Ausgabe: September/Oktober 2002 


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Erinnerungen an Annemarie Schwarzenbach und Georges Perec

"Wir werden es schon zuwege bringen, das Leben"

Vor 60 Jahren starb die Schriftstellerin und Fotojournalistin Annemarie Schwarzenbach

Von Mut und Angst, von großen Spannungen und Widersprüchen geprägt seien Leben und Werk von Annemarie Schwarzenbach, heißt es sinngemäß in einem Aufsatz über die nomadisch Reisende, die 1942 durch einen Fahrradunfall am Silser See ihr Leben verlor. Dass die Schweizer Bahn nun anlässlich der Landesausstellung Expo.02 einen ihrer neuen IC-Neigezüge paradoxerweise nach der leidenschaftlichen Automobilistin benannte, passt irgendwie zu Schwarzenbach. Die unterhalb der Gepäckablage angebrachten Zitate aus ihren Romanen, Erzählungen, Briefen und Reportagen sollen laut SBB dem “Reisenden etwas zum Nachdenken auf den Weg” geben. Dabei verleiht ihr heute vor allem die ungewöhnliche Vita eine Aktualität und Resonanz, die ihr zu Lebzeiten versagt blieben. Über die lange Zeit fast vergessene Schriftstellerin gibt es mittlerweile Biographien, Theaterstücke, akademische Abhandlungen und den Dokumentarfilm Schweizerin und Rebellin, der deutlich macht, dass es lohnt, sie auch als Fotografin zu entdecken.

Annemarie Schwarzenbach kam am 23. Mai 1908 zur Welt. Ihre Familie – Textilindustrielle und Militärs – zählte zu den reichsten und mächtigsten der damaligen Schweiz. Das Landgut Bocken oberhalb des Zürichsees, wo sie eine privilegierte und behütete Kindheit erlebte, blieb ihr stets beides: ein gehasstes Bollwerk der Familientradition und paradiesisches Geborgenheitsland. Durch den pazifistischen Schriftsteller und Pfarrer Ernst Merz kam sie in das Umfeld der Wandervogel-Bewegung und entdeckte die Natur als Ort der Selbstbegegnung. Sie studierte in Zürich und Paris, verfasste ihren ersten Roman Freunde um Bernhard und erlangte bereits als 23-Jährige den Doktortitel. Die anschließende Übersiedlung nach Deutschland katapultierte die junge Autorin 1931 in die hektische Berliner Boheme und lesbische Szene der deutschen Hauptstadt. Sie schrieb viel, trank viel, begann Morphium zu nehmen und geriet in eine Abhängigkeit, von der sie sich trotz zahlreicher Klinikaufenthalte nie mehr befreien konnte.

Seit 1930 gehörte sie zum engeren Kreis um Erika und Klaus Mann, den Kindern von Thomas Mann. Zu der vitalen, drei Jahre älteren Erika Mann, die zeitlebens ihre große, unerfüllte Liebe blieb, entwickelte Annemarie Schwarzenbach eine kindhafte Abhängigkeit, während ihr Klaus Mann ein eher ebenbürtiger Vertrauter wurde. Mit ihm teilte sie nicht nur literarische Ambitionen, sondern auch die gemeinsame Erfahrung einer durch Homosexualität und Drogensucht beförderten Außenseiterrolle. Zum illustren Berliner Freundeskreis der Schweizerin gehörten die Journalistin Ruth Landshoff-Yorck, die Rennfahrerin Maud Thyssen und die Fotografin Marianne Breslauer, die – das zeigen ihre Porträts – fasziniert war von der Ausstrahlung dieses gleichsam androgynen Wesens, von der zerbrechlichen Schönheit, die Männer und Frauen in den Bann zog: Ganz im Stil der Zeit pflegte Annemarie Schwarzenbach den Garconne-Typus der Neuen Frau mit Krawatte, Zigarette und Luxuslimousine und beanspruchte damit Freiheiten und Domänen, die bislang den Männern vorbehalten waren.

