Pfiff und Pfeiffer

Eine kleine „Lockerung” zum Thema „Walter Serner und das Krimigenre”

Von Heinrich Steinfest

Am 26. Juli 1912 reicht ein 23-jähriger Böhme an der juridischen Fakultät Greifswald eine Inaugural-Dissertation ein, deren Titel eine ideale Ouvertüre zu seiner Bibliographie bildet. Und auch nicht schlecht zu seiner Biographie passt. Der hochtrabende, das Konkret-Absurde wie eines dieser Gigerschen Aliens in sich tragende Thema lautet: Die Haftung des Schenkers wegen Mängel im Rechte und wegen Mängel der verschenkten Sache.

Der junge Mann, der mit dieser Arbeit die verschlungenen Welten des Bürgerlichen Gesetzbuches durchforstet und dabei deutlich macht, dass zwar der Nehmende einem geschenkten Gaul nicht ins Maul zu sehen braucht, aber sehr wohl der Gebende, dieser Mann ist seit fast genau drei Jahren Katholik. Zuvor war er Jude und hieß Walter Seligmann. Als Katholik will er es kürzer und kompakter, schärfer und schneidender: Er lässt seinen Familiennamen auf Serner ändern. Unter diesem Namen wird er in die Literaturgeschichte eingehen, als Dadaist, als Dandy, als vermeintlicher Hochstapler und nicht zuletzt als Krimiautor und damit als ein Schreibender, der lange vor der offiziösen und ein wenig halbherzigen Literarisierung des Krimis diesen auf höchstes Niveau hebt, ohne die spezielle Leichtigkeit und Keckheit aufzugeben, welche dem Genre eigen ist und ohne die es ja vollkommen sinnlos wäre, eine Kriminalgeschichte überhaupt zu verfassen. Ob es dem Katholizismus zu verdanken ist, dass Serner zum Schriftsteller wurde, ist schwer zu sagen, gerettet hat ihn der Katholizismus jedenfalls nicht. Es liegt eine perfide Ironie darin, dass jener Transport, mit dem der ehemalige Dadaist und Autor des Manifests Letzte Lockerung im August 1942 nach Theresienstadt deportiert wird, die Kennzeichnung „Ba” trägt, während jene weitergehende Überführung, mit der man Serner in den Tod expediert, den Namen „Bb” trägt. Wo dieser Tod genau liegt, bleibt unbekannt. Ba und Bb. Es klingt, als wäre die Vernichtungsmaschinerie der Nazis in jene dadaistische Zersplitterung der Sprache übergegangen, die ihnen so sehr verhasst gewesen war und dennoch so sehr den unbewussten Grundton ihrer ins Theaterhaft-Hysterische gesteigerten Ansprachen bestimmt hatte.

17 Jahre, bevor Serner und seine Frau Dorothée Herz – begleitet von der sanktionierenden Leere einer bürokratischen Stammelei – ermordet werden, erscheint im Berliner Elena Gottschalk Verlag – in der Reihe der „tollen Bücher” – eine Sammlung von Kriminalgeschichten dieses „Zauberers der Sparsamkeit” (Hans Richter). Im Titel des Bandes wird die Rasanz, das Vage und Flüchtige, eine gewisse Körperlosigkeit der Existenz sowie die für das Urbane typische Codierung auf wunderbare Weise verdichtet: Der Pfiff um die Ecke. Man hört ihn geradezu, diesen Pfiff, wie er die Kante einer Hausfassade rasiert, sich ausdehnt, strömt, sich ähnlich einem Duft verbreitet, ohne dass man des Trägers dieses Duftes ansichtig wird.
Betrachtet man die Fotografien, auf denen der Doktor Serner zu sehen ist, so meint man bei aller kantigen Materialität der Gesichtszüge wie auch der Kleidung jemand zu betrachten, der nicht wirklich vorhanden ist, der ein Potemkin’sches Dorf seiner selbst darstellt, gestützt auf einen Spazierstock, als handle es sich um ein drittes Bein, stabiler als die beiden anderen. Es ist ein märchenhaft-freundlicher Gedanke, sich hirngespinstig vorzustellen, dass der scheinbar unstete, zwischen den Metropolen wie zwischen Blütenkelchen umherwandernde Schriftsteller niemals wirklich aus seiner böhmischen Heimat herausgekommen sein könnte, maximal noch bis ins ebenfalls als „heimatlich” zu bezeichnende Wien gelangt war, um von da an eine Art „Puppe” auf die Reise zu schicken, einen anarchistischen Maschinenmenschen, der dem richtigen Serner Bericht erstattete von den Städten des Kontinents.

