Ausgabe: September/Oktober 2002 


Zurück zur Übersicht der Hefte
Zurück zur Übersicht Hefte 2002


 

Eine Lust zu lesen - Über irdische Amouren und anderes

Eine kleine Herbstnovitätenschau

Von Gunther Nickel


In seinem vor zwei Jahren erschienenen Roman Tristanakkord zog Hans-Ulrich Treichel Musiker und Germanisten gehörig durch den Kakao. In seinem neuen Buch ist nun die Zunft der Kunsthistoriker an der Reihe, die wir in Gestalt des Studenten Albert kennenlernen. Er ist an nackten Jünglingen nicht sonderlich interessiert, muss aber einsehen, dass das Studium der Kunstgeschichte zu einem beträchtlichen Teil auf die intensive Beschäftigung mit ihnen hinausläuft. Zu seinem Missvergnügen soll Albert auch noch vieles andere lernen, was er gar nicht wissen will, denn seine Kunstgeschichte, so erklärt Treichels Erzähler, „hatte etwas mit Schönheit zu tun, mit Eros und Verzauberung. Und wohl auch damit, dass er die Mädchen an den Stellen berühren wollte, an denen man sie nicht berühren durfte”. Albert hat, man ahnt es schon, nicht nur Schwierigkeiten mit seinem Studienfach, sondern auch im Umgang mit Frauen. Als „Cretino” bezeichnet ihn kurzerhand eine wunderschöne Polizistin in Rom. Und mehr als ein mitleidiges „Poveretto” versteht er auch der Sardin Elena nicht zu entlocken, wenngleich er bei ihr dann doch zum Zuge kommt. Ein irdischer Amor hat Treichel diesen Roman überschrieben, und in der Tat taugt Albert schon rein äußerlich überhaupt nicht zum Liebesgott. Dass er sich dann ausgerechnet an eine Abschlussarbeit über Caravaggio wagt, der ja nicht zuletzt für seinen „Amor als Sieger” berühmt ist, gehört zu den zahlreichen listig ersonnenen Einfällen des Autors. Sollte dieser allerdings für sich in Anspruch nehmen, wie Caravaggio nicht mythologische Idealgestalten, sondern Menschen von Fleisch und Blut porträtiert zu haben, müsste man ihm die Gefolgschaft verweigern. Denn Der irdische Amor ist zwar ein sehr kurzweiliges und sehr intelligent komponiertes Buch, aber es bezieht einen beträchtlichen Teil seines Witzes daraus, dass es karikierend überzeichnet.

Vor genau zehn Jahren erschien in der Collection S. Fischer ein von der Kritik landauf, landab in höchsten Tönen gelobter Roman: Dagmar Leupolds Prosadebüt Edmond: Geschichte einer Sehnsucht. Die Autorin brachte das Kunststück fertig, eine Liebesgeschichte und die poetische Reflexion über das Schreiben einer Liebesgeschichte so spielerisch leicht miteinander zu verknüpfen, dass sie mit dem aspekte-Literaturpreis des ZDF ausgezeichnet wurde. Jetzt erscheint eine Neuausgabe im Hardcover, mit einem Nachwort von Uwe Timm und, was am meisten überrascht, in einem anderen Verlag: bei C.H. Beck in München. Dort kommt mit Eden Plaza auch Leupolds neuer Roman heraus, der mit ihrem Debüt, so die Verlagsankündigung, korrespondiere. Tatsächlich beginnt Eden Plaza ebenfalls mit der Erinnerung an eine Liebe, aber es ist schnell klar, dass diese Geschichte nicht gut ausgehen wird. Sie ist eine Rückschau auf ein fast unmerkliches, schleichendes und damit wahrscheinlich in vieler Hinsicht exemplarisches Scheitern einer Ehe: Irgendwann zeigt sich, dass die Gemeinsamkeiten schon lange aus nichts anderem mehr als Routine bestehen. Und am Ende sitzt man sich in Cafés gegenüber und hat zwar – wie es einmal so schön heißt – Apfelkuchen vor sich, aber keine Zukunft. Dagmar Leupold schildert die Szenen einer Ehe wie eine sachliche Romanze: unsentimental, aber dennoch sehr einfühlsam und in einer derart farbigen, reich orchestrierten Sprache, dass es einfach eine Lust zu lesen ist.

