Ausgabe: November/Dezember 2003 


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„Ein Universum selber machen“

Die Buchkünstlerin Burgi Kühnemann

Buchmalerin, Buchzeichnerin, Buchbildnerin, Buchschreiberin, Buchsammlerin, Buchleserin

Von Irene Ferchl

„Und dann hatte ich die Schnauze voll von den fliegenden nackten Männern“, sagt Burgi Kühnemann in ihrer rheinischen Direktheit. Schade eigentlich, denn jahrelang stand irgendwo auf meinem Schreibtisch ein Blatt, Lesezeichen oder Ausstellungshinweis, jedenfalls ein schmales, postkartenhohes Büttenblatt mit einem kräftig konturierten Rückenakt, verlängert durch einen kobaltblauen Farbstreifen. „Burgi Kühnemann Malbücher – Unikate“ steht darunter und auf der Rückseite in derselben lesbaren Handschrift die Adresse der Tübinger Druck & Buch-Galerie und Buchhandlung, in der die Künstlerin 1988 eine beeindruckende Einzelausstellung zeigte. Nicht lange zuvor hatte sie Hartmut Honzera kennengelernt, den charismatischen – 1994 leider viel zu früh verstorbenen – Galeristen, der sie zu ihrer Form der Künstlerbücher anregte.

„Meine ersten Bücher sind Mal-Bücher. In alten Büchern, gefunden auf dem Flohmarkt oder in Antiquariaten, sammeln sich Zeichnungen und Ideen und Akte, zuerst zufällig wie in Skizzenbüchern, später werden daraus Serien, Abwandlungen zum Thema Akt, Bewegung, Raum. Mehr und mehr drängen sich Texte in die Bücher, kurze Gedichte, eigene Gedanken. Jetzt suche ich schon vorher gezielt nach Texten, die Bücher wollen gelesen werden. Das Über-Malen will ein Über-Schreiben. So entsteht eine Zusammensicht, ein Zusammenleben von Text und Bild. Allmählich verabschieden sich die Akte, sie bekommen Flügel und fliegen von dannen.“ So resümierte Burgi Kühnemann 1998 in einem kleinen Katalog zu einer Ausstellung mit Märchenbüchern, oder genauer Unikaten und Installationen; zum Beispiel übermalte sie Atlanten mit den Grimm’schen Märchen „Das Rätsel“ und „Die Goldkinder“ oder Wilhelm Hauffs „Der Affe als Mensch“, benutzte als Malgrund für „Das Märchen von den sieben Raben“ eine Kunstdruckmappe mit den Fresken Moritz von Schwinds zu eben diesem Märchen oder auch jungfräuliche Blindbände und selbstgemachte Leporellos, wodurch die Bücher zu aufstellbaren Objekten werden, sie stehen im Raum, sie sprengen die strenge Rechteckform, überall gucken Köpfe raus: „…und dann leben sie noch heute“, lautet der vieldeutige Titel dazu.

„Mit Büchern ist sie im Leben. Ohne Bücher mag sie auch jenseits davon nicht sein“, schrieb Stefan Soltek, der Leiter des Klingspor-Museums, über die vielleicht merkwürdigste Arbeit von Burgi Kühnemann, ihr „verBuchtes Jenseits“. Gezeigt wurde sie 1993 im Kreismuseum Zons, die Präsentation in einer italienischen barocken Bibliothek wurde abgelehnt – „Italien ist sehr schön, aber man darf sich nicht ins gesellschaftliche Leben begeben und keine Ausstellungen machen“, kommentiert die Künstlerin ironisch. Seit Ende der 80er Jahre lebt und arbeitet sie regelmäßig an ihrem zweiten Wohnort in Italien und seither beschäftigte sie sich mit dem Themenkomplex Grab – Tod – Liegen – Schweben – Raum; zunächst entstanden in Auseinandersetzung mit den extremen Bildwinkeln und Perspektiven der Renaissance, vor allem mit Mantegnas liegendem, von den Füßen her gesehenen, verkürzt gemalten „Toten Christus“ Serien von Zeichnungen; später entwarf sie, angeregt durch das frühbarocke „Teatro Anatomico“ der Universität in Bologna, wo „vor dem Seziertisch ein Apollo von der Decke herabschwebt“, ihre Grabkammer für Bücher. Der Sarg ist ein ausgebeinter Flipperkasten, darin mehrere Bücher: ein „Manuale di Prospettiva“, dessen Darstellungen sich auf antike Kunstwerke beziehen, ein übermaltes Fotoalbum mit Ansichten von Venedig, die freien Seiten beschrieben mit Texten aus Über die Kunst, den Gesprächen Paul Cézannes mit Joachim Gasquet, A very simple Story by Florence Montgomery, deren 168 bemalte, farbgetränkte Seiten mit 47 Darstellungen geflügelter, schwebender Figuren geschmückt sind. Über allem hängt ein bemaltes Papierobjekt, eine mehr stürzende als schwebende, kraftvoll-männliche Apollo-Figur, die eine metaphysische Note einbringt, während die Papierabformungen von Tütchen, so genannten „Certosa“, konkret von einem Friedhof in Ferrara stammen. Alles in allem erinnert diese Grabkammer auch an altägyptische Totenbuch-Beigaben, Zeichen des Glaubens an ein Weiterleben nach dem Tod.

