Eine Stimme der Kultur und der Vernunft

Abdelwahab Meddebs Essay über Die Krankheit des Islam

Von Michaela Grom


Im Zuge der Diskussionen und Polemiken um die Geschehnisse im Umfeld des 11. Septembers wurde mindestens so viel Erhellendes und Nachdenkenswertes wie Hanebüchenes auf den globalen Wissensmarkt geworfen – nur Weniges allerdings aus der kenntnisreichen und vermittelnden Innenschau heraus, die so dringend nötig ist. Einen Glücksfall diesbezüglich stellt das aktuelle Buch von Abdelwahab Meddeb dar.

Meddeb, Jahrgang 1946, ist Dichter, Romancier, Philosoph, Essayist. Er entstammt einer tunesischen Gelehrtenfamilie, lebt seit vielen Jahren in Paris – ein profunder Kenner islamischer Tradition und zugleich geistiger Nachfahre der europäischen Aufklärung.
Die Überschrift des erhellenden Essays, den der Autor unter dem Eindruck der Ereignisse des 11. Septembers zu Papier brachte und der jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist, kommt recht plakativ daher: Die Krankheit des Islam. Dahinter allerdings verbirgt sich ein kenntnisreicher, differenzierter Streifzug durch die Geschichte wichtiger geistiger Strömungen innerhalb der islamischen Welt – Strömungen, die bis heute weiterwirken, genau wie Wege, die dann abbrachen.

Zunächst diagnostiziert Meddeb, dass die für die muslimische Welt bis ins 18./19. Jahrhundert kennzeichnende „Kultur der Affirmation“, die Grundhaltung einer aristokratischen Generosität, allmählich abgelöst wurde von einer „Kultur des Ressentiments“, dem Gefühl der Demütigung, der Benachteiligung, des Ausgeschlossenseins.
Nach großer und fruchtbarer Blütezeit zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert hat sich, so Meddeb, die „Weltkapitale“ im Laufe der Geschichte immer weiter vom islamischen Raum entfernt. Zentren wie Bagdad, Cordoba und Kairo wurden abgelöst von Genua und Venedig, später von Amsterdam und London. Für das 20. Jahrhundert ist New York als Zentrum lokalisierbar, mit einer Verschiebung in Richtung Pazifikküste.

Für die islamische Welt bedeutete dieser Machtverlust eine enorme Schwächung, die letztlich ins Trauma der Kolonisierung mündete. Das Gefühl des Ressentiments, in der islamischen Welt bis dahin weitgehend unbekannt, wurde schließlich vorherrschend.
Wer den Diskurs in den arabischen Medien verfolgt, wird immer wieder auf die Früchte dieses Ressentiments stoßen: auf Verschwörungstheorien, das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, nicht gleichwertig zu sein. Wo sich solche Theorien breit machen, hat die Selbstbefragung aufgehört, muss sich niemand selbst verantwortlich fühlen.

Immer wieder wird in der aktuellen Islam-Debatte das Argument ins Feld geführt, die islamische Welt habe keine Phase durchlebt, die der europäischen Epoche der Aufklärung vergleichbar wäre. Der Islam, so wird gesagt, beruhe auf der „Konsubstantialität“, Politisches und Religiöses seien untrennbar miteinander verschmolzen. – Eine Argumentation, die interessanterweise sowohl von westlichen „Experten“ wie islamischen Fundamentalisten gleichermaßen benutzt wird.

Meddeb erinnert dagegen an Entwicklungen mit durchaus aufklärerischem Charakter, die sehr früh da waren: die so genannten Mo´taziliten („mutazila“) beispielsweise, eine Bewegung zu Beginn des 9. Jahrhunderts, die der Vernunft das Primat gab und versuchte, zentrale Dogmen des Islam zu erschüttern. Eine Bewegung, die für einige Zeit sogar zur Staatsdoktrin wurde, dann allerdings bereits Mitte des selben Jahrhunderts wieder von Orthodoxen abgelöst wurde, die sich buchstabengetreu den islamischen Quellen verpflichtet fühlten. Meddeb verweist auf den Stand der Wissenschaft, der Poesie, der technischen Entwicklungen der islamischen Zivilisation, er verweist darauf, dass sie bis in die Zeit des Barock und der Klassik auf Augenhöhe war mit Europa. Die islamische Welt kam also mit den großen Fragen durchaus in Berührung – schon zu einer Zeit, in der in Europa „tiefstes Mittelalter“ herrschte. Der Prozess brach jedoch ab, blieb ohne Folgen.

Im 18. Jahrhundert, als der Westen eigene Wege beschritt, die Aufklärung mit einer neuen Auffassung von Freiheit, mit dem Konzept der Menschenrechte, der Idee des Individuums aufschien – genau in dieser Zeit entstand auf der Arabischen Halbinsel die Strömung des Wahabismus, eine puristische Bewegung, die dann – zwei Jahrhunderte später – zur Staatsdoktrin des heutigen Saudi-Arabien wurde.

In einer aufschluss- und kenntnisreichen „Genealogie des Fundamentalismus“, verfolgt Meddeb die Spur rigoristischer, puristischer Koranauslegung von den Anfängen im 9. Jahrhundert (Ibn Hanbal – später, Anfang des 14. Jahrhunderts., sein radikaler Schüler Ibn Taymiyya) bis zum Wahabismus und den Auswirkungen heute.

