Ausgabe: November/Dezember 2003 


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„Jeder hat einen Po ... dein Vater, deine Mutter und sogar die Königin“

Bilderbücher ohne Feigenblatt für Kinder

Von Elke Linda Buchholz

Was gibt es Interessanteres als den eigenen Körper? Für ein Kind, das auf die Welt kommt, ist alles Körpererfahrung: das Trinken und Getragenwerden, das Schlafen und Verdauen, die Erschöpfung und die Geborgenheit. Und bevor die Umwelt in Gestalt von Rasseln und Plüschtieren, von Geräuschen und Gerüchen überhaupt interessant wird, muss erst einmal der eigene Körper entdeckt werden. Zehen, an denen man lutschen kann. Hände, mit denen man greifen kann. Die Nase, in der man bohren kann. Von Anfang an gibt der Körper seinem Bewohner Rätsel auf. Und das wird auch so bleiben – ein Leben lang. Nur ändern sich die Fragen mit zunehmendem Alter.

Kleinkinderfragen sind harmlos. Tatsächlich? Sie können die Großen ganz schön ins Schwitzen bringen. Wer sich nicht rechtzeitig überlegt, wie er auf die essentiellen Fragen seines dreijährigen Sprösslings antwortet, der kann schon mal ins Stottern kommen, wenn die unstillbare Wissbegierde des unerschöpflichen Fragenstellers sich nicht nur auf die Natur der Bäume und Wolken, sondern plötzlich auf die eigene Herkunft oder das Rätsel der schwangeren Nachbarin richtet.

Eigentlich fangen die Schwierigkeiten ja schon mit dem ersten Spracherwerb an: Das ist dein Ohr, das ist dein Bauch, das ist dein ... ja, was denn nun? Penis oder Pullermann, Zizi, Schniedel oder Glied? Womöglich prägt solch eine Entscheidung das Kind fürs Leben! Und nun erst die Frage, wie das Schwesterchen in Mamas Bauch hinein- und wieder herausgekommen ist!

Wer sich nicht allein auf sein angeborenes pädagogisches Talent verlassen möchte, findet gedruckte Hilfe in Form von bunten Bildgeschichten, frechen Sprechblasen-Erzählungen oder sachlichen Texten. Das Angebot an Aufklärungs- und Körperbüchern für Kinder ist mittlerweile kaum noch überschaubar: Über 40 Titel für alle Altersstufen vom Kleinkind bis zur Pubertät sind lieferbar. Einen wahren Boom erleben seit einiger Zeit „allererste“ Aufklärungsbücher für Kindergarten- und Vorschulkinder. Heutzutage steht in der Bücherecke der Kindergartengruppe das „Körperbuch“ oft ganz selbstverständlich neben Tierlexikon und Märchenbuch. Ein deutlicher Beweis dafür, wie sehr sich der Umgang von Eltern und Erziehern mit dem einstigen Tabu-Thema entspannt hat.

Vor wenigen Jahrzehnten musste in der Grundschule noch eigens ein Elternabend anberaumt werden, wenn die „Sexualerziehung“ anstand, und es war keineswegs Konsens unter Müttern und Vätern, ob man Zweit- oder Drittklässler schon mit dem Geheimnis der menschlichen Zeugung konfrontieren dürfte. War das Plazet erteilt, dann konnten die Kinder im Sachkundeunterricht schematische Querschnittzeichnungen von Mann und Frau betrachten und merkwürdige Gebilde wie Eierstock und Gebärmutter, Hodensack und Samenleiter farbig ausmalen. Aufregender als solch staubtrockene Lektionen waren die „linken“ Kindertaschenkalender der 70er Jahre, die man zufällig bei einer Freundin in die Hand bekam. Im schönsten antiautoritären Stil hüpften da nackte Jungen und Mädchen auf Schwarzweißfotos herum und regten die Phantasie der vorpubertären Leser mächtig an. Ein flüchtig gelesener Artikel in der Bravo konnte Fragen aufwerfen, die jahrelang nicht zu beantworten waren.

Die Geschichten von Klapperstorch und Bienchen bekamen im Zuge der sexuellen Befreiung jener Zeit endgültig Konkurrenz von Aufklärungsbüchern, die kein Blatt mehr vor den Mund nahmen. Mit Witz und Unbefangenheit rückten die unvergesslichen knuddelrunden Figuren in Thaddäus Trolls Bilderbuch Wo komm ich eigentlich her? dem Thema zu Leibe: „Liebe machen ist wie Seil hüpfen. Man kann es nicht den ganzen Tag lang tun.“