Die Lyrische Novelle erschien 1933, während sie zusammen mit Marianne Breslauer zu einer Reportage nach Spanien unterwegs war. Aus der Arbeitserfahrung dieser Pyrenäenreise – Breslauer fotografierte, Schwarzenbach textete – rührte ihr Interesse, selbst zu fotografieren: Damals galt die Kamera unter künstlerisch tätigen jungen Menschen als das angemessenste Medium, um modernes Leben einzufangen. Zurück aus Spanien las sie in Zürich aus ihrem unveröffentlichen Roman Flucht nach oben. Darin griff Schwarzenbach das beliebte Genre des Hotel-Romans auf und reagierte auf die Kritik der politischen Unreife an ihrem vorigen Buch, indem sie den grassierenden Populismus ihrer Zeit thematisierte und ihre ureigenen Topoi wie Heimatlosigkeit, Wurzellosigkeit und ein Unbehaustsein bis zur Entfremdung variierte. An autobiographischem Hintergrund kamen die Vertreibung antifaschistischer Freunde aus Hitlerdeutschland, der Selbstmord eines Bekannten, die eigene Familie und “Hotel-Lebenserfahrung” zum Tragen.

Sie selber entfloh Europa und begann eine Reiseexistenz zu führen, die einerseits Fluchtcharakter hatte und andererseits als ästhetisches und lebenskünstlerisches Projekt angesehen werden kann. Jedenfalls begab sich Schwarzenbach, die sich als deutschschreibende Autorin dem literarischen deutschen Exil zugehörig fühlte, in eine Art von freiwilligem Exil. Im Herbst 1933 fuhr sie zum ersten Mal nach Persien. Wie bei allen späteren Orientreisen begannen damit Monate intensivster Introspektion, die ihre literarische Arbeit prägten. Gleichwohl schickte sie von unterwegs Fotoreportagen an Schweizer Illustrierte, in denen diese Reisen der Leserschaft als “Autoabenteuer” vermittelt wurden. Die Fotoberichte hießen Mein Ford und ich am Kyber-Pass oder Vorderasiatische Auto-Anekdoten und zeugten von Technikbeherrschung und Aufbruchsphantasien. Die Schwarzenbachsche Luxuslimousine diente des öfteren – etwa mit Kamelen kontrastiert – als Motiv der Konfrontation mit Natur, beziehungsweise mit fremder Kultur. Die Kunsthistorikerin Katharina Sykora erkennt deshalb auf den Fotos nicht einfach ein Auto, sondern das “bedeutungsgeladene Transportmittel eines modernen Lebensentwurfs”. Im Rahmen der fotografischen Narration benutzte die junge Fotografin das Auto als Körperersatz, dem – das suggeriert auch ihr Begleittext – die Strapazen der Reise zusetzen: Es hat Durst in der Wüste, es ist müde usw.

Sie selber erholte sich von den Anstrengungen in ihrem Ferienhaus in Sils Baseglia, das der produktiven Klausur wie geselligen Ferienaufenthalten mit Freunden diente. Infolge von Drogenabhängigkeit, gleichgeschlechtlichen Beziehungen und politischen Differenzen hatte sich die engagierte Antifaschistin ihrem pronazistischen Elternhaus immer mehr entfremdet. Nach einem entsprechend kurzen Heimataufenthalt, der in einem Selbstmordversuch gipfelte, flüchtete sie im April 1935 wieder nach Persien. Diesmal, um in Teheran überraschend den französischen Diplomaten Claude Clarac zu heiraten. Ein Schritt, von dem sie sich vergeblich familiäre Akzeptanz erhoffte. In jenem Sommer wurden die Claracs zu einem Ferienaufenthalt der europäischen Diplomatenkolonie in ein Zeltlager im 2500 Meter hoch gelegenen Lahrtal eingeladen. Von dort stammen Aufzeichnungen von überwältigender Naturerfahrung und krisenhafter Selbstbefragung, die zur Grundlage eines ihrer zentralen literarischen Werke werden sollten, dem Roman Das glückliche Tal. Der tagebuchartige, poetische Text zelebriert das Alleinsein in der Welt als großes romantisches Thema, in dem die Suche nach der eigenen Identität mit dem Erlebnis der Fremde einhergehen. “Wir nennen dieses Tal manchmal: Ende der Welt, weil es hoch über den Hochflächen der Welt ist und nicht mehr höher führen kann außer ins Überirdische, Unmenschliche, das den Himmel berührt…”. Landschaft und Himmelsraum erscheinen in den Texten von Schwarzenbach oftmals als mystische Erfahrung, als Spiegelbild inneren Erlebens. In ihrer Fotografie sind es ebenfalls die Landschaften, die zur Projektionsfläche, zum Sehnsuchtsraum werden, der stets auch Anlass für neue Reisen hervorbringt. Bei manchen Aufnahmen verzichtete Schwarzenbach auf jegliche Randmarkierung oder Größenorientierungen. Sie erzeugte dadurch eine endlos und tiefenlos erscheinende Flächigkeit, die in ihrer Entgrenzung vielleicht am ehesten das Innenleben der Fotografin mit der quasi “leeren” Landschaft zu Sinnbildern der Einsamkeit und Verlorenheit verknüpften.