Doch der Ernst kommt bei Burgi Kühnemann gewöhnlich mit einem Augenzwinkern daher. Wenn sie mit der in Italien gegründeten Künstlergruppe „apart“ in einem Stall bei Kassel eine Installation aus 25 Tafeln im Stroh macht und diese „Ich könnte mein Schäfchen eigentlich ins Trockene bringen“ nennt, oder einen Koffer mit ihren Hausgöttern zu einem „Reisemuseum“ ausbaut, das unter anderem Folgendes enthält: ein Tagebuch, italienische Postkarten, kleine Rahmen zum Auswechseln der Karten und zum Aufstellen, ein Eisenkästchen mit Geheimbibliothek, Malheftchen im Rahmen, ein Gebetbuch mit Versteck, ein kleines Zauberbuch im Bleischuber, der auch als Buchständer dient, ein Bleibuch mit sechs Spielkarten. Es sind jedes für sich kunstvoll gestaltete Exponate, in ihren Assoziationen und ihrer Kombination jedoch verspielt und voller Witz.

In dem Haus in Friolzheim, wo sie seit 2001 lebt, gibt es viele skurrile Sachen, neben der Sammlung alter Comics und Kinderbüchern der 30er bis 50er Jahre stolpert man über ein Gürteltier, erschrickt vor einem ausgestopften Hundekopf, lacht über groteske Gummifigürchen. Und sie lacht mit, erläutert ihre Arbeiten mit deutlicher Freude, kommentiert mit Adjektiven wie super und toll, hundsgemein und mopsfidel, verrät in allen ihren Äußerungen deutlich ein rheinländisch-fröhliches Temperament.

Burgi Kühnemann wurde 1935 in Mayen geboren, studierte an der Werkkunstschule Düsseldorf Metallbildnerei und Aktzeichen. Für einige Jahre musste die künstlerische Arbeit hinter der Familie zurückstehen, sie bekam vier Kinder, doch ab 1967 hatte sie ein eigenes Atelier, 1970 die erste Ausstellung in Aachen, wo sie lange lebte; zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland folgten.

Anfang der 80er Jahre arbeitete sie im Heilpädagogischen Heim in Düren und hatte, wie sie sagt, in den „Jecken“, den geistig behinderten Menschen „hemmungslose Modelle, die mit ihrer Direktheit die ganze Zeichenkunst über den Haufen warfen“ und „das ist der Knackpunkt: aus Porträts Köpfe“ werden ließen. In Italien bekamen ihre Köpfe Profil – schauen sie zurück oder nach vorne? – und mündeten in „Kopf-Ikonen“, auf handgeschöpftes Bütten über collagierte Buchseiten in ihren typischen Farben Preußischblau und Englischrot gemalt, mit Gold unterlegt oder umgeben, deshalb Ikonen.

Ihr jüngstes Projekt – im Herbst 2002 im Klingspor-Museum in Offenbach gezeigt und Ende diesen Jahres in der Tübinger Galerie Druck & Buch zu sehen – stellt die Frage nach Erinnerungen an das Leben in Deutschland im und nach dem Zweiten Weltkrieg: Sie macht ihre eigene Geschichte zum Leitfaden und pointiert Themen, die für allgemeine Erfahrungen stehen. Das Selbstverständnis der Deutschen hat sie in der ihr eigenen Arbeitsweise eruiert, um es schreibend und malend im Buch zu verdichten: „Deutsch gut?“

Mit dem Dürener Skizzenbuch entstand das erste, in der Form noch konventionelle Buch, wenig später das erste Künstlerbuch und seither ein Œuvre von über 200 Unikatbüchern, die Burgi Kühnemanns Rang in der Buchkunst der letzten Jahre begründeten. Über die Szene hinaus wurde sie 1997 bekannt, im Heine-Jahr, als „Burgis Heine“ in vier Ausstellungen in Düsseldorf, Tübingen, Dillingen und Frankfurt gezeigt wurde.

