Ausgabe: November/Dezember 2003 


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Isolde Kurz zum 150. Geburtstag

Von Gisela Schlientz

Isolde Kurz war blond. Im Florenz des Fin de Siècle erregte ihre „lichte Erscheinung” Aufsehen: „Mein germanisches Blond und daß ich als junges Mädchen ganz allein ausging, gab immer neuen Anlaß zum Staunen. Der Deutsche war zu jener Zeit in Italien hochgeehrt. Es berührte mich eigen, wie der greise Dichter und Schiller-Übersetzer Maffei, eine hohe, schlanke, stadtkundige Gestalt mit wallendem Bart und Haar, wo er mir begegnete, stehenblieb und, ohne mich persönlich zu kennen, den Hut lächelnd bis zur Erde zog: Ich verstand, daß er in der jungen Fremden dem Genius Deutschlands huldigen wollte.” Das Zitat wurde von der Autorin ihren 1910 erschienenen Florentinischen Erinnerungen in der Neuauflage von 1919 eingefügt, also unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, in dem sich Deutsche und Italiener als Feinde gegenübergestanden hatten.
Die Wahl-Florentinerin, die immer zwischen den Kulturen von Nord und Süd vermittelt hatte, war zwischen die Fronten geraten. Der Einschub in ihren schon vor dem Krieg entstandenen, kulturhistorischen Essay über die „stille Königin”, die Stadt am Arno, zeigt beides: die neue, durch den nationalen Taumel von 1914 bestärkte Vergewisserung der eigenen Art und die nostalgische Beschwörung besserer Zeiten, in denen Deutschland in Italien noch hoch im Ansehen stand.

Die kleine Anekdote wirft ein Schlaglicht auf die populäre Semiotik einer Völkerpsychologie, deren Unverwüstlichkeit sich auch im Sommer 2003 bestätigt hat, in den Auslassungen eines italienischen Staatssekretärs für Tourismus über die „uniformen Blonden”, die lärmend über Italien herfielen. Das Klischee dient der Wahrheit als Maske, oder umgekehrt, es kommt im Kostüm der Wahrheit daher. Dabei können die stereotypen Repräsentationen positiv oder negativ aufgeladen sein. Einmal ist das blonde Haupthaar Signal für eine Huldigung, im anderen Falle markiert es die unsympathischen Teutonen.

Die historische Unbeliebtheit der Deutschen in Italien haben zwei Weltkriege und die brutale Besatzungsherrschaft der Deutschen in den Jahren von 1943 bis 1945 zweifellos verstärkt. Dennoch ist bemerkenswert, wie hartnäckig auch im vereinten Europa solche kollektiven Deutungsmuster die gegenseitige Wahrnehmung bestimmen, wie sie aus nichtigem Anlaß plötzlich zutage treten.
Isolde Kurz versuchte sie zu erklären in einem Vortrag über „Deutsche und Italiener”, den sie 1919, unmittelbar nach dem Krieg, im Stuttgarter Verein für Handelsgeographie gehalten hat. Obgleich sie mit „dem” Deutschen und „dem” Italiener das Stereotyp bedient, war ihr Auge geschärft durch das eigene Erleben. Ihre Analyse gerät deshalb differenziert, sie sieht die Deutschen aus der Distanz zum „Vaterland”, die Italiener aus der Nähe unmittelbarer Anschauung. Dabei fällt auf, daß sich vieles, was Kurz geltend macht, so oder ähnlich, mit anderen Worten, in den öffentlichen Kommentaren wieder findet, die nach den atmosphärischen Störungen des vergangenen Sommers zwischen Deutschland und Italien zu lesen waren.

Nach dem Tod ihres Vaters, des Schriftstellers Hermann Kurz, zog Isolde Kurz aus der Enge der schwäbischen Provinz mit der Mutter und den Brüdern nach Florenz, wo der Älteste 1877 eine bald florierende Fremdenpraxis eröffnete: „Italien war damals das freieste Land der Erde, und das galt meiner Mutter noch mehr als die immerstrahlende Sonne und die ewigen Werke der Kunst. Vielen Freiheitssuchenden, die mit der Heimat zerfallen waren, hatte Italien den Luftraum geboten, wo sie nach ihrem Herzen leben konnten.“ (Dies schrieb sie in ihrem Buch Meine Mutter über Marie Kurz geb. von Brunnow.)