Ebenfalls bis heute aufgelegt wird ein Klassiker der „modernen“ Kinderaufklärungsliteratur aus Schweden, dem man kaum anmerkt, dass er bereits vor 25 Jahren entstand: das comicartig aufgemachte Bilderbuch Peter, Ida und Minimum von Grethe Fagerström und Gunilla Hansson. Hierzulande mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet, ist es für Kinder ab 6 bis heute unübertroffen. Durch alle Höhen und Tiefen begleitet man die vierköpfige Familie Lindström in den Monaten, bis das dritte Geschwisterchen auf der Welt ist. Die Gefühle, Fragen und Aktivitäten der beiden Kinder Peter (5) und Ida (7) stehen im Mittelpunkt der Erzählepisoden, in denen alle Fragen über Mann und Frau, Liebe und Schwangerschaft zur Sprache kommen. Kinder (und Eltern) können sich in den Alltagssituationen gut wiedererkennen. Die sympathischen, wirklichkeitsnahen Bilder und die genauen, witzigen Dialoge liefern eine Fülle von Material für weitergehende Gespräche und Unternehmungen mit den Kindern. Da bleibt keine Frage ausgespart: „Wer hat eigentlich bestimmt, dass wir ein Geschwisterchen kriegen? Habe ich auch Eizellen in meinem Bauch? Wieviele Male habt ihr miteinander geschlafen? Macht das Baby auch mal Aa dadrinnen?“ Nach der Geburt hören die Fragen nicht auf: „Wie konnte es bloß durch das kleine Loch herauskommen?“ und „Warum schreit es so viel?“ In Bremen ist das Buch für den Unterricht der dritten Grundschulklasse zugelassen.

Das wohl frechste Buch zum Thema kommt ebenfalls aus Skandinavien. Schon der Titel redet nicht um den heißen Brei herum: Kinder machen geht so! Die Autorin Liller Møller lässt die erklärenden Erwachsenen ganz außen vor. Statt dessen kichert, tobt und feixt eine Kindergruppe über die bunten Buchseiten. „Stellt euch vor, ich habe meine Eltern beim Bumsen gesehen!“ platzt der kleine blaue Kerl mit dem Eierkopf auf der ersten Seite heraus, und die drei anderen Kinder wollen sich schier schlapplachen. Einer verkündet stolz: „Der Pimmel muss in die Muschi rein!“, was bei dem nächsten nur ratloses Staunen hervorruft: „Ähhhh? Was? Wozu denn das?“ Und: „Erwachsene machen wirklich die blödesten Sachen!“ Knapp 50 Seiten später sind alle Fragen zum Thema Liebe, Sex und Kinderkriegen im gemeinsamen Gespräch geklärt. Die cartoonartigen Zeichnungen bringen alles schwungvoll, pointiert und witzig auf den Punkt. Im Weggehen meint ein Mädchen: „Ich finde bumsen und das alles blöd. Werde ich bestimmt nicht machen!“ Ganz klar – das ist kein Schmuseweichbuch, in dem immer nur alle lächeln, sondern eine ziemlich abgebrühte Angelegenheit für Kinder im „fortgeschrittenen“ Lesealter.

So viel Offenherzigkeit ist aber eher die Ausnahme. Die beiden Titel Mein Körper und ich von A bis Zeh aus dem Betz-Verlag und Wie funktioniert der Körper von Coppenrath bringen das Kunststück fertig, alle Aspekte des menschlichen Körpers vom Knochenskelett über die Sinneswahrnehmung bis zur Verdauung kleinkindgerecht zu behandeln – und die heiklen Klippen elegant zu umschiffen: Die Badehose bleibt auf allen Bildern an. Wer also die entscheidenden Fragen lieber noch ein Weilchen aufschieben will, ist mit diesen niedlich illustrierten Bänden gut bedient. Vierjährige werden sich damit aber nicht mehr lange zufrieden geben.

Wieviel Naturalismus und Detailinformation für das Kind zu welchem Zeitpunkt richtig sind, bleibt eine schwierige Frage, bei der die Altersempfehlungen der Verlage nur grobe Hilfestellung geben können. Als Faustregel gilt: auf die Fragen des Kindes warten. Wer fragt, kann auch Antworten bekommen. Wieviel – das bleibt dann wieder dem (Scham-)Gefühl der Eltern überlassen. Fast alle Aufklärungsbilderbücher bemühen sich heutzutage um einen unverkrampften Tonfall und humorvolle, ansprechende Illustrationen. Dass Sexualität nicht nur mit Biologie zu tun hat, sondern auch mit Gefühlen, darf mittlerweile auch in Kinderbüchern gesagt werden.
Janosch gelingt das mit heißen Küssen zwischen dem Mäusemädchen Tütü und dem Maulwurf-Macker Diddi und Einblicken in das Familienleben einer kinderreichen Mäusesippe. Die eigentliche Aufklärung findet in seinem Buch Mutter sag, wer macht die Kinder? in der Waldschule für Mäusekinder statt: erste Stunde Rechnen, zweite Stunde Gesang, dann der klassische Dreischritt Pflanzenkunde (mit Bienchen und Co), Tierkunde (wie kommt das Ei ins Huhn), Menschenkunde. „Und genauso macht es euer Vater“, sagt Lehrer Schröder.

