung des Literaturmuseums der Moderne weisen rote Fäden und kommentierende Schrifttäfelchen den Weg zu den Objekten, zu Manuskripten verschiedenster Art in den Vitrinen, mehrheitlich von Schiller, Mörike, Uhland, Kerner, natürlich von Benjamin, Hesse und Kafka, aber auch von Mosebach und Sebald. Immerhin entdeckt man solcherart sonst vielleicht Übersehenes wie Jakob van Hoddis’ Notizen zum Gedicht »Weltende« oder ein Blatt mit den Krallen-Schriftzügen des Katers Murr …

Im Marbacher Magazin zur Ausstellung finden sich im Kapitel »ABC-Schützen« bunt gemischt, nach den Vornamen sortiert, Dokumente unter anderem des 14-jährigen Eduard Mörike (deutsche Worte in griechischer Schrift), Friedrich Schillers Dankgedicht an den Dekan im Herbst 1771 und kalligraphisch wirkende Schriftproben Friedrich Wilhelm Waiblingers, Schönschreibübungen von Karl Gerok und Judith Schalansky, ein Lateinheft von Ludwig Uhland und ein Erdkundeheft von Emil Erich Kästner, die Zeichnung einer gehörnten Ratte von Durs Grünbein, aber auch »Übungen für die linkische Hand« der 52-jährigen Sarah Kirsch und ein Brief des 24-jährigen Franz Kafka an Hedwig Weiler, der mit Schreibmaschine getippt beginnt und in Kurrent weitergeht.

Wundert man sich, dass auch eine kleine Felicitas Hoppe ihrer Tante pflichtgemäß mitteilte: »mir geht es gut / in der Schule geht es gut«, dass ein Hans Magnus Enzensberger den Vater ebenso sehnsüchtig wie voller Schreibfehler herbeiwünschte?

Das Deutsche Literaturarchiv mit seinen unzähligen Nachlässen und Vorlässen ist ein unschätzbarer und allzu verführerischer Fundus.

Von Gänsefeder und Tintenfass über Schreibmaschine und Füllfederhalter zu Kugelschreiber und Tablet

Auf die Frage, welche Rolle die eigene Handschrift heute für SchriftstellerInnen spiele, antworten die beiden Marbacher Kuratorinnen Heike Gfrereis und Sandra Richter: »Wir denken, dass das sehr individuell und sehr unterschiedlich ist, je nach Generation, Typ, Anlass und Funktion.«

Die Vorschulkinder aus Friedrichshafen, die im Vorfeld der Ausstellung #schreiben im Schulmuseum gefragt wurden, warum sie schreiben lernen wollen, wussten genau, dass sich ihnen dadurch eine neue Welt erschließen wird. Auf welche Weise das dann in der Schule geschieht, wird sich weisen – die Diskussionen dazu innerhalb der Lehrerschaft, der Eltern und der Bildungspolitiker sind mal wieder heftig entbrannt.

Unter der Überschrift »Die Anspitzung des Denkens« brachte DIE ZEIT Ende September einen ausführlichen Artikel zu der Frage, ob das Erlernen der de Schreibens von Hand mehr sei als eine obsolete Kulturtechnik.

Mit einer kurzen Geschichte des Schreibens beginnt die Sonderausstellung #schreiben. Tinte oder Tablet?, die innerhalb des etwas in die Jahre gekommenen, also sympathisch-altmodischen Schulmuseums nicht viel, aber doch genügend Raum bekommt, um die wesentlichen Facetten des Themas zu behandeln.

»Vom Privileg zum Allgemeingut – Wer schreiben kann, ist klar im Vorteil« resümiert eine Tafel die kurze Geschichte der Bildung vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, denn Schrift und Schreibfähigkeit sind Voraussetzungen für wissenschaftlichen Fortschritt und Demokratie.