Was sich in Eden Plaza erst bei der Lektüre herausstellt, macht Karen Duve schon durch den Titel klar: Dies ist kein Liebeslied. Nein, das ist es wirklich nicht. Und die mit grellem gelb und rot allzu poppig unterlegten Abbildungen auf dem Umschlag lassen schon erahnen, was der Text dann bald bestätigt: Duves neuer Roman handelt von der Geschichte einer Essstörung. Nicht unbedingt ein Sujet für ein unterhaltsames Buch. Doch Duve schlägt wieder den wunderbar lakonisch-boshaften Ton an, den man schon aus ihrem Erzählungsband Keine Ahnung und ihrem Regenroman kennt.

Ausdruck von Lebensekel und trockener Humor sind so sehr ineinander verflochten, dass diesem schwierigen Thema sofort alle Schwere genommen ist. Keine Spur von Betroffenheitsprosa also, sondern ein Roman voller origineller Pointen, deren Charakter eine Szene nicht schlecht illustriert, in der Duve einen Psychologen zu Beginn einer Therapiesitzung erst in aller Ruhe einen Milchkaffee kochen und seine Oberlippe dann „wie die eines gierigen Shetlandponys” nach dem Tassenrand tasten lässt. Die auch im Weiteren recht komische Episode ist mehr als nur eine Psychologen-Parodie, denn sie korrespondiert mit einer klugen Bemerkung, die 100 Seiten vorher fällt und nebenbei den Vorzug hat, zur nächsten Novität überzuleiten: „Wie soll man einem Therapeuten erklären, dass es Verletzungen gibt, die man gar nicht geheilt haben möchte?”

„Seine knorrigen Witze werden mir fehlen, auch wenn sie mir immer auf die Nerven gegangen sind”, konstatiert eine mit ihrem sterbenden Vater konfrontierte Ärztin. „Ich verlasse das Zimmer, er winkt mir nicht, als ich mich noch einmal umdrehe, er zuckt im Schlaf, als würde er träumen, ich weiß nicht, ob das schon das Ende ist. Es war ein früher Schnee in der Nacht im Oktober, als Vater starb. Ich war nicht da, ich hatte Nachtdienst.” Nachtdienst heißt der erste Roman von Melitta Breznik, an dessen Ende sich diese ebenso schlicht wie eindringlich geschilderte Szene findet. Es ist nicht die einzige, in der es der Autorin gelingt, mit sparsamen Mitteln ein beeindruckend dichtes Stimmungsbild zu erzeugen. Auch in ihrer soeben erschienenen Erzählung Das Umstellformat behält sie einen unterkühlten, dokumentarischen Berichtstil bei. Sie handelt von ihrer schizophrenen Großmutter, der schon in ihrem Debüt ein kurzer Abschnitt gewidmet war, deren Weg durch die psychiatrischen Anstalten in der NS-Zeit zu recherchieren ihr jedoch erst 1998 gelungen ist. Was als Rekonstruktion einer Familiengeschichte beginnt, führt sie schließlich zu einer Konfrontation mit sich selbst und zu der Erfahrung, wie schmal der Grat zwischen der Sublimierung seelischer Verletzungen und einem vollständigen Wirklichkeitsverlust sein kann. Ergänzend zum Credo aus dem Roman Karen Duves muss man daher feststellen: Es gibt auch Verletzungen, gegen deren Heilung nichts einzuwenden ist.

Eine historische Rekonstruktion anderer Art unternimmt Zsuzsa Bánk in ihrem Roman Der Schwimmer, in dem sie sich an eine – ihre? – Kindheit in Ungarn erinnert. „Ob es uns wirklich so gegeben hat, wie ich es denke?” fragt die Erzählerin sich nach rund 200 Seiten, was angesichts der durchgängig in zarten Pastelltönen dargebotenen „Recherche du temps perdu” auch höchste Zeit war. Denn wir erfahren zwar von der Flucht der Mutter in den Westen, und dass sie 1956 stattgefunden hat, aber die aufregenden politischen Ereignisse dieses Jahres werden nur äußerst schemenhaft sichtbar. Das Ungarn der 50er Jahre, das Zsuzsa Bánk vorstellt, wirkt dadurch beinahe zeitlos. Ihr meist nostalgisch verklärender Blick erzeugt eine ähnliche Stimmung, wie ein mit viel Weichzeichner aufgenommener Film über die Puszta. Auf die Länge von 284 Buchseiten verlangt die Lektüre viel Muße, Geduld und Sitzfleisch.

