Ausgabe: November/Dezember 2003 


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Arbeit im schalltoten Raum

Zur Lage der übersetzenden Klasse

Von Burkhart Kroeber

Noch einmal dasselbe Ceterum censeo? Dass die Literaturübersetzer schlecht behandelt, miserabel honoriert, ja in der Regel überhaupt nicht wahrgenommen werden, obwohl ohne ihre Arbeit das halbe Verlagswesen und der ganze Literaturbetrieb zusammenbräche? Nein, das ist schon zu oft gesagt und geschrieben worden. Diesmal etwas anderes.

Wer hauptberuflich mit Sprache zu tun hat, also nicht nur sämtliche Angehörigen des sogenannten Literaturbetriebs – Autoren, Kritiker, Verlagsleute, Buchhändler –, sondern auch die große Zahl der Literaturlehrenden an Schulen und Hochschulen, sollte sich ab und zu bewusst machen, was für ein ungemein kompliziertes Gebilde die deutsche Sprache ist. Es genügt ein Blick in Erfahrungsberichte von Angehörigen anderer Sprachgemeinschaften, die Deutsch als Fremdsprache zu lernen versucht haben. Sehr eindrucksvoll hat sich bekanntlich Mark Twain über Die schreckliche deutsche Sprache geäußert: „Bestimmt gibt es keine andere Sprache, die so ungeordnet und unsystematisch, so schlüpfrig und unfassbar ist; man treibt völlig hilflos in ihr umher, hierhin und dahin; und wenn man schließlich glaubt, man hätte eine Regel erwischt, die festen Boden böte, auf dem man inmitten der allgemeinen Unruhe und Raserei ausruhen könne, blättert man um und liest: Der Schüler beachte sorgfältig folgende Ausnahmen” – und die sind dann zahlreicher als die Regelbeispiele. Es lohnt sich, den Aufsatz wiederzulesen, er ist nicht nur sehr vergnüglich, sondern zugleich ein lehrreicher „Blick von außen” – wenn auch nur die Fortsetzung eines alten Klischees von der Natürlichkeit der eigenen Sprache und der Unnatürlichkeit aller fremden.

Aber nicht nur lernwillige Ausländer kann die Komplexität der deutschen Sprache zur Verzweiflung treiben. Man lese einmal nach, was Jacob Grimm, der sich um die Erforschung und Pflege der deutschen Sprache weiß Gott verdient gemacht hat, 1847 vor der Berliner Akademie der Wissenschaften „über das pedantische in der deutschen sprache” vortrug. Nach zahlreichen hochinteressanten Beispielen über die Entwicklung der Sprache seit dem Alt- und Mittelhochdeutschen zieht er das Resümee: „Deutschland pflegt einen schwarm von puristen zu erzeugen, die sich gleich fliegen an den rand unsrer sprache setzen und mit dünnen fühlhörnern sie betasten.”

Warum ich das hier zitiere? Nun, genau mit dieser so komplizierten, pedantischen und von Puristen bewachten deutschen Sprache haben wir Literaturübersetzer es tagtäglich zu tun. Aber nicht nur so, wie alle anderen in ihr Schreibenden, indem wir uns mehr oder weniger lesbar, verständlich, elegant usw. in ihr auszudrücken versuchen, sondern indem wir ganz anders ausgedrückte und strukturierte Wortgebilde in sie zu übersetzen haben. Schreiben kann jeder lernen, solange es nur um die eigene Muttersprache geht, einschlägige Kurse werden überall angeboten. Aber schreibend aus dem Nichtdeutschen ins Deutsche zu übersetzen – also nach weitverbreiteter Meinung (siehe Mark Twain) aus dem Unkomplizierten, Natürlichen, Logischen, Rationalen ins Komplizierte, Unnatürliche, Unlogische, Irrationale, und zwar unter möglichst treuer Wahrung nicht nur des Was, sondern auch des Wie der wiederzugebenden Aussage, ohne dabei den Geist der eigenen Sprache zu vergewaltigen – das können nur wenige hochtrainierte Spezialisten. Dazu muss man mindestens so lange trainiert haben wie Spitzensportler, oder ähnlich lange geübt wie Konzertpianisten; mit ein bisschen täglichem Jogging oder Herumklimpern ist es nicht getan (soll heißen: Fremdsprachenkenntnisse sind nur die selbstverständliche Voraussetzung, entscheidend ist die Virtuosität im Umgang mit den Möglichkeiten der eigenen Sprache). Und deshalb sind die wenigen, die sich um diese Kunst bemühen, auch eine ganz besondere Truppe, um nicht zu sagen Spezies, deren Angehörige sich meistens – sogar sprachübergreifend und weltweit – rasch erkennen, eben wie Musiker oder Theaterleute.

Anders als Musiker, Theaterleute oder Spitzensportler werden wir Übersetzer allerdings weder auf Podien noch auf Podesten beklatscht (geschweige denn angemessen honoriert). Im Gegenteil, wir werden im Dunkeln gelassen oder sogar dort hineingestoßen, weil der Markt es so will. Wir arbeiten gleichsam, wie Dieter E. Zimmer vor nun zehn Jahren in der ZEIT schrieb, in einem schalltoten Raum: null Resonanz, wohin man auch horcht (außer ab und zu eine Mäkelei, ein einzelnes aufgespießtes Wort, oder gar nur eine Missbilligung des deutschen Buchtitels, der bekanntlich – das wenigstens sollten Rezensenten wissen – vom Verlag gemacht wird). Der Grund ist zum einen das Fehlen von Maßstäben zur Beurteilung von Übersetzungen, das aus Ahnungs- und Hilflosigkeit resultiert (und sich je nach Temperament des Kritikers mal in Wurschtigkeit, mal in Arroganz und Besserwisserei ausdrückt). Zum anderen ist es aber auch, wie gesagt, der Markt: Der Markt will nicht, dass Mittler zwischen Autor und Leser sichtbar werden, er will dem Konsumenten möglichst hell und einsam strahlende Stars präsentieren. Im Musik- und Theaterbetrieb geht es nicht ohne Interpreten, also werden diese zu strahlenden Stars erhoben. Im Literaturbetrieb hat man die Interpreten ins Reich der Schatten, der stillen Zulieferer verbannt, ungeachtet ihres gesetzlich verbrieften Status als Urheber (an dem nicht zufällig immer wieder gerüttelt wird). Die Übersetzerei als reibungslos funktionierende Dienstleistung, die nur wahrgenommen wird, wenn etwas rumpelt: Das ist die Lage – Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Ob sie noch lange so bleiben kann, steht allerdings dahin. Es könnte passieren, dass die Verlage plötzlich keine kompetenten Übersetzer mehr finden, denn auch die haben, ob man’s glaubt oder nicht, ihren Stolz.

Kürzlich las man in einem der seltenen Feuilletonartikel, die sich mit diesem Thema befassen, es fehle den Literaturübersetzern an Selbstbewusstsein, sie unterwürfen sich wie getretene Hunde dem Diktat einer marktgängig glattgebügelten Sprache, und das Resultat sei ein „Deutsch mit Bügelfalten”. Ich halte das eher für eine optische Täuschung. Sicher gibt es ein solches Deutsch (in manchen Verlagsprogrammen besonders häufig), aber nicht so sehr, weil es den Übersetzern an Selbstbewusstsein fehlt, sondern weil sie als unsichtbar gehaltenes Häuflein keine Macht haben, nicht einmal über ihre eigenen Produkte. Oft genug werden diese von Verlagsleuten oder deren „freien” Zuarbeitern glattgebügelt, ganz in der Tradition der von Jacob Grimm kritisierten Pedanten. Dagegen wehren kann sich, zumal in der grassierenden Krise des Buchmarkts, nur, wer im Betrieb aus welchen Gründen auch immer als unersetzbar gilt. Aber Wehrlosigkeit heißt nicht mangelndes Selbstbewusstsein. Eher droht die Gefahr einer zunehmenden Verbitterung aus allzu lange frustriertem Selbstbewusstsein, gerade bei den Tüchtigsten, die sich nach anderen Tätigkeiten umsehen. Dadurch könnten manche Verlage ernste Probleme bekommen.

Was die Arbeit im schalltoten Raum betrifft, so werden wir sie – ich glaube, ich darf hier für viele Kolleginnen und Kollegen sprechen – unbeirrt fortsetzen, solange wir können und es Texte gibt, für die es sich lohnt. Das Horchen auf Resonanz und die Kritik der Kritik an unserer Arbeit werden wir ebenso unbeirrt fortsetzen – dank ständigen Trainings und kollegialen Austauschs in vielerlei Form, von monatlichen lokalen Treffen über Workshops und öffentliche Aktionen bis zu selbstorganisierten Fortbildungsseminaren, nicht zuletzt in Straelen, haben wir durchaus einige Maßstäbe dafür. Was die rechtlichen und finanziellen Aspekte unseres Verhältnisses zu den Verlagen angeht, werden sich diese auf die Dauer etwas Neues einfallen lassen müssen. Ein paar Ideen könnten wir ihnen auch selber liefern, sie müssten uns nur einmal Gehör schenken.


Von:
Burkhart Kroeber, geboren 1940, übersetzt seit dreißig Jahren literarische und andere Bücher vorwiegend aus dem Italienischen, namentlich die Werke von Umberto Eco und Italo Calvino. Außerdem hat er übertragen: Alessandro Manzoni, Die Brautleute; Charles Dickens, Das Geheimnis des Edwin Drood; John Steinbeck, Die Reise mit Charley: Auf der Suche nach Amerika. Daneben hat er sich mehrfach berufs- und kulturpolitisch engagiert: seit 2003 als Vorsitzender (Sprecher) der Deutschen Literaturkonferenz. 2001 wurde ihm von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der Johann-Heinrich-Voß-Preis für literarische Übersetzungen zugesprochen.
Dieser Artikel erschien zuerst im Januar 2003 im Zürcher Tages-Anzeiger.
Burkhart Kroeber wird am 14. Juli in Schwäbisch Hall den Eröffnungsvortrag zu den 4. Baden-Württembergischen Übersetzertagen halten: „Meine Begegnung mit Umberto Eco – Erfahrungen in zwanzig Jahren“.


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