Ausgabe: September/Oktober 2002 


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Zum Gedenken an Aglaja Veteranyi

„Hier schreibt eine Artistin auf dem hohen Seil, und ich schaue von unten zu, und mir stockt der Atem“, äußerte Peter Bichsel 1999 über den Debütroman von Aglaja Veteranyi, Warum das Kind in der Polenta kocht.

Uns allen, den LeserInnen und Freunden, hat der Atem gestockt, als wir von ihrem Selbstmord in der Nacht zum 3. Februar 2002 erfuhren. Aus dem liebevollsten Nachruf, den Zehra Çirak ihr gewidmet hat, hier einige Zeilen:

„Aglaja ein zarter goldener Faden, der sehr leicht zu zerreißen drohte, denn Aglaja litt, an diesem derben Stoff, der Leben heißt.
Aglajas Ängste waren leider größer als der Lichtstrahl, der ihr Wesen und ihr Talent leuchten ließ. Ihre Gefühlswelt hat das, was ihr „Angst“ machte, nicht mehr ausgehalten. Sie hat sich entschieden, ihren Ängsten ein Ende zu bereiten. Dabei hat sie ihr Leben aufgegeben.

Aglaja ein besonderer Mensch, eine wunderbare Autorin.
Eine Aglaja, herrliches und düsteres Sein als Mensch.
Aglaja nun ein großer Verlust.“

1962 in Bukarest geboren, reiste Aglaja Veteranyi als Kind einer Zirkusfamilie durch Europa, Afrika und Südamerika, trat in Varietés auf und absolvierte eine Schauspiel-Ausbildung in Zürich. Dort lebte sie seit 1982 als freie Schauspielerin und Autorin, initieirte Theatergruppen und Schreibwerkstätten, veröffentlichte in Literaturzeitschriften, Zeitungen und Anthologien, gastierte erfolgreich im In- und Ausland mit Theater-Projekten und Lese-Performances, meist zusammen mit ihrem Lebenspartner Jens Nielsen. Seit 1988 erhielt sie zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreise der Robert Bosch Stiftung.

Zu Ehren von Aglaja Veteranyi findet am 16. September im Literaturhaus Stuttgart eine Gedenklesung mit den diesjährigen Chamisso-Preisträgern Fancesco Micielli und Catalin Dorian Florescu statt. Und am 19. und 20. September ist im Theaterhaus Stuttgart noch einmal die Bühnenfassung von „Warum das Kind in der Polenta kocht“ zu sehen.

Wir drucken einige Passagen aus ihrem Roman Das Regal der letzten Atemzüge, aus dem Nachlaß herausgeben und soeben erschienen (© 2002 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart München, 132 Seiten, 16,90 €).

2
Wir sind viel länger tot als lebendig, sagt die Tante, Tote brauchen viel mehr Glück.
Von den Städten kenne ich den Zirkusplatz, den Gemüsemarkt und den Friedhof.
Die Gemüsemärkte gehören meiner Mutter, die Friedhöfe meiner Tante.
Die Erde wird nie satt, sie will immer essen.
Die Tante spricht von der Erde wie von einem Kind.
Ich begieße die Blumen der Gräber.
Das Wasser schreckt die Ameisen der frischen Toten auf. Sie huschen aus der Erde.
Hinter dem Grab eines frischen Toten pinkle ich nie.
Wenn du einen Toten besuchst, besuchst du alle Toten, sagt die Tante, die Seelen werden im Himmel eine einzige Seele.
Ich stelle mir den Himmel wie eine Garderobe vor. Darin haben die Engel ihre Requisiten. Und die Seelen ziehen sich als Menschen an, bevor sie geboren werden.

Bevor die Tante starb, machte sie Probereisen.
In meinem ersten Traum lag sie tot auf einem Tisch. In einem leeren Zimmer. Aber sie konnte nicht stillhalten, stand immer wieder auf und ging umher.
Ich öffnete das Fenster.
Du kannst jetzt gehen, sagte ich.
Was, sterben soll ich?

Im zweiten Traum hatte ihr Haar drei verschiedene Alter. Es war rötlich, blond und weiß. Mit jedem Schritt zur Tür schälte sie sich von den Jahren, das Zimmer wurde länger und die Tante jünger. In der Mitte wucherte ihr Haar in allen Farben. Es breitete sich wie Feuer aus.

Den dritten Traum täumte der Onkel.
Sie ist mir im Traume erschienen, sagte er, im Reisekleid und mit Koffer. Sie hielt den Hund im Arm und verabschiedete sich von mir.

Als die Tante starb, froren unsere Gesichter im Spiegel. Der Onkel deckte den Spiegel mit ihrer Jacke ab. Meine Mutter schluchzte ins Telefon: Ich bin böse mit Gott! Er hält nicht zu uns!
Dann hielt sie ihrer toten Schwester den Hörer hin. Aus dem Apparat drang ein rumänisches Klagelied. Neben der Tür schluchzte Costel. Mama Reta ist gegangen!

Er schlug sich auf den Kopf, ins Gesicht, auf die Lippen, schlug sich die Wörter in den Mund zurück. Ich öffnete das Fenster.
Frische Luft schadet der Leiche, sagte er.
Der Onkel griff der Tante zwischen die Beine und schnitt den Katheterschlauch durch. Er hing wie eine Nabelschnur.
Den Rest ließ er der Tante.

Wenn der Urin grün wird, dauert’s nicht mehr lange, hatte der Onkel gestern gesagt.
Er öffnete den Verschluß des Sacks und ließ die Flüssigkeit in eine Kanne abfließen. Das Zimmer war ihm klein geworden, es drückte ihm die Brust in den Bauch.
Der Tod stank. Die Krankenschwester rieb die Tante mit Lavendelgeist ein.
Solange die Nieren funktionieren, gibt’s noch Hoffnung, antwortete meine Mutter.
Nein, sagte der Onkel, alle Organe sind schon vergiftet.
Dann laß ihr die Adern aufschneiden, um das Gift rauszuspülen! schrie sie und zündete eine Kerze an.
Zünden Sie hier keine Kerzen an, sagte der Arzt, sonst fliegt alles in die Luft.
Dann fliegen wir, antwortete meine Mutter.
Sie bekreuzigte sich, faltete die Hände und warf lange Blicke zur Decke.
Hilf mir! rief sie plötzlich. Hilf mir!
Gott ließ auf sich warten.
Sie ballte die Faust.
Sonst geh zum Teufel!


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