Das deutsche Pandämonium des Georg Klein

Georg Klein, Jahrgang 1953, stammt aus Bayerisch Schwaben. Und obwohl er die Gegend als Jüngling verließ, obwohl er heute teils in „unserer Hauptstadt”, teils unter den Friesen lebt, einem Stamm, der stur, heidnisch unfromm und spökenkiekerisch, seine Pastoren ins Kettenrauchen treibt, ist er seiner Heimatstadt auf innige Weise treu geblieben. Architekturfreunden wird nicht entgangen sein, dass er das wurmartige Gekrümm ihrer Gassen und ihr berühmtes doppeltürmiges Rathaus an den Rand seines ersten Romans gezeichnet, dem orientalischen Städte-Palimpsest Libidissi (1998) atmosphärisch eingeschrieben hat.

Georg Klein ist der Sandmann unter den Autoren der Gegenwart, ein Manierist, der den innig-gemütshaften Klang deutscher Märchen und den Kälteton eines Ernst Jünger in diabolisch schillernde Allianzen treibt und auch seine Schauplätze aus verstörenden Überblendungen gewinnt: Bunker und Butzenscheiben. In der Detektivgeschichte Barbar Rosa (2001), einer Schnitzeljagd, deren Grausamkeit durch die Unverwüstlichkeit der Protagonisten, ihren Comic-Charakter, gemildert ist, dominierte die Bunkerwelt, ein Berlin von Orwell’scher Düsternis. Was Wunder, dass nun, wo er sich ins Seelengeflecht der Deutschen begibt, auch der Genius loci der spitzgiebeligen Welten aufscheint, die der Inbegriff von „deutscher Heimat” sind. In einer von ihnen, der alten Reichsstadt Augsburg, wurde Georg Klein geboren, und es ist ein Signal an die gebildeten Heimat-Verächter, dass er nicht Bert Brecht, dem ungehorsamsten ihrer Söhne, ein Denkmal setzt, sondern einem arglosen Riesen des Gemüts, der Millionen Menschen auch heute noch als begnadeter Künstler gilt und dessen Lebenstragödie eine Spur ins deutsche Herz gepflügt hat:

„Ray stammt aus Bayerisch-Schwaben. Und obwohl er die Gegend als Jüngling verließ, obwohl er heute teils auf Sylt, teils auf Mallorca lebt, ist er seiner Heimatstadt auf innige Weise treu geblieben. Jeden dritten Advent treten wir im Goldenen Saal des Rathauses auf. Schon vormittags geben wir eine Familienvorstellung”…

Der Auftritt in der Heimat ist der süße Lohn für die alljährliche Plackerei einer Weihnachtstingeltour, die schon Mitte Oktober im Norden beginnt, vor einem „Publikum, das chronisch misstrauisch, auf eine gescheite Art stur und heidnisch unfromm ist”, wie man seinen ausgemergelten und kettenrauchenden Pastoren ansehen kann. So erzählt es einer aus Rays Combo, und man muss nicht einmal die Geschichte hinter der Geschichte kennen, um zu ahnen, dass die Auftritte des Schlagerstars vor Familien und Senioren, in Turn- und Allzweckhallen auf abschüssiger Bahn zu denken sind. Nicht von ungefähr heißt die geplante CD, die als Cover der verschneite Christkindlmarkt vor dem Rathaus zieren soll, „Heimat in schwieriger Zeit”.

Wer das für subtile Demontage hält, kennt Georg Klein nicht, der sich den blinden Mechanismen, man kann auch sagen: Ressentiments, des aufgeklärten Bewusstseins beharrlich verweigert. Ray Goetz alias Rainald Göttlicher alias Gerd Höllerich alias Roy Black, ein Augsburger Junge aus kleinen Verhältnissen, erscheint in der Perspektive des Erzählers, seines loyalen, dabei nicht unkritischen Combobegleiters, als unzynischer Dienstleister an einem Gefühlsbedarf, der, mit Dumpfheit, ja Verdrängung gleichgesetzt, inzwischen tatsächlich nur noch auf menschenverachtende Weise oder parodistisch bedient zu werden scheint. Die Geschichte vom „Guten Ray” verklärt nichts und niemanden, schon gar nicht stiftet sie einen der in Mode geratenen Retro-Kulte. Sie lässt lediglich einem Naiven die Würde und sieht davon ab, seine Volkstümlichkeit dem Bann moralischer Vorentscheidungen zu unterwerfen. Und das ist die Haltung, der wir in allen zwölf Erzählungen Von den Deutschen begegnen, mögen sie ansonsten auch noch so irrlichtern, ironisch gebrochen und verrätselt sein. Georg Klein unterläuft bewusst Reflexe, die nicht nur dem Erzähler der Eingangsgeschichte „Chicago / Baracken 11”, sondern uns allen zur zweiten Natur geworden sind: die des besseren Deutschen, der im Ausland lieber als Niederländer oder Schweizer gelten will und dem bereits der Anblick eines braun uniformierten UPS-Paketlieferanten Nazi-Assoziationen weckt. Das mag kühn, ja gefährlich erscheinen, und in der Tat: das ist es, kühn und gefährlich. Unbequem auf eine Weise, der wir uns noch nicht anbequemt haben. Unsere Routine der Selbstverleugnung empfindet arglos Deutsches als Affront, zumindest als Peinlichkeit. Sind wir uns also unserer zweiten Natur so wenig sicher, dass wir den Balanceakt eingestandener Affinitäten, einen duldsamen, verspielten, humorvollen Umgang mit unseren emotionalen Gemengelagen nicht wagen können und nur bei Spielen der Nationalelf deutsch sein wollen? Entstehen nicht so die Nistplätze für Verdrängung und Heuchelei?

