Der Brahmine Schwabens

Eine neue Edition feiert den großen Dichter Christian Wagner
Von Joachim Kalka

Bleibe ferne von den Mordgesellen,
Die die heil'gen Schattenbäume fällen
Und sich selbst und ihren Kindeskindern
Trostverachtend die Entsühnung mindern.
„Lied des Brahminen“


Eine neue, lang erwartete Ausgabe führt endlich eine repräsentative Auswahl der Texte eines Autors zusammen, den manche dem Namen nach kennen mögen, der aber eigentlich noch fast unbekannt zu nennen ist – jedenfalls bei weitem nicht so bekannt, wie es seinem außerordentlichen Rang in der deutschen Dichtung des späten neunzehnten Jahrhunderts entspräche: Christian Wagner. Die Umschläge der beiden Bände dieser Edition zeigen zwei Fotos des greisen Dichters: ungelenk im Garten aufgestellt, in schäbig-säuberlicher Kleidung, klein, scheu lächelnd; dann vor einem hohen Reisighaufen im Freien auf einem Stuhl, eine Katze in den Armen, deren Gesicht er sanft ebenfalls dem Photographen zuzudrehen scheint, dem er zulacht. Sie zeigen eine dürftige, leicht der Lächerlichkeit preisgegebene, und eine zugleich ehrwürdige Gestalt – hier schon in hohem, fragilem, versponnenem Alter. Der Mann wurde immer als Bauerndichter bezeichnet. Die Benennung ist richtig und unzulänglich, sie sagt etwas über das Leben aus, wenig über das Werk, denn dieser Dichter, der von 1835 bis 1918 lebte, musste zwar sein Leben als unvermögender Bauer in Warmbronn verbringen, aber tatsächlich stellt seine Dichtung eine der erstaunlichsten Grenzüberschreitungen der Literatur dar. Sie setzt bei den Feldern, Wäldern, Brennesselrainen seiner Heimat an, aber sie bricht aus, autodidaktisch, visionär, radikal.

Ebenso setzt diese Lyrik im Pathos und in der Idylle des neunzehnten Jahrhunderts an, sie bedient sich oft einer konventionellen sprachlichen Form (deren Inhalt tief erlebt war), doch aus der Konvention bricht das Außerordentliche hervor. Und, wie Werner Kraft in seinem großen Essay „Christian Wagner“ (in seinem Buch Wort und Gedanke) schreibt: „… es ist um so außerordentlicher, wenn die Ohnmacht das Gestrüpp stehen lässt, durch das die Sprache mit der Macht einer Naturkraft bricht.“ Er illustriert diesen Zusammenhang von dichterischer Unbeholfenheit und plötzlicher ungeheurer Sprachkraft an folgender Passage (aus dem Gedichtband Späte Garben), in welcher der von dem Epigonen Wagner nur mühsam bewältigte Hexameter mit einem Mal eine lapidare Monumentalität erreicht:

Wenig bedürfen fürwahr, ich lerne es an mir, damit ich
Trotz zu bieten vermag der Tücke des Schicksals, der Menschen. –
Was mich entsetzet ja nur ist dieses: Ich könnte im Hunger
Feigling werden, vielleicht untreu mir selber. – Wie trostvoll:
Stufen schlug ich, um groß herabzusteigen vom Throne.

„Dieser letzte Vers“ – setzt Kraft hinzu, der wahrhaftig die Autorität zu einem solchen apodiktischen Urteil besaß – „ist einer der größten, die in deutscher Sprache gedichtet sind, und wenn die vorhergehenden Verse diese Größe nicht einhalten, der sie doch hörbar sich zubewegen, so hätte ein Dichter mit größerem Kunstverstande weit eher den letzten Vers zerstört als dass ihm das ganze Gedicht gelungen wäre.“


Was ist es, dem Wagner „untreu“ zu werden fürchtet? Seine Weltanschauung – bei Wagner wird dieses Wort, das uns nur noch papieren raschelt, wieder sensorisch, bezeichnet wieder eine Schau der Welt – ist ganz und gar individuell und eigenartig, so sehr sie auch Stütze und Anregung in der zeitgenössischen lebensreformerischen Literatur fand. Er sieht in den anderen Wesenheiten der Natur, in Pflanze und Tier, Verkörperungen einer alles verbindenden Wiederkehr, eines Lebensprinzips, das im Duft der Blumen („Syringen“) den Menschen seine Vergangenheit und seine Erlösung ahnen lässt. In manchen Gedichten finden sich wie seltsame Einsprengsel einer nie ganz ausgeführten Philosophie erstaunliche Begriffe, zum Beispiel in jenem, das beginnt: „Einsam wandelt durch den Wald ein Alter, / um ihn schweben blau und goldne Falter“. Es endet nach der Evokation der Schmetterlinge und Blumen, die den Menschen geheimnisvoll begleiten, mit den Zeilen:

Und ihn selber als geschloßne Haltung
Grüßt sein Einst als Auseinanderfaltung.