Wo Abdelwahab Meddeb sich mit den heutigen Gegebenheiten beschäftigt, da wird er gern und oft polemisch, da entringen sich ihm Ausrufe, die jedem, der sich eine Weile in einem islamischen Land aufgehalten hat, ein verständnisvolles Lächeln des Wiedererkennens entlocken.

Was Meddeb mit Erstaunen und Entsetzen erfüllt – hier finden sich die emotionalsten Passagen des Buches -, sind die Strömungen, die Fragestellungen, die, längst überwunden geglaubt, sich nun wieder lautstark zu Wort melden: die Frage der Verschleierung der Frauen; die immer stärkere Schematisierung und Simplifizierung des Islam namentlich in Saudi-Arabien, dessen Purismus in letzter Konsequenz eine Vernichtung der islamischen Kultur und aller Dinge, die sie hervorgebracht hat, implizieren würde.

Aber auch in einem eher westlich ausgerichteten Land wie Ägypten beobachtete Meddeb schon in den achtziger Jahren „… eine Form des Islam, die ich nicht kannte, die inmitten dieser fast schon säkularisierten Gesellschaft das Ergebnis der islamistischen Heilsbotschaften war“.
Und so bietet sich ihm heute folgendes Bild: ausgeprägtes westliches Konsumverhalten einerseits, auf der anderen Seite eine festgefügte, eingeengt-traditionelle Weltanschauung. Das Stadtbild wird zunehmend geprägt von Frauen, die unter ihren „züchtigen“ Kleidern einen Hitzschlag zu erleiden drohen. Das Ohr wird gepeinigt von Gebetsrufen, bei denen zum Lob Gottes nicht mehr die menschliche Stimme in ihrer Unmittelbarkeit und Schönheit erklingt, sondern ein durch voll aufgedrehte Verstärker und knarzende Lautsprecher bis zur Unkenntlichkeit verzerrter Klangbrei, bei dem es – jeder gegen jeden – mehr auf die Lautstärke ankommt als auf die Innigkeit des Rufes.

Offen gesagt, würde sich kein Fremder, kein Gast auf Zeit, zu solchen Aussagen hinreißen lassen, schon gar nicht öffentlich, und das ist auch gut so. Die teils harschen Urteile, die Abdelwahab Meddeb fällt, werden dagegen nie aus einer Position der Arroganz, des vermeintlichen Darüberstehens gefällt, vielmehr entspringen sie einer Art gekränkter Liebe, einer gewissen Verzweiflung darüber, dass Schönheit in Erstarrung und Größe in Rigorismus sich zu wandeln drohen.

Die Tatsache, dass und vor allem wie Meddeb diese Urteile und Ansichten äußert, ohne Zugeständnis, ohne Weichzeichnerei und Relativierung, hat durchaus etwas Kathartisches. Er löst damit eine Forderung ein, die er selbst im Verlauf seines Essays immer wieder erhebt: die Fähigkeit zur Selbstkritik, zum schonungslosen Offenlegen von Missständen – nicht, um das eigene Herkommen zu beschmutzen und zu verunglimpfen oder gar gegen etwas Anderes, vermeintlich Besseres abzusetzen, sondern als ersten Schritt zu einer Verbesserung der Gesamtsituation, als erste Lockerung der Krampfstarre – oder, um im schwierigen Bild zu bleiben: als ersten Schritt zu einer Heilung der „maladie“.

So wie Meddeb die Unfähigkeit und Unwilligkeit der islamischen Welt kritisiert, sich zu öffnen, den eigenen Versäumnissen und Missständen ins Auge zu schauen, geht er andererseits auch hart mit dem Westen ins Gericht, der zwar oft moralisch und mit höheren Werten argumentiert – aber letztlich nur dann aktiv wird, wenn materielle Interessen im Spiel sind. Die Buddhas von Bamyan, so Meddeb, die jahrhundertelang unbeschadet auf islamischem Gebiet stehen konnten, sie wären zu retten gewesen von einer Welt-Gemeinschaft, die für ihre geistigen Werte, für ihr Weltkulturerbe aufsteht …
Abdelwahab Meddeb ist ein frei schweifender Geist, ein Sucher und Vermittler, der sich mit seinen Gedanken und Überlegungen zwischen alle Stühle des modernen Blockdenkens setzt. Seine Vision einer Weltkultur, sein Plädoyer für Werke des Geistes, „die über die Traditionen hinausgehen, ohne den Dialog mit ihnen abzubrechen”, hat angesichts der derzeitigen Situation etwas beharrlich Verzweifeltes. Aber gerade in Zeiten einer alles vereinheitlichenden Globalisierung, im Gedröhne grobschlächtiger Kulturkampftheorien a la Huntington, sind solche Visionen, solche Stimmen der Kultur und der Vernunft wohltuend – und bitter nötig.

Zum Weiterlesen:

Abdelwahab Meddeb, Die Krankheit des Islam. Aus dem Französischen von Beate und Hans Thill. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2002. 252 Seiten, 28 €

Von:
Michaela Grom, Jahrgang 1962, hat in Heidelberg Romanistik und Germanistik, in Stuttgart an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst studiert. Viele Jahre Redakteurin und Moderatorin beim SWR, Stuttgart, und Mitglied der Sprechgruppe „textett“. Sie lebt derzeit als freie Journalistin in Kairo.