Litaratur- und fotohistorisch anders gelagert als die Unternehmungen in den Nahen und Fernen Osten waren die beiden USA-Reisen von 1937 / 38, wobei sich Amerika als ein nicht weniger exotisch-fremdes Territorium erwies. Die Konfrontation mit der baumwollverarbeitenden Industrie der Südstaaten mit ihrem Rassismus, mit Kinderarbeit und einer unvorstellbaren Ausbeutung und Armut der schwarzen Bevölkerung, stellten für die Tochter eines weltweit agierenden Textilfabrikanten mit New Yorker Dependance eine eigentümliche Herausforderung dar: auch daher kam ihr Reichtum. Doch Annemarie Schwarzenbach packte die Kamera aus, wo ihre Familie wegsah. Amerika befand sich seit dem Börsenkrach von 1929 in einer schweren wirtschaftlichen Depression. Mit dem Hilfsprogramm “New Deal” hoffte die Regierung die Talfahrt zu stoppen und zugleich, gegen den Widerstand konservativer Wirtschaftsverbände, Grundlagen für einen sozialen Kapitalismus zu schaffen. Das führte zu harten Arbeitskämpfen. Die Schweizerin informierte sich im Archiv der “Farm Security Administration”, die in staatlichem Auftrag eine fotografische Studie über Armut in den ländlichen Gebieten der USA erstellte. Zielsetzung und Qualität der heute weltberühmten FSA-Fotografie faszinierten und beeinflussten die Fotoreporterin nachhaltig. Ihre Bilder bestechen durch die souveräne Handhabung der Kamera als ein Medium der Inklusion und Exklusion. Die Konfrontation mit Rassendiskriminierung und den von Companies abhängigen Arbeitssklaven veränderte auch ihren journalistischen Stil. Die kontemplative Bearbeitung eines Themas wich notgedrungen einem analytisch-nüchternen Zugriff, den die promovierte Historikerin zusammen mit ihren Fotos denn auch explizit als ihren politischen Beitrag verstanden wissen wollte.

Den Sommer 1937 verbrachte sie im Engadin, wo sich in ihrem Chalet unter Vorahnung von Krieg letztmals ihr Ehemann Claude Clarac, die Geschwister Mann, Therese Giehse und einige amerikanische Freunde versammelten. Der Abschied von Sils fiel immer schwer: “Manchmal war es ein Fest des Aufbruchs… Manchmal war es auch ein Angsttraum. Ich wollte auf der Passhöhe kurz vor der Grenze noch umkehren, und es schien mir dann, der Blick in das gelobte Land könne nur der Blick zurück sein, in die von der Abendsonne verklärten Täler, und ich hätte alles darum gegeben, hätte ich noch einmal durch eine mit runden Steinen gepflasterte Dorfgasse gehen dürfen.” Im Februar 1938 kehrte sie aus den USA wieder zurück in ihr geliebtes Sils – erneut morphiumsüchtig. Es folgten mehrere Entzugsversuche in Schweizer Sanatorien, bevor sie sich im Juni 1939 zusammen mit der Ethnologin Ella Maillart mit dem Auto nach Afghanistan aufmachte. Diese letzte und spektakulärste Asienreise endete für Annemarie Schwarzenbach einsam und krank in Kabul.
Danach lebte sie eine Zeit lang in den USA, wo sich Carson McCullers, der Shooting Star der amerikanischen Literaturszene, in sie verliebte. Beziehungsprobleme, Drogen, der Tod des Vaters und ein Suizidversuch führten im Dezember 1940 in New York zu Annemarie Schwarzenbachs Zwangspsychiatrisierung: Entwürdigung, Entmündigung, im Dunkeln gefesselt, Panik, Gewalt. Die Erfahrung von totalem Ausgeliefertsein war irreparabel, sie nannte es später das “absolute, schwarze Empfinden”. Ihr Bruder erreichte nach zwei Monaten die Entlassung mit dem Versprechen, dass sie sofort das Land verlasse.