Hansjörg Betschart geht erfrischend anders vor: Mit einer klug kalkulierten Mischung aus Fakten und Fiktionen entführt er mit seinem Roman Unruh ins Bern des 18. Jahrhunderts. Nicht einen Moment erscheint es als eine heile, dafür aber immer als eine spannende Welt. Im Mittelpunkt steht das Findelkind Laurent, das für alle, die sich seiner annehmen, zum Verhängnis wird. So auch für den berühmten Uhrmacher Pierre Jacquet-Droz, der die erstaunlichen Rechenkünste Laurents für sich und sein Geschäft nutzen will, aber stattdessen schon bald – wie manch anderer, der Ähnliches im Sinn hatte, vor ihm – das Zeitliche segnen muss. Laurent tritt nun nicht nur in die Fußstapfen von Jacquet-Droz, er wird zu einem visionären Konstrukteur, der vor allem ein Ziel vor Augen hat: Er will die Zeit beherrschen. Betschart erzählt diese Geschichte so kenntnis- wie einfallsreich und mit einer derart spürbaren Lust am Fabulieren, dass es ein Vergnügen ist, ihr bis ans Ende zu folgen.

Mit Hans Pleschinski, der zuletzt einen Band mit Briefen Madame de Pompadours ediert hat, kehren wir aus dem 18. Jahrhundert zurück in die Gegenwart, um von hier aus einen Blick auf das Leben eines Mannes zu werfen, den der Autor sich nicht scheut, als „einen der letzten Bohemiens” zu bezeichnen. Bei Pleschinskis Buch handelt es sich um eine Totenklage über seinen langjährigen schwulen Geliebten, der an Aids gestorben ist; es ist die Vergegenwärtigung der Lebensgeschichte eines Mannes, der zeitlebens die geistreiche Analyse einer Schubert-Sonate oder ein Gespräch über ein Gemälde von Cezanne mindestens so zu schätzen wusste wie ein stilvolles Menü oder einen knackigen Po. Daneben macht sich aber auch der Autor selbst ganz ungeniert zum Romanhelden und erzählt seine eigene Biographie, räsoniert über Literatur, Kunst und Musik, den deutschen und den internationalen Film von den 50er Jahren bis zur Gegenwart und skizziert zudem eine kleine Alltags- und Sittengeschichte der Bundesrepublik. Den Wandel der Namen von begehrten Zigarettenmarken registriert er jedenfalls nicht minder aufmerksam wie den von herrschenden Politikern und Stars der Unterhaltungsindustrie. Aus vielen Versatzstücken entsteht so allmählich ein Panorama der Nachkriegsgesellschaft mit eigenwilligen oder sagen wir: persönlichen Akzentsetzungen. Die entscheidende Zäsur bildet die Entdeckung der Krankheit, die „dem letzten Bohemien” zum Verhängnis wurde, der bei all seiner Bildung eben doch nur ein „irdischer Amor” war – mit dem Helden aus dem Roman von Hans-Ulrich Treichel jedoch auf keinen Fall verwechselt werden sollte.

Zum Weiterlesen:
Zsuzsa Bánk, Der Schwimmer. Roman. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2002. 285 Seiten, 18,90 €

Hansjörg Betschart, Unruh. Roman. Nagel & Kimche, Zürich 2002. 350 Seiten, 19,90 €

Melitta Breznik, Das Umstellformat. Erzählung. Luchterhand, München 2002. 142 Seiten, 15 €

Karen Duve, Dies ist kein Liebeslied. Roman. Eichborn, Frankfurt a.M. 2002. 259 Seiten, 19,90 €

Dagmar Leupold, Eden Plaza. Roman, und Edmond: Geschichte einer Sehnsucht. Roman. C. H. Beck, München 2002. 160 bzw. 172 Seiten, je 17,90 €

Hans Pleschinski, Bildnis eines Unsichtbaren. Roman. Hanser, München 2002. 271 Seiten, 19,90 €

Hans-Ulrich Treichel, Der irdische Amor. Roman. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2002. 256 Seiten, 19,90 €





Von:
Gunther Nickel, geboren 1961, ist Lektor des Deutschen Literaturfonds in Darmstadt und Mitglied im Beirat des Literaturblatts.


Zurück zur Übersicht der Hefte
Zurück zur Übersicht Hefte 2002