Mehr als drei Jahrzehnte lebte Isolde Kurz in der „Stadt des Lebens”, in einem Kreis von Künstlern, Gelehrten und Schriftstellern. Im geistigen Klima der „Schönen im Olivenkranz” wurde sie zur Schriftstellerin, trieb aus dem historischen Plasma der Stadt die Gestalten ihrer Novellen und Erzählungen heraus, die Porträts der Renaissancefürsten und der bezwingenden Frauen an ihrer Seite. Die Chronistin der deutschen Künstlerkolonie erlebt Florenz als lieu de mémoire, wo die Lebenden und die Toten gleichberechtigt Bürgerrecht genießen.

Erst mit dem Verlust der beiden Brüder, nach 1905, verschob sich der Lebensmittelpunkt der Dichterin langsam nordwärts, in den schwierigen Jahren, in denen sie mit ihrer hochbetagten Mutter zwischen den Gräbern in Italien und dem letzten der Söhne, dem in München lebenden Bildhauer Erwin Kurz, hin und her irrte. Heimat hatte sie im Plural wahrgenommen, Nation immer im Singular. Nach dem Tod der Mutter 1911 vollzog Isolde Kurz eine vaterländische Rückbesinnung, die im Ersten Weltkrieg hypertrophierte. Die Entscheidung Italiens für den Kriegseintritt auf Seiten des Gegners traf sie wie eine persönliche Verletzung, obgleich sie lange schon bemerkt hatte, dass sich ein Stimmungsumschlag anbahnte, von dem zu ihrer Verwunderung im Reich niemand Notiz nahm. Wie die meisten deutschen Schriftsteller verfasste sie patriotische Kriegsgedichte, die ihr eine unerwartete Popularität eintrugen. Eines, das einzige, das sie später in ihre Gesammelten Werke übernimmt, widmet sie dem italienischen Arzt Carlo Vanzetti, dem Freund und Vertrauten der Familie, der nun auf der anderen Seite der Front steht:

”Wir Feinde? Nimmermehr! Was auch geschehe.
Nie, nie verlernt’s die Seele, dich zu lieben.”
Mit dieser Doppelzeile beginnt das Gedicht „Jenseits des Blutstroms”, das ihr konfisziertes Sommerhaus am Meer in Forte dei Marmi besingt, welches der Freund jetzt hütet:
„Mein Haus! Mein Haus am Meer! Auch heute türmen
Die Marmoralpen schimmernde Kastelle
In deinem Rücken auf und draußen breitet
Sich tiefblau, endlos die Tyrrhenerwelle.
Du träumst den Segeln nach, die ferne streichen
Und an den Zauberinseln hängt dein Blick,
Die mein Erinnern Tag und Nacht umflügelt.”

Isolde Kurz hatte es, neben vielen anderen, auch dem Sozialisten Heinrich Braun zu verdanken, dass sie ihr Haus 1924 zurückerhielt. Er hatte sich direkt an Mussolini gewandt, obgleich ihm dessen Politik verhasst war, und hatte ihn gedrängt, „einer deutschen Dichterin, deren Werke dieses Land verherrlicht haben”, Gerechtigkeit zu erweisen. (So berichtet Julia Braun-Vogelstein in ihrem Buch Heinrich Braun. Ein Leben für den Sozialismus.)

Auch wenn die Dichterin nun in München wohnte, blieb das Haus an der toskanischen Küste der meridionale Ankerplatz der Seele. Italien und die Mediceer-Stadt dienten ihr noch immer als Thesaurus, aus dem sie im folgenden Jahrzehnt, im Alter von mehr als siebzig Jahren, die Stoffe für eine Vielzahl ihrer schönsten Texte wählt: Den Renaissance-Roman Nächte von Fondi (1922), die rätselhafte Geschichte Solleone (1928), den Erzählband Die Stunde des Unsichtbaren (1927) und den Novellen-Zyklus Die Nacht im Teppichsaal (1933). Auch ihr viel gelesenes, gerühmtes Hauptwerk, der Roman Vanadis (1931), und ihre späte Lebensrückschau, Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen (1938), sind Dokumente ihrer Verbundenheit mit den beiden Ländern, deren Konflikte in heilloser Zeit, als Gegner oder Verbündete, sie immer auch mit sich selbst ausgetragen hat.