„Burgis Heine“ – dieser Titel bezieht sich auf die einst von Golo Mann in einem Artikel gestellte Frage „Wem gehört Heine?“ und bedeutet zugleich das Ergebnis einer jahrelangen intensiven Auseinandersetzung mit dem Dichter: „Die Begeisterung für Leben und Werk Heinrich Heines prägte über Jahre meine Arbeiten. Es entstehen neben Unikatbüchern auch Installationen sowie das Heine-Kochbuch. Über die Beschäftigung mit Heines Atta Troll entdecke ich die Tiere, Fabeln und letztendlich die Märchen für meine Bücher.“

Die Heine-Werkgruppe besteht aus fast zwanzig einzelnen Arbeiten: von Malerbüchern wie dem den Anfang markierenden Ideen. Das Buch Le Grand, farbenprächtigen Unikatbüchern mit einzelnen Gedichten, dem großformatigen Atta Troll in einem mit Pelz besetzten Kontenbuch, dem Wintermärchen in einem Taschenatlas, dem das schwarz-rot-goldene Band nicht fehlen darf, bis zu Buchskulpturen, einer Rückschau aus dem Romanzero auf Einzelblättern und schließlich drei großen Installationen: Heines Reisekoffer voller Bücher, Bilder, Landkarten, Westen, Schuhen; Heines Arbeitsplatz und Heines Matrazenlager. Leider gibt der Katalog nur einen vagen Eindruck von dieser gedanklich stringenten, expressiv ausgeführten, so viel dimensionierten Arbeit, aber er enthält kundige Interpretationen sowie einen Werkindex der bis dato entstandenen Unikatbücher und Objekte.

„Ich erfreue mich daran, dass es immer nur das eine Buch gibt, das immer nur einer, oder nur wenige anschauen können“, formulierte Burgi Kühnemann einmal. Dennoch freuen wir uns, dass daneben immerhin zwei erschwingliche Bücher auf dem Markt sind, Bücher, die sich als Geschenke ebenso eignen wie als Türöffner zur Buchkunst.

Beides sind Kochbücher, das eine verheißt Märchenhaft speisen nach den Brüdern Grimm und dem Gourmet Karl Friedrich von Rumohr, das andere mit dem appetitanregenden Titel Rauchfleischlichkeiten und Mockturteltauben, trägt auf dem Umschlag die Zeichnung einer Sauciere mit dem spätestens durch die Schrift identifizierbaren Kopf: „Heinrich Heine, der Genießer“. In ihrem Nachwort erinnert sich Burgi Kühnemann, dass ihr in der Kindheit die Erwähnung einer Speise als Metapher für eine Wahrnehmung als grober Ausdrucksfehler, als zu „materialistisch“ angestrichen wurde und ihr deshalb bei der späteren Heine-Lektüre auffallen musste, wie gerne und treffend er das Essen erwähnt. In diesem wunderschönen Buch hat sie dann Zitate aus den Memoiren des Herren Schnabelewopski, dem Wintermärchen und anderen Werken mit Rezepten aus dem Praktischen Kochbuch von Henriette Davidis von 1844 kombiniert. Es lässt sich also danach kochen, wie man vor anderthalb Jahrhunderten eben zu kochen pflegte. Vermutlich wird man sich aber eher an den beiderlei Texte frech und entlarvend kommentierenden Zeichnungen laben.

Zum Weiterlesen:

Burgis Heine. Buchkunst und Installationen. Droste Verlag, Düsseldorf 1997. 107 Seiten mit zahlr. s/w Abb., 25,50 Euro (darin auch ein Verzeichnis ihrer Künstlerbücher seit 1989)

Rauchfleischlichkeiten & Mockturteltauben. Heinrich Heine, der Genießer. Verlag Landpresse, Weilerswist 1997. 80 Seiten mit zahlr. farbigen Abb., 24 Euro

Märchenhaft speisen. Ein Märchenkochbuch nach Karl Friedrich von Rumohr, Jacob und Wilhelm Grimm. Verlag Landpresse, Weilerswist 1998. 80 Seiten mit zahlr. farbigen Abb., 20 Euro


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