Unter der Überschrift »Schreiben will gelernt sein« bringt eine Darstellung der Schriftentwicklung Ordnung in den »Tanz der Alphabete«, das Wirrwarr von Kurrentschriften, Sütterlin, lateinischer und vereinfachter Ausgangsschrift. Das bringt BesucherInnen zum Nachdenken: Wie und was hat man eigentlich selbst noch schreiben, zumindest lesen gelernt? Etwa um die Briefe der Großeltern zu entziffern, an Dichterhandschriften dachte man ja damals noch nicht …

(Handschriftliche) Briefe und Postkarten – deren Erfolgsgeschichte vor 150 Jahren begann – waren im ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert zentrale Kommunikationsmittel und besitzen für bestimmte Lebenssituationen wohl noch immer ihre Berechtigung, ebenso wie die Tagebücher, für die Beispiele aus dem Labor, von Reisen, von einem jungen Flakhelfer und einem Mädchen, das für sich eine Geheimschrift erdachte, gezeigt werden. In einer »Brieflaube« kann man sich in Ruhe mit einer Sammlung unterschiedlichster Korrespondenz beschäftigen.

Die große Revolution, betont die Museumsleiterin Friederike Lutz beim Rundgang, war die Tastatur der Schreibmaschine, und sie weist auf ein hölzernes Monstrum als vielleicht ältester Prototyp und auf die beeindruckende »Triumph« aus den 20er Jahren. Doch bevor sich angesichts dieser Geräte Nostalgie verbreitet, geht es weiter auf dem Weg zur Digitalisierung: Spielt die beim Schreiben mit der Hand geübte Feinmotorik eine Rolle als Training für das Gehirn? Es spräche zwar einiges dafür, dass es Vorteile bringt, weil das Gehirn als Schaltstelle vom Netzwerk aus Motorik, Sensorik, Gehörtem und Sprache profitieren kann. Eine definitive Antwort gibt es schon deshalb nicht, weil mindestens hierzulande noch kein Kind nur auf einem Tablet zu kritzeln beginnt.

Bemerkenswert ist allerdings, dass die »Generation Tablet« Tinte liebt, dass Kalligraphie und Handlettering große Mode geworden sind – übrigens ist auch die Auswahl an Ansichts- bzw. Kunstkarten und Notizbüchern, die gar nicht anders als von Hand zu füllen sind, in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. In der Friedrichshafener Ausstellung liegen linierte Briefbögen und Postkarten aus, die die kleinen und großen BesucherInnen mitnehmen oder beschreiben dürfen, etwa mit der Antwort auf die Frage: »Was war Ihr prägendstes Schreiberlebnis?« Die bisher – alle von Hand – ausgefüllten Blätter hängen als dekoratives Mobile im Treppenhaus zum Nachlesen.

»Eine fließende Handschrift bringt die Gedanken zum Fliegen«, formulierte Cornelia Funke (die zur Finissage der Marbacher Ausstellung Ende Februar per Skype anwesend sein wird) – ob nun wissenschaftlich untermauert oder nicht, es ist eine schöne und für viele wohl überzeugende Vorstellung.

 

#schreiben. Tinte oder Tablet?

Ausstellung im Schulmuseum Friedrichshafen bis Herbst 2020.

www.schulmuseum.friedrichshafen.de

 

Hands on! Schreiben lernen, Poesie machen.

Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne und Deutschen Literaturarchiv, Marbach a. N. bis 1. März 2020, dazu erscheint das gleichnamige Marbacher Magazin 167, hrsg. von Heike Gfrereis und Sandra Richter. 100 Seiten, 12 Euro.

www.dla-marbach.de

 

Das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen, das wir im Literaturblatt 1/2006 vorgestellt haben, hätten wir in diesem Zusammenhang gern wieder einmal besucht, es wird nach langer Schließzeit wegen Umbaumaßnahmen aber erst am 2. Februar 2020 wieder eröffnet.

https://tagebucharchiv.de

PDF-Datei

6_2019_Ferchl.pdf

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