Oft soll eine Rahmenhandlung aus dem Kinderalltag den Einstieg ins Thema erleichtern. Der klassische Plot: Mama ist ein zweites Mal schwanger. In der Tat ist der Familienzuwachs „im richtigen Leben“ fast unvermeidlich der Anlass für drängende Fragen des Erstgeborenen. Oft heißt die Hauptfigur der Rahmenerzählung Conny, Leonie oder Clara – und die Jungs haben das Nachsehen. Da ist es schon besser, wenn gleich ein Geschwisterpärchen die Leser durchs Buch begleitet. Ob es sinnvoll ist, wenn die kindliche Identifikationsfigur in Sonja Härdins Wo kommst du her? nur zu Beginn auftaucht und das restliche Buch mit seinen recht naturalistischen Illustrationen überwiegend Bettszenen zeigt? Immerhin wird das Buch von Pro Familia empfohlen.

Sanderijn van der Doef und Marian Latour stellen dagegen in Vom Liebhaben und Kinderkriegen die Erfahrungswelt der Kinder in den Mittelpunkt: Was ist Freundschaft, was Liebe, wie sieht es im Tierreich aus, wem siehst du ähnlich, mit wem lebst du? Das gelungene, materialreiche Buch kommt ganz ohne erzählende Rahmenhandlung aus. Für Kinder im Alter von 4 bis 6 Jahren ist das bestimmt kein Problem: Über andere spannende Themen wie Ritter, Tiere oder Schifffahrt machen sie sich ja auch in Sachbüchern schlau. Der Clou des Ravensburger Buches Wir entdecken unseren Körper sind Doris Rübels intelligente Aufklapp-Bilder, hinter denen sich die Geheimnisse des menschlichen Körpers verbergen: Von hinten gesehen, gleichen sich Anna und Tibo bis auf die Haarfarbe – wer die beiden Nackedeis umklappt, sieht den berühmten kleinen Unterschied.

Aber leider geht es im Leben nicht immer so freundlich und kuschelig zu wie auf den Bildern von Doris Rübel oder Marian Latour. Auf dem Schoß der Oma ist es gemütlich und das Auskitzeln mit dem Freund macht einen Riesenspaß, aber Tantes dicker Schlabberkuss fühlt sich eklig an, und beim Rumtoben gibt es eine Grenze, wo der Spaß aufhört. Von dem Mann da will sich Clara erst recht nicht berühren lassen. Das Buch Mein Körper gehört mir! aus dem Loewe-Verlag ermutigt Kinder ab 5 Jahren zu einem klaren „Nein!“ in solchen Situationen. Es versucht, sie so gegen sexuelle Übergriffe stark zu machen – ohne dass das Thema direkt angesprochen wird. Denn widerspenstige Kinder werden erheblich seltener Opfer von Missbrauch. Man kann es gar nicht früh genug lernen, im entscheidenden Moment zu sagen: „Fass mich nicht an! Ich will es nicht!“


Thaddäus Troll / Peter Mayle / Arthur Robbins (Ill.), Wo komm’ ich eigentlich her? Hoffmann und Campe, Hamburg 1998. 48 Seiten, 14,95 Euro

Grethe Fagerström, Gunilla Hansson, Peter, Ida und Minimum. Ravensburger Verlag, 1992. 48 Seiten, broschiert 9,95 Euro, gebunden 12,95 Euro (ab 6)

Liller Møller, Kinder machen geht so! Altberliner Verlag Berlin 1992. 48 Seiten, 11,25 Euro (ab 6)

Zita Newcome, Mein Körper von A bis Zeh. Annette Betz, Wien / München 2001. 7,90 Euro (ab 2)

Michèle Longour / Lucie Durbiano / Guillaume Decoux (Ill.), Wie funktioniert der Körper? Coppenrath, Münster 2001. 32 Seiten, 11,95 Euro (ab 4)

Sonja Härdin / Dagmar Geisler (Ill.), Wo kommst du her? Loewe Verlag, Bindlach 1995 / 2002. 32 Seiten, 7,50 Euro (ab 5)

Mein Körper gehört mir! Schutz vor Missbrauch für Kinder. Hrsg. von Pro Familia, Dagmar Geisler (Ill.). Loewe Verlag, Bindlach 1994 / 2002. 32 Seiten, 7,50 Euro (ab 5)

Janosch, Mutter sag, wer macht die Kinder? Bassermann Niedernhausen, 2003. 48 Seiten, 5,95 Euro

Sylvia Schneider / Mathias Weber (Ill.), Mama, woher kommen die Babys? Annette Betz, Wien / München 2002. 28 Seiten, 9,90 Euro (ab 5)

Sanderijn van der Doef / Marian Latour (Ill.), Vom Liebhaben und Kinderkriegen. Mein erstes Aufklärungsbuch. Annette Betz, Wien / München 1998. 32 Seiten, 12,90 Euro (ab 4)

Doris Rübel, Wir entdecken unseren Körper und Woher die kleinen Kinder kommen. Ravensburger Verlag, 1998 bzw. 2001. Jeweils 16 Seiten, 12,95 Euro (ab 3 bzw. 4)


Von:
Elke Linda Buchholz, geboren 1966, studierte Kunstgeschichte und Literatur. Sie lebt als freie Autorin und Journalistin in Berlin, ist verheiratet und hat zwei Kinder, Leon (5) und Sonja (2).


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