Georg Klein nimmt uns die Antwort nicht ab, er richtet nur die Wechselbäder an, und jeder muss sehen, wie er zwischen süßem Sog und leisem Grausen, Anziehung und Abstoßung sich einpendelt. Jede seiner Erzählungen Von den Deutschen ist ein Licht- und Schattenspiel um Sekundärtugenden, Abgründe, Verschrobenheiten, historische Schnittstellen, Atmosphären, die für typisch deutsch gelten. Manchmal ist das kaum zu bemerken, von Ironien durchflackert wie in der „Spreenovelle”, wo ein geheimnisvoller Prol-Impresario namens Strohmann eine Versammlung von Pennern mit hartem Griff zum Theatertrüppchen formt, den „Historical Harmonists”. Aus wilden Kerlen werden unter diesem Kommandanten richtige Kerle, die ihre kleine Wagenburg in Sichtweite des Kanzleramtes zum Schmuckstück machen, schließlich das Wohlgefallen unseres jovialen Kanzlers und seiner Gattin finden, bei ihrer ersten Vorstellung, in der sie sich zum lebenden Bild formieren: „Der gute alte Kanzler” – gemeint ist Adenauer – „holt die letzten Männer heim!”

Was für ein Labyrinth der Stimmungswerte: Heimholung der Geschichte, Historienharmonie, der Anachronismus eines bürgerlich-vaterländischen Gesellschaftsspiels, wieder belebt von Deklassierten, die im Ernstfall die toten Landser am Sockel der Pyramide abgegeben hätten. Daneben die Vision eines Kanzleramts, das auch „mit geborstenen Stelen, auch als Ruine” noch „zu gefallen wissen wird”. Dann die Spree, die nun, im Jahre x nach 1989, ihr „Wendejahr” erlebt: „Geduldig blieb sie Kanal, bis sich ihr Kanalsein an sich selbst erschöpfte. Auf lässige Weise ist sie nun erneut Fluss geworden.” Schließlich die deutsche Dogge des guten Tyrannen Strohmann, ein offensichtlich lammfrommes Untier namens Eva-Maria, das von der zierlichen Kanzlergattin mit Blutigem gefüttert wird und im Schlussbild ihr Wasser in den Fluss abschlägt, also auf alles pisst. Oder nicht? So viel ist klar: Eine deutsche Apologie schreibt dieser hoffmanneske Vexierspieler nicht, das Erhabene reicht nie in den Himmel, ist immer gebrochen ins Komische oder Groteske und durchspukt von den Dämonen der finstersten aller deutschen Herrlichkeiten: Ätherwellen einer Bewusstseinsschicht, die in den Seelen so eingekapselt ist wie die „Schwarze Spinne” in Gotthelfs gleichnamiger Erzählung. Und doch: an diesem Himmel hängt eben auch romantisch ein Vollmond, Sommernachtszauber liegt über allem, ein treudeutsches Lüftlein umspielt und rührt uns an. Schlüsselreize, die ans Gemüt kratzen, überall schießen sie zusammen. Und der Erzähler, last not least, schwebt als Geist – Geist von wem oder von was? – über den Wassern.

Kleins Deutschland ist ein Palimpsest, in dem sich die Labyrinthe der Real-, Bewusstseins- und Mentalitätshistorie übereinander blenden. Tief unten ein schillernder Grund, auf dem - wie in der Geschichte „Old Erfurt” – die goldnen Schlänglein der Sagen wispern, vielleicht sind es auch die des Anselmus aus Hoffmanns Goldenem Topf.
Alle Zeitschichten sind immer zugleich vorhanden, der gleichförmig-gepflegte, subtil anachronistische Ton der Erzählerfiguren rückt Wirklichkeit und Phantasma in den immer gleichen, einen gewissermaßen ethnologischen Abstand, und man sieht die blitzenden Computer der jungen Global Player („Die Cherubim”) schon so bemoost und bepilzt und abgesunken wie das elektronengesteuerte „Zentrum für Informationserhalt und Neuvernetzung” („Altkayser”), das sich ein mitteldeutscher Geheimnisträger aus altem Ostmaterial und neuester Westware zusammengeschustert hat. Volkslieder und alte „deutsch lallende” Wörter schallen uns entgegen; ein Häuflein Deutscher, treu, gehorsam, anarchisch, versponnen, fleißig, kollektivistisch, keimfrei pervers, dämonisch-tyrannisch, patriotisch oder indifferent geht in diesem gläsernen Kyffhäuser seinen mal mehr, mal weniger rätselhaften Verrichtungen nach. Was uns anzieht, steckt in uns, was uns abstößt auch. Lesend können wir die Probe mit uns machen.

Zum Weiterlesen:

Von den Deutschen. Erzählungen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 192 Seiten, 16,90 Euro

Libidissi. Roman. Droemer Knaur Tb. 2001. 200 Seiten, 8,90 Euro

Anrufung des blinden Fisches. Erzählungen. Alexander Fest Verlag, Berlin 1999. 197 Seiten, 18,00 Euro

Barbar Rosa. Roman. Alexander Fest Verlag, Berlin 2001. 203 Seiten, 19,90 Euro (Droemer Knaur Tb. 2002. 8,90 Euro)



Von:
Andreas Nentwich, geboren 1959 in Herborn/Hessen, arbeitet als freier Publizist vor allem für DIE ZEIT und NZZ. 1999 wurde er mit dem Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. Er lebt in Stuttgart.