Der Pfiff beherbergt 22 Kurzgeschichten, eine literarische Form, die Serner nicht bloß auch absolviert hat, sondern welche als die einzig sinnvolle erscheint. Walter Serner glaubt nicht an Dichtung, hält sie für einen, wenn auch höheren Schwindel. Er glaubt nicht an die Möglichkeit, einen Menschen in seiner Gesamtheit wahrhaftig darstellen zu können, wie das zwangsläufig der 500-bis-1000-Seiten-Romancier sich einbildet. Serner hingegen lässt seine Figuren förmlich aufblitzen, bedient sich weniger Stunden, Tage oder Wochen, bedient sich weniger Augenblicke, in denen seine Helden eine Form & Festigkeit erhalten, die über diese Augenblicke nicht hinausweisen. Man lernt sie kennen, um sie auch wieder zu vergessen.

Serner spielt in keinem Moment mit der Ewigkeit. Seine Gestalten sind keine Männer und Frauen ohne Eigenschaften, die in dieser Eigenschaftslosigkeit imstande wären, ein ganzes Jahrhundert in ihrem Bann zu halten. Oder eine ganze Welt zu tragen. Sie sind verwickelt in die eigene kleine Geschichte. Für einen Moment tauchen sie auf, werden literarisch „lebendig”, um auch bald wieder zu verschwinden. Wie etwa jener Mann namens Semmelhug, der in der ersten Erzählung des Pfiffs (betitelt „Das Zéro”) in Stuttgart landet und die Rosenbergstraße „verdrießlich vor sich hin pfeifend” entlangspaziert und dabei auf den Hoppenlau-Friedhof gerät. Zu der Zeit, als Serner sich dort aufgehalten haben muss, wohl Anfang der 20er Jahre, stellte dieser Totenacker eine üppig überwucherte Grabanlage dar, durch die man sich auf „engen sauberen Pfaden” bewegte, während diese Fläche heutzutage den Reiz einer gestutzten Historie besitzt und ein wenig an die wackelige Kulisse eines Ed-Wood-Films erinnert.

Dass Semmelhug die Aufschrift auf einem der Grabsteine später nutzen wird, um sich aus seiner finanziell misslichen Situation zu retten (während er beinahe mittellos ausgerechnet im Wilhelmsbau diniert), ist ein schönes Beispiel für die Art, mit der Serner mit einem Mal seine Geschichte in Schwung bringt, in etwa wie man ein Pendel anstößt, aber eben nur ein einziges Mal anstößt, so dass nach wenigen Seiten wieder der alte Zustand der Erstarrung erreicht ist, welche freilich nichts daran ändert, dass Semmelhug ein Verfolgter ist. Er versteinert gewissermaßen im Zustand der Flucht. – Serners Geschichten erinnern an Automaten, in die man eine Münze wirft, so dass sich für kurze Zeit ein Gegenstand in Bewegung setzt, eine Eisenbahn, eine tönende Schallplatte oder eine Flipperkugel, die trotz aller Bemühungen ja doch wieder entwischt.

Dies gilt im Grunde auch für Serner selbst, der bei aller dandyhaften Selbststilisierung sich wohl eher durch das Leben „wurstelte”, derart, dass bis heute unklar ist, auf welche Weise er seine Reisen und Unterkünfte finanzierte. Ein Umstand, der den Hintergrund für zahlreiche Spekulationen lieferte und für Mystifizierung und die daraus folgende Entmystifizierung gesorgt hat (wobei manchmal schwer das eine vom anderen zu unterscheiden ist). Serner selbst hat, vergleichbar dem Anlegen von Schimmelkulturen, eine Menge Gerüchte zu seiner Person in die Welt gesetzt (beziehungsweise in die Welt setzen lassen, vor allem durch seinen Verleger Paul Steegemann). Man kann sich vorstellen, dass Walter Serner recht zufrieden wäre ob der tatsächlichen oder mutmaßlichen Fehler und Irrtümer, welche die Germanistik seiner Person angedeihen ließ und lässt.

Übrigens: Man braucht – in Abwandlung eines Werbespruchs – Krimis nicht zu mögen, um Serner zu lieben. Das, was seine Geschichten neben aller Spannung, Ironie und kenntnisreichen Milieuschilderung auszeichnet, ist ihre elegante, zeitweise geradezu tänzerische Sprache: die Fabrikation so überraschender wie treffender Bilder und Metaphern, wenn etwa eine soeben düpierte Spitzelin der Polizei als „vollends unterkellert” beschrieben wird, während noch zuvor der Held dieser Geschichte bemüht gewesen war, mittels einer „schlüpfrigen Widmung” selbiger Dame „einen unbestimmten Stich ins Bedeutsame” zu verleihen. In einer anderen Erzählung kommentiert jemand den Umstand einer Entbindung auf hoher See als „schwankende Geburt”, wobei Serner die Witzelei dieses Mannes als „Naturnotwendigkeit” definiert.

Man spürt an Serners Texten ihre vielfache Überarbeitung, das Ringen um aparte Formulierungen, die Tüfteleien, die hinter den Konstruktionen stehen, die Lust an erlesenen Wörtern. Man könnte eingedenk der von ihm beschriebenen Gentleman-Verbrecher sagen, er sei ein Gentleman-Schriftsteller gewesen, dessen Umgang mit der Sprache auf die allervornehmste Art erfolgte, ganz gleich in welchen Niederungen er eine Geschichte ansiedelte. Ein Autor, der sich sprachlich zu benehmen wusste, in jenem revolutionären Sinn, den echtes gutes Benehmen stets darstellt.

Und noch etwas: Man sollte Serners Texte stets zweimal lesen, einmal um auch kleinere, eventuell übersehene Juwelen der Wortfindung und Ironie zu entdecken, und zweitens, da viele der Geschichten – bei aller Geschmeidigkeit des Stils – durchaus kompliziert gestrickt sind. Warum auch sollten Kriminalgeschichten „leicht” zu lesen sein? Als müsse es sich dabei um Nahrung für Diabetiker oder Haushaltshilfen für Faule handeln. Der Krimi als ein magen- und hirnfreundlicher Happen für späte Stunden oder Urlaube am glühend heißen Strand, genau dann, wenn die Aufnahmefähigkeit am geringsten ist, stellt ein idiotisches Missverständnis dar. Dass es viele „leichte” Krimis gibt, mag ja stimmen, es gibt aber auch viele leichte Menschen und leichte Tiere und leichte Stühle, weshalb dennoch niemand auf die Idee käme, Menschen, Tiere und Stühle per se als leicht zu klassifizieren.

Dass Walter Serner nach 1927 schriftstellerisch verstummte und sich aus der Welt der Kunst zurückzog, mag viele Gründe, auch durchaus profane haben, aber ich kann mir nicht helfen, ich denke, dass selbst diese Zäsur in irgendeiner Weise den guten Sitten und der noblen Gesinnung des Autors entsprach: sich beizeiten zurückziehen, obgleich er nicht aufhörte, durch Europa zu reisen, aber eben als einer, der sich nun wirklich zurückgenommen hatte.
Für Walter Serner und sein Werk kann man ganz grundsätzlich jene 1928 im Berliner Querschnitt erschienene Beurteilung der Werkausgabe in Anspruch nehmen: „Ausstattung und Einband der sieben Bände geschmackvoll“.

Zum Weiterlesen:

Walter Serner, Das erzählerische Werk in drei Bänden: Zum blauen Affen; Der elfte Finger; Die Tigerin; Der Pfiff um die Ecke; Die tückische Straße. BTB bei Goldmann, München 2000. 450 Seiten, 22,50 €

Ders., Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte. Residenz Verlag, Salzburg 1998. 158 Seiten, 20,20 €
Dass. als Hörbuch, gelesen von Sona MacDonald. Kein & Aber, Zürich 2001. 29,50 €

Dr. Walter Serner 1889–1942. Ausstellungsbuch. Literaturhaus Berlin 1989. 88 Seiten, zahlreiche Abb. 10 €



Von:
Heinrich Steinfest, 1961 geboren, in Wien aufgewachsen, lebt als bildender Künstler und freier Autor in Stuttgart, wo sein Buch Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte spielt. Im Herbst erscheint sein neuer Kriminalroman Schwere Köpfe im Piper Verlag.