Ihre letzte große Reise führte sie nach Afrika, in die Kongo-Kolonien, wo jedoch die von ihr erhoffte Mitarbeit beim Radiosender Brazzaville, einem Medienstützpunkt von France Libre, abgelehnt wurde. Annemarie Schwarzenbach reiste trotz kriegsbedingter Erschwernisse weiter, schrieb, fotografierte, reiste weiter bis in den Tschad und kehrte auf abenteuerlichen Wegen nach Sils zurück, wo sie unverzüglich Das Wunder des Baumes umzuarbeiten begann. Mit diesem in Afrika entstandenen Text, der ihre Lebens-Odyssee bis hin zu der zerstörenden Psychiatrieerfahrung reflektierte, war sie wieder bei sich selbst angekommen. Anders als ihre journalistischen und fotografischen Arbeiten, die den Zustand der Welt diagnostizierten, war ihr das Schreiben stets ein Ort der Selbstbegegnung und ein “Territorium des Trostes” geblieben. Stets tröstlich muss ihr wohl auch die Wahlheimat Sils, hoch oben in “reinster Helle” in den Bergen des Engadin gewesen sein, wo sie am 15. November 1942 nach mehrwöchiger Agonie an den Folgen eines Fahrradunfalls im Alter von 34 Jahren verstarb.

“Eine lehnt sich auf und stirbt daran”, heißt bezeichnenderweise Niklaus Meienbergs Kapitel über Annemarie Schwarzenbach in seiner Clangeschichte über die Familie Schwarzenbach-Wille, mit der er 1987 einen wichtigen Beitrag zu ihrer Wiederentdeckung als Schriftstellerin und sozialkritische Reporterin leistete. Ein schwieriges Unterfangen, denn entgegen ihrem testamentarischen Willen, hatte die Mutter Renée Schwarzenbach noch am Todestag begonnen, Tagebücher und Briefe der Tochter zu verbrennen, um “das Aufrühren jedweden Unerfreulichen und jeden Schmutzes” zu verhindern. Die gedruckten Texte entzogen sich glücklicherweise solcher Vernichtung, so dass heute Schlüsseltexte, etwa von ihrer Afghanistanreise, verfügbar und aktuell zu lesen sind. Vermutlich ist Annemarie Schwarzenbachs schriftstellerischer und biographischer “Versuch, den Individualismus zu retten, und in Zeiten kollektiver Unterordnung eigene Wege zu gehen”, in unserem Konsum- und Medienzeitalter in den Kurzzitaten der Schweizer Bahn bestens aufgehoben. Wer sich durch die Schönheit und Präzision ihrer Sprache angeregt fühlt, beginnt eine Entdeckungsreise, die weit über den geplanten Zielbahnhof hinausführt.

Zum Weiterlesen:

Freunde um Bernhard. Roman
Lyrische Novelle
Auf der Schattenseite. Ausgewählte Reportagen, Feuilletons und Fotografien 1933-1942
Jenseits von New York. Ausgewählte Reportagen, Feuilletons und Fotografien aus den USA 1936-1938
Alle Wege sind offen. Die Reise nach Afghanistan 1939 / 1940
Bei diesem Regen. Erzählungen
Flucht nach oben. Roman
Tod in Persien
Winter in Vorderasien. Tagebuch einer Reise
(alle im Lenos Verlag, Basel. Von 9,95 bis 20,50 Euro)

Das glückliche Tal. Huber Verlag, Frauenfeld. 23,90 Euro

“Wir werden es schon zuwege bringen, das Leben.” Annemarie Schwarzenbach an Erika und Klaus Mann. Briefe 1930–1942. Centaurus Verlag. 20,35 Euro



Von:
Irme Schaber, geboren 1956, lebt in Schorndorf. Wissenschaftliche und journalistische Publikationen zur Exilforschung mit Schwerpunkt Fotografinnen und Fotografen. 1994 erhielt sie den Kodak-Fotobuchpreis für ihre Biografie über die Fotoreporterin Gerta Taro. Zuletzt erschien “Die Kamera ist ein Instrument der Entdeckung…” über die Großstadtfotografie der fotografischen Emigration in Paris, London und New York im Jahrbuch für Exilforschung, Bd. 20.


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