Eine solche merkwürdige Begrifflichkeit ist für den Dichter vollkommen „materiell“. Wenn er in einem anderen Gedicht („Frage“) schreibt:

Sage mir, ewiges Licht:
Ist nicht
Jegliche Blüte
Eine zur Wiedererscheinung gelangte urewige Mythe?
Jegliche Rose
Eines verachteten Dornstrauchs Apotheose?

– so beantwortet er selbst in wiederum anderen Versen („Kannst du sagen, ob von deinem Hauche / nicht Atome sind am Rosenstrauche? / Ob dein einstig Kinderatemholen / dich nicht grüßt im Duft der Nachtviolen?“) diese Frage in einem völlig konkreten Sinne: mit einem Atomismus der Reinkarnation, dem alles zusammenhängt und dem die Metaphern von Mythe und Apotheose körperlich werden. Was diese Dichtung im Übrigen mit ihrem fernen brahminischen Hintergrund gemeinsam hat, ist das Lehrhafte, die Gebärde des seherischen Aufzeigens einer Weisheit. Wenn es etwas gibt, was man an der schönen, reichen und liebevoll gestalteten neuen Edition von Wagners Schriften bedauern mag, dann ist es der Umstand, dass diese durchaus merkwürdige Form der Lehrdichtung, in die viele seiner schönsten und bekanntesten Gedichte hineingehören, durch Zertrennung des Zusammenhangs von Werken wie „Oswald und Klara. Ein Stück Ewigkeitsleben“ nicht mehr erkennbar ist. Wer sich hiermit näher beschäftigen wollte, müsste deshalb neben Ulrich Keichers Ausgabe die Nachdrucke von Wagners Werken in ihrer alten Gestalt heranziehen – etwa die Neuen Dichtungen von 1897. Dort zeigt sich in der wunderlichen und oftmals großartigen ganzen Gestalt des Textes die Symbiose der Gedichte mit der erzählenden und predigenden Prosa Wagners. In dieser Prosa über die Weltallswanderungen zweier Seelen lassen sich auch verblüffend originelle Passagen entdecken, etwa Abschnitte wie „Wieder seitab des Weges“, die den Autor in die Nähe der „astralen“ Phantasien seines Zeitgenossen Paul Scheerbart rücken (der ihm auch dadurch tief verbunden ist, dass er, wie Wagner voller Abscheu und Entsetzen vor dem Krieg, im Ersten Weltkrieg nicht nur an Entbehrung, sondern gewiss auch an dem, was man ein gebrochenes Herz nennt, zugrundegegangen ist.

Seine Haltung hat den Dichter in seiner kleinen Welt isoliert. Das Schauspiel Die Raben des Sonntagskindes (besser vielleicht: Des TeufelsGroßmutter) von 1904 – kein großer, aber ein höchst interessanter Text – zeigt zu Beginn einen Sonderling, der im tiefen Schnee mit Brotlaib und Besen daherkommt, eine Stelle des Feldwegs freifegt und das Brot für die heranfliegenden Raben kleinschneidet: „ein schon älterer Mann, ein Dichter vom nahen Dorf.“ Diese franziskanische Tat wird von den Bemerkungen klatschender und lachender alter Weiber begleitet, die über die Gottlosigkeit des Mannes schwatzen: „Nicht einmal vergönnt er einem ehrlichen Christenmenschen ein Pfündlein gutes Kalbfleisch. Zieht die Kälber, die er von seiner Kuh bekommt, alle selber auf… Der, der hat gar keine Religion. Seine Enten und Gänse lässt er über den ganzen Winter nicht rupfen, wie es doch in jeder rechtschaffenen Haushaltung Brauch ist.“ In diesen Worten dürfte mit großer Genauigkeit die Reaktion des Dorfes auf den außenseiterischen Tierfreund und Poeten festgehalten sein, bis hin zu: „Und hexen kann er. Neulich hörte ich, wie der Herr Doktor von ihm sprach… daß er Hex-Hex-Hex-Hexameter mache. – Daß Gott erbarm! Das ist noch das Allerärgste.“

Sein Leben spielte sich zwischen Verständnislosigkeit und Entbehrung ab, und es lässt sich keine versöhnliche Beziehung zwischen dieser Welt und seiner Kunst herstellen. Kraft zitiert eine Stelle aus einem Brief von Isolde Kurz an Richard Weltrich (der 1898 eine erste Studie über Wagner veröffentlicht hatte): „Dieser Bauer ist wirklich ein Begeisterter und ein Gefäß des Gottes. Er soll nur nicht mit dem Pflug hadern, dem verdankt er die Stille seiner Seele.“ Werner Kraft setzt trocken hinzu – und Isolde Kurz verdient den Tadel, weil ihrem schönen ersten Satz der dumme zweite folgt, in dem eine behagliche Existenz, die von solchen Entbehrungen nie gewusst hat, den Zeigefinger hebt: „Sich selbst verdankt Christian Wagner die Stille seiner Seele, und er wußte besser als Isolde Kurz, warum er mit dem Pflug haderte.“