Gisela Schlientz
lebt als Literaturwissenschaftlerin in Stuttgart. Buch- und Aufsatzpublikationen über französische und deutsche Schriftstellerinen des 18. und 19. Jahrhunderts mit dem Schwerpunkt George Sand.

Im November erscheint der von ihr herausgegebene Band:
Isolde Kurz, Ein Splitter vom Paradies. Erinnerungen und Erzählungen aus dem Florenz der Jahrhundertswende Hohenheim Verlag, Stuttgart. 270 Seiten, 19,90 Euro.

Am 30. November hält sie in der Stadtbücherei im Wilhelmspalais einen Vortrag über „Isolde Kurz: vergessene Autorin, vergessenes Werk“. An die 150. Wiederkehr des Geburtstages von Isolde Kurz erinnern eine Marbacher Kabinett-Ausstellung sowie zahlreiche Veranstaltungen an ihren Lebensorten Esslingen, Kirchheim, Reutlingen, Stuttgart und Tübingen.

Außerdem erscheint: Isolde Kurz, Der Aktiengarten und andere Erzählungen. Jürgen Schweier Verlag, Kirchheim / Teck. 136 Seiten, 14,80 Euro

***

Isolde Kurz: Deutsche und Italiener

Wer daheim auf seiner Scholle sitzt, hält das eigene Wesen für das gegebene und einzig mögliche und nimmt es zum Maßstab für alle anderen. Daß jene völlig anders geartet sind und sich gleichfalls für das Maß der Dinge ansehen, pflegt er nicht zu bedenken. Und vor allem fragt er sich nicht, wie sein ihm so selbstverständliches Wesen denn nach außen wirkt, wie er selbst in den Augen der anderen erscheine. […]

Nach der Eröffnung der Gotthardbahn wuchs der jährliche Wanderschwarm über die Alpen gewaltig an. Der Deutsche war wohlhabend geworden, er gab Geld aus, trat geräuschvoll auf und war auch jetzt noch schlecht angezogen. Denn auf das Äußere hielt er noch immer nichts. Er fühlt sich eben bei seiner unpersönlichen Sachlichkeit wohin er geht als Zuschauer auf der Lebensbühne, wogegen der Romane immer und überall der Darsteller ist, der sein Auftreten danach richtet und die wohlgefälligen Blicke erntet. Dieser vergißt auch nie, daß jeder Volksangehörige in der Fremde die eigene Nationalität vertritt und die Züge dieses seines Volkstums für das Auge der anderen modeln hilft. Diesen letzteren Umstand bedachte der reisende Durchschnittsdeutsche viel zu wenig, oder er ist ihm gleichgültig gewesen. Er kam gerne mit Kniehose, Nagelschuhen und Rucksack, wie er in den Alpen herumgestiegen war, die deutsche Frau im Lodenrock oder, wenn sie Künstlerin war, im wunderlichen, schlecht sitzenden Reformkleid und gleichfalls mit dem Rucksack, und so spazierten sie jahraus, jahrein über die Fliesen des vornehmsten Festsaals der Welt, der die Piazza San Marco heißt, so stiegen sie die stolzen Marmortreppen des Pitti hinan. Sie waren trunken von der Schönheit, die ihnen aufging, und vergaßen, daß sie selber aus dem Rahmen dieser Schönheit fielen und durch ihren Anblick die Harmonie störten. […]

Ein deutscher Typus hat vor allem in den letzten Jahrzehnten böses Blut gemacht. Er trat schneidig auf als Angehöriger eines Herrenvolks, dessen Herrentum aber noch viel zu neu war, um so leicht verziehen zu werden. […]

Besagter Landsmann, der nicht immer ein Berliner war, vermißte in dem fremden Land auf Schritt und Tritt die geordneten Einrichtungen des eigenen und gab seiner