Was die leere Bibliothek erzählt

Zum 70. Jahrestag der nationalsozialistischen Bücherverbrennung

Von Michael Bienert


In seiner baulichen Gestalt gehört der Bebelplatz zu den schönsten Plätzen in Berlin. Eine von Statuen gekrönte Flanke der Staatsoper, die geschwungene Barockkommode der einstigen Königlichen Bibliothek, die Sankt-Hedwigs-Kathedrale mit ihrer grünen Kuppel und ein wilhelminisches Bankgebäude geben dem Platz eine würdevolle, aber nicht allzu steife Fassung. Eine Schmalseite begrenzt der laute Autoverkehr auf der Promenade Unter den Linden. Jenseits öffnet sich der Ehrenhof der Humboldt-Universiät zum Bebelplatz. Dort liegen zu Füßen der Marmordenkmäler Alexanders und Wilhelms von Humboldt gebrauchte Bücher auf langen Tapetentischen, eine Verlockung für die vorbeispazierenden Studenten und Touristen. Auf dem Bebelplatz selbst gibt es keinen Handel und keinen Autoverkehr. Menschentrauben wandern über die weite gepflasterte Fläche. Eine Weile verharren sie in der Platzmitte, die Köpfe gesenkt und die Augen auf den Boden gerichtet.

Nachts dringt dort ein geheimnisvolles Leuchten aus der Unterwelt nach oben. Durch eine quadratische Glasplatte blickt man hinunter in einen leeren weißen Raum, umgeben von leeren weißen Regalen. Eine Bibliothek ohne Bücher.

Der unterirdische Raum würde die rund 20 000 Bände fassen, die hier am 10. Mai 1933 in Flammen aufgingen. Damals war der heutige Bebelplatz Hauptschauplatz der nationalsozialistischen Propagandaaktion „Wider den undeutschen Geist“, bei der in vielen Städten Bücher missliebiger Autoren brannten: darunter Werke von Marx und Freud, Heinrich Mann und Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky und Erich Kästner. „O Jahrhundert! O Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben“, rief Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels den stramm stehenden Studenten in SA-Uniform zu. Seine Ansprache wurde durch den Rundfunk in alle Winkel des Reiches übertragen. Es war eine von langer Hand vorbereitete Demonstration staatlicher Gewalt gegen linke, liberale, jüdische und kritische Geister, inszeniert als scheinbar spontaner studentischer Protest. Daher fiel die Wahl auf den Platz vor der Berliner Universität.

Bis vor zehn Jahren diente er als Abstellfläche für Autos, ehe er für den Verkehr gesperrt und zum bedeutendsten Berliner Literaturdenkmal hergerichtet wurde. Der israelische Bildhauer Micha Ullmann, der an der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste lehrt, entwarf die unterirdische „Bibliothek“. 1995 wurde sie eingeweiht. So schlicht diese Raumskulptur ist, so eindrücklich ist sie als Metapher der Leere, des Verlusts und der Abwesenheit. Dass der gesamte Bebelplatz jeder profanen Nutzung entzogen wurde, unterstreicht die Dimension des Ereignisses, an das hier erinnert wird: Die Bücherverbrennung war die Manifestation eines Zivilisationsbruchs. Sie stand für eine staatliche Kulturpolitik, die systematisch alles verfolgte und vernichtete, was der herrschenden Ideologie hätte gefährlich werden können. Von dem Aderlass, den das für das Geistesleben bedeutete, hat sich Deutschland nie vollständig erholt.

Die Neugestaltung des Bebelplatzes Mitte der 90er Jahre war ein Glücksfall. Doch das wieder vereinigte Berlin in seinem Erneuerungs- und Jugendlichkeitswahn ist eine vergessliche Stadt, oft mit Blindheit geschlagen für ihre wirklichen Vorzüge. So plante dieselbe Bauverwaltung, die den Bebelplatz zu einem gelungenen und allseits geschätzten Gedenkort umgestaltet hatte, dort alsbald eine unterirdische Tiefgarage. Als dieses Vorhaben vor zwei Jahren publik wurde, protestierten die Akademie der Künste und eine Studenteninitiative verhement gegen die Verhunzung des Denkmals. Micha Ullmann erwog gar, seine Skulptur zurückzuziehen. Zu Recht fürchtete er, dass es der Aussagekraft seines Kunstwerks schadet, wenn man weiß, dass es nicht ins Erdreich eingegraben ist, sondern als Dachschmuck eines Parkhauses dient. Doch die Bauverwaltung blieb uneinsichtig: Sie hatte bereits einen Vertrag mit einem Investor abgeschlossen und fürchtete horrende Schadensersatzforderungen im Falle eines Rückzuges. In diesem Frühjahr nun sind die Bagger angerückt, um die Grube für die Tiefgarage auszuheben. Der stille Ort des Gedenkens verwandelt sich zurück in ein städtebauliches Zeugnis der Gedankenlosigkeit.

Die leere Bibliothek ist ein offenes Kunstwerk, das vielfältige Lesarten zulässt. Sie eröffnet einen Assoziationsraum, der weit über den Anlass ihrer Entstehung hinausreicht – und damit auch das Gedenken an die Bücherverbrennung in einen größeren Zuammenhang stellt. Man kann in den leeren Regalen nicht nur die Abwesenheit der verbrannten Bücher sehen, sondern ebenso sehr ein Symbol der vielen Werke, die gar nicht erst geschrieben oder gedruckt wurden, weil die nationalsozialistische Verfolgung das verhinderte. Und auch die Bücher, die von anderen Regimen unterdrückt und verbrannt wurden, haben in der leeren Bibliothek ihren imaginären Ort.

Die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 war leider kein singuläres Ereignis. Bücherverbrennungen hat es vermutlich gegeben, so lange eine schriftliche Überlieferung existiert. Die erste, von der wir wissen, fand 411 vor unserer Zeitrechnung in Athen statt und richtete sich gegen die Schriften des Philosophen Protagoras. Ungefähr 200 Jahre später wurde in der chinesischen Qin-Dynastie der Besitz bestimmter Schriften, die den Machthabern missfielen, unter Todesstrafe gestellt und das gefährliche Gut öffentlich verbrannt. Von da an zieht sich eine Feuerspur durch die Menschheitsgeschichte bis in unsere Tage. So haben die Taliban in Afghanistan nicht nur die weltberühmten Buddha-Statuen vernichtet, sondern auch ganze Bibliotheken. In Indonesien scheinen Bücherverbrennungen geradezu en vogue zu sein: Islamisten und eine „Antikommunistische Allinanz“ verbrennen wieder einmal die Schriften von Marx und Engels, Studenten protestieren mit der Vernichtung ihrer Lehrbücher lediglich gegen antiquiertes Lehrmaterial. Nur ein Phänomen rückständiger Länder mit Defiziten an gelebter Demokratie? Im Mutterland der Menschenrechte, genauer dem US-Bundesstaat New Mexico, machte die Gemeinde Alamogordo im Dezember 2001 durch eine Bücherverbrennung Schlagzeilen. Mit dem Segen eines örtlichen Priesters landete der Kinderbestseller Harry Potter auf dem Scheiterhaufen. Das Buch sei Teufelszeug, denn es verführe die Kinder zur Hexerei, so die Anklage. Ganz ohne Widerspruch ging die Aktion freilich nicht über die Bühne: Einige aufgeklärte Bürger des Ortes erschienen in Adolf-Hitler-Kostümierung, um gegen den Rückfall der amerikanischen Provinz ins europäische Mittelalter zu protestieren.

„Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“, steht in erhabenen Buchstaben auf zwei Bronzeplatten, die ins Pflaster des Bebelplatzes eingelassen sind. Man findet das Heine-Zitat auch auf Gedenktafeln in Düsseldorf und Göttingen unweit von Orten, an denen die Nazis Scheiterhaufen errichteten. Kaum jemand allerdings kennt den Zusammenhang, aus dem das Zitat – inzwischen eine etwas abgenutzte Beschwörungsformel bei Erinnerungsritualen – stammt. „Wir hörten, daß der furchtbare Ximenes / Inmitten auf dem Markte, zu Granada – / Mir starrt die Zung im Mund - den Koran / In eines Scheiterhaufens Flamme warf!“ – so lauten die vorangehenden Verse aus Heines 1823 in Berlin gedrucktem Jugenddrama „Almansor“. Sie beziehen sich auf die Unterdrückung des Islam durch die Inquisiton im Spanien des 15. Jahrhunderts. Die Figuren des Stücks sind Araber, denen die Ausübung ihres Glaubens verwehrt wird. Sie müssen (wie der Titelheld Almansor) ins Exil gehen oder sich (wie sein unerkannter Vater) zwanghaft und heuchlerisch als gute Christen gebärden. Oder sie halten an einem fundamentalistisch verkümmerten Islam fest und terrorisieren das Christenvolk aus dem Hinterhalt wie der treue Diener Hassan: „Und wenn sie röchelten, die Buben … Dann klangs in unsre Ohren süß wie Wollust.“

Heine zeigt in seiner Liebestragödie das verschiedenartige Scheitern von Figuren, denen eine fremde kulturelle Identität aufgezwungen werden soll. Die Muslime dienen dabei als Spiegel von Assimilationskonflikten, wie sie Heine selbst als Jude in einer antisemitisch eingestellten Christengesellschaft durchlebte. „Das war ein Vorspiel nur...“ erweist sich beim Nach- und Weiterlesen als aktueller Kommentar zu den globalen Kulturkonflikten unserer Tage. Auch das ist ein Pfad des Gedenkens, dem wir am 70. Jahrestag der Bücherverbrennung folgen können.

Im heutigen Deutschland sind Bücherverbrennungen als Mittel der geistigen Auseinandersetzung tabu. Das ist ein zivilisatorischer Fortschritt, aber keine Garantie, dass es immer so bleibt. Andere Länder und Kulturen, in denen die Drangsalierung von Schriftstellern, die Unterdrückung und Verhinderung ihrer Werke zum Alltag gehören, sind uns näher gerückt denn je. Deshalb ist der 10. Mai nicht nur ein kulturhistorischer Gedenktag. Ein brutaler Angriff auf das vielstimmige literarische Universum, wie er vor 70 Jahren in Deutschland unternommen wurde, kann sich jederzeit wiederholen. Das ist es, was das Erinnern so wichtig macht.

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Info-Kasten:

Voraussetzungen und Organisation der Bücherverbrennung durch die Nazis sind vor 20 Jahren in einer Ausstellung der Berliner Akademie der Künste umfassend aufgearbeitet worden; der damals erschienene Katalog mit dem Titel Das war ein Vorspiel nur (Medusa Verlag) ist noch immer das Standardwerk zum Thema. Zum 70. Jahrestag erscheint im Parthas Verlag eine kompaktere Darstellung der Ereignisse, die den aktuellen Forschungsstand berücksichtigt und insbesondere den Ablauf der Bücherverbrennungen jenseits der Hauptstadt rekonstruiert: Werner Treß, Wider den undeutschen Geist! Bücherverbrennung 1933 (Parthas Verlag, 150 Seiten, 19,80 Euro). Neu aufgelegt hat der junge Glotzi Verlag einen vergessenen Berliner Angestelltenroman, der 1933 verbrannt wurde: Rudolf Braunes Das Mädchen an der Orga Privat (198 Seiten, 14,20 Euro). Der talentierte junge Autor, 1907 geboren und seit 1928 Mitglied der KPD, hat den Triumph der Nazis nicht mehr erlebt: Er starb im Sommer 1932 bei einem Badeunfall im Rhein.




Von:
Michael Bienert, Jahrgang 1964, ist Autor mehrerer Bücher über das literarische Berlin und berichtet für das Feuilleton der Stuttgarter Zeitung aus der Hauptstadt. Im Herbst erscheint sein neues Buch Eine Stunde Stadt. Berliner Ringbahn-Reise (mit Ralph Hoppe, BerlinEdition im Quintessenz-Verlag).