Das Gedicht „Wochenkalender“ setzt nach der Nennung eines jeden Wochentages ein so lakonisches wie verstörendes „Entsetzlich!“ So sehr das die Notdurft und Mühseligkeit des äußeren Lebens bezeichnet – mehr noch litt Wagner an einer großen inneren Einsamkeit, die erst die späten Lebensjahre milderten, da einige, auch berühmtere Leser sich ihm näherten. Der ersehnte geistige Austausch stellte sich ein, er erfuhr eine – oft, aber nicht immer, gönnerhaft gefärbte – öffentliche Anerkennung. Doch etwas anderes bleibt: Es gibt Gedichte, in denen er die Trostlosigkeit des Ungeliebten beschwört. In einem Gedicht mit dem Titel „Die Geschlechter“, das mit oder ohne Kenntnis Platons genau den Mythos spiegelt, den Aristophanes im Symposion erzählt, um die Gewalt des Eros zu erklären, sind die Menschen entzweigehauen:


Ist dies nicht ein frevles Schicksalswalten,
Menschtum in zwei Teile zu zerspalten?

In zwei blut'ge Hälften zu zerreißen?
Eine Mann, die andere Weib zu heißen?

Beid' erfüllt von heißem Sehnsuchtsdrange
Sich zu finden auf des Lebens Gange,

Ich dem Ich zur Opfergab' zu bringen? -
Ach, wie wenigen, wenigen mag's gelingen

Ohne Losung, Fährten oder Spuren
Sich zu finden auf des Lebens Fluren!

Sel'ge Kindheit, die nicht kennt die Wirren,
Nicht der Liebe grausam töricht Irren!

Sel'ge Blume, die nichts weiß vom Fluche
Lebenslanger und vergebner Suche!


Trost und eine grandiose Ruhe fand Wagner in der Natur. Dieses Wort umfasst hier sowohl die Schönheit der Landschaft wie den Zusammenhang der in Wiederverkörperung geeinten Welt. Was ihn aber unterscheidet von so vielen freundlichen Dichtern der schönen Natur ist seine in die Feier der Naturwelt verwobene unnachgiebige Schilderung des Schmerzes, der schuldhaften Hässlichkeit und des Leidens. Unnachgiebig noch im leisesten Anflug von Melancholie wie das abrupt, „ohne Pointe“, endende „Einst und Jetzt“:

Bleich steht das Feld und reif das Korn, das gelbe,
ganz so wie einst und doch nicht ganz dasselbe.

Ganz so wie einst Tal, Feld, des Weges Borden,
Und doch und doch: Wie viel so fremd geworden!

Wie schön der Wald! Gott, wie bekannt mich schauen
Die Wiesen an, die Fluren und die Auen!

Und doch und doch! Wie ganz mit anderen Mienen,
Als hätt' ich nichts zu suchen mehr bei ihnen.

Werner Kraft, der große und immer noch den deutschen Lesern nicht recht bekannte Kritiker, hat in einem Brief an Ulrich Keicher 1974 eine seltsame Begegnung im Christian-Wagner-Haus überliefert; er blätterte dort im Besucherbuch und stieß – die Niederschrift lag bei seinem Besuch noch gar nicht so sehr lange zurück – auf „die Eintragung einer deutschen Frau, die nicht Christian Wagner dankt, sondern dem Führer und zwar für seine herrlichen Siege. Was in dieser Frau vorging, ist mir ein großes Rätsel, dessen Auflösung vieles erklären würde.“ Die „herrlichen Siege des Führers“ sind das, was Wagner Zeit seines Lebens gefürchtet, gehaßt und verachtet hat. Ein Gegenbild hat Hedwig Lachmann (1900) überliefert – „wie der alte Mann in seiner Bauernstube saß und mit einem großartigen Glanz in den Augen immer wiederholte: Götter müssen wir werden… Götter müssen wir werden!“ Wer hat je diesen Traum so ohne alle Hybris geträumt?

Zum Weiterlesen:
Christian Wagner, „Eine Welt von einem Namenlosen“. Das dichterische Werk / Lebenszeugnisse und Rezeption. Hrsg. von Ulrich Keicher. Wallstein, Göttingen 2003. 2 Bde., 523 Seiten, 49 Euro
Christian Wagner, Weihegeschenke (enthält als Faksimile die drei Bücher Weihegeschenke, 1893, Neue Dichtungen, 1897, und Späte Garben, 1909). Jürgen Schweier Verlag, Kirchheim / Teck 1981
Christian Wagner, Schauspiele. Hrsg. von Harald Hepfer. Christian-Wagner-Gesellschaft, Warmbronn 1998


Von:
Joachim Kalka, Jahrgang 1948, lebt als Übersetzer und Kritiker in Stuttgart. Er schreibt regelmäßig für die FAZ; demnächst erscheint im Kursbuch ein Aufsatz über Balzacs Die Frau von dreißig Jahren. Übersetzend arbeitet er augenblicklich an Gedichten von Amy Clampitt und Michael Hamburger sowie an Cyril Connollys The Unquiet Grave.