Ausgabe: November/Dezember 2003 


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Überflieger

oder Vom Surfen im Grimmschen Wörterbuch

Von Irene Ferchl

… „übrigens kann man ihn nicht grade einen Ueberflieger nennen,“ schrieb Annette von Droste-Hülshoff über einen ihrer Neffen. Man stolpert, nicht über das mangelnde Talent des jungen Mannes, sondern über den Überflieger, den wir als modernen Typen kennen – und nicht in einem Brief aus dem Jahr 1843 vermuten. Woher kommt dieses Wort vor der Erfindung der Flugzeuge? Immerhin gab es Montgolfieren. Oder hat es vielleicht gar nichts mit der Luftfahrt zu tun? Das ist ein Fall fürs Grimmsche Wörterbuch, und siehe da: Die Droste-Zeitgenossen Arndt und Görres benutzen den „Überflieger“ bereits in unserem modernen Sinne leicht ironisch für einen besonders begabten Menschen.

Weiterhin erfährt man dort, in welchem Kontext bei Goethe und Schiller, Kant und Kleist, Jean Paul und Uhland das Wort „überfliegen“ vorkommt, und beim Überfliegen der nächsten Spalten oder vorherigen Seiten entdeckt man den Überfaller und das Überessen, die Überfrucht, überglücklich, übergraus; blättert, sucht, findet, liest sich fest: „surft im Grimm“ – wie Sarah Kirsch einmal formulierte. Nur muss man, anders als beim Internetsurfen, gelegentlich zum Bücherregal gehen, denn das Grimmsche Wörterbuch besteht aus 33 Bänden …

Sieben, acht Bände hatten Jacob und Wilhelm Grimm ursprünglich kalkuliert, um „alle Wörter mit ihren Bedeutungen, alle Redensarten und Sprüchwörter aus den Quellen zu belegen; die alphabetische Ordnung ist hier die angemessenste und bequemste.“ Und sie meinten es bei zwei Stunden täglicher Arbeit in vier Jahren zu schaffen, merkten aber bald, dass das Projekt ihre Lebenszeit überschreiten würde; als Jacob Grimm vier Jahre nach seinem Bruder Wilhelm 1863 über dem Stichwort „Frucht“ starb, war in einem Vierteljahrhundert gerade einmal ein Viertel des Alphabets bewältigt.
Die Idee zu dem Unternehmen kam von Verlegerseite: Salomon Hirzel, der mit seinem Schwager Karl Reimer die Weidmannsche Buchhandlung in Leipzig betrieb, hatte sich an die Amtsenthobenen mit dem Vorschlag gewandt, „die unfreiwillige musze auszufüllen und ein neues groszes wörterbuch der deutschen sprache abzufassen.“

Die Grimms zählten zu jenen couragierten Professoren, den „Göttinger Sieben“, die 1837 gegen den Verfassungsbruch des Königs von Hannover protestiert hatten und daraufhin ihrer Posten enthoben, teils sogar des Landes verwiesen worden waren.
Es kam zum Vertragsabschluss, und 14 Jahre später, im Mai 1852, war die erste Lieferung von „A – Allverein“ fertig; als Hirzel sich Anfang 1853 mit seinem eigenen Verlag selbstständig machte, nahm er neben theologischen, medizinischen und altertumswissenschaftlichen Werken auch das im Entstehen begriffene Wörterbuch mit. Dieses Jubiläum wird in diesem Jahr am Verlagssitz Stuttgart unter dem Motto „Hirzel schafft Wissen“ gefeiert.

Vollendet wurde das Wörterbuch unter Mithilfe von mehreren Generationen von Sprachwissenschaftlern erst 1961, im Jahr der deutschen Teilung. So heißt es in Anspielung auf Jacob Grimms Diktum „Was haben wir denn gemeinsames als unsere sprache und literatur“ im Vorwort zum 32. Band: „Sein Anliegen ist wieder unser Anliegen geworden; der Geist, in dem er das Werk begann, ist auch der Geist derer, denen das Geschick die Aufgabe zugewiesen hat, sein Werk zu beenden.“

Apropos Geist: Allein dem Buchstaben G sind wegen der trächtigen Worte „Genie“, „Geist“, „Gold“, „Gott“ und „gut“ viereinhalb Bände gewidmet, mit so beziehungsreichen Titeln wie „Gefoppe – Getreibs“ und „Glibber – Gräzist“ – was schon zeigt, wie viele komische und unbekannte Begriffe zu entdecken sind. Bereits Jacob Grimm bemerkte, dass Worte außer Gebrauch seien, die zu Lessings und Wielands Zeit noch galten, und sah deutlich: „Ihrer Natur nach können Bücher dieser Art erst gut werden bei zweiter Auflage“. Vor allem werden sie immer umfangreicher, denn mittlerweile werden auch Schriftsteller des 20. Jahrhunderts berücksichtigt.

In unvorstellbarer Kleinarbeit und zwei unabhängigen Vorgehensweisen, dem Zusammentragen von Belegstellen und der Abfassung von Artikeln zur Etymologie, wurden in 123 Jahren um die 350 000 Stichwörter gesammelt und auf insgesamt 66 000 Lexikonspalten erläutert – und dies alles auf Zetteln, ohne EDV! Aber seit Bismarck wenigstens mit öffentlichen Mitteln und trotz der deutschen Teilung in Kooperation der Arbeitsstellen in Göttingen und Ostberlin. Seit 1965 erfolgt eine Neubearbeitung, und fertig sind bereits die Lieferungen „A – Aufpfeifen und D – Feldprediger“: zu Einfluss und Belehrung eines jeden, wie Rainer Maria Rilke befand: „Denn eigentlich müsste man doch alles, was in die Sprache einmal eingetreten ist, kennen und zu brauchen wissen.“

Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Abgeschlossene Originalausgabe mit 33 Leinenbänden bei Hirzel zum Jubiläumspreis von 2990 Euro, die Taschenbuchausgabe bei dtv kostet 499 Euro. Informationen zur Neuausgabe und der Briefedition der Brüder Grimm unter www.hirzel.de.

Am 4. Juli findet im Literaturhaus Stuttgart ab 20 Uhr eine lange Grimm-Nacht mit Vortrag, Musik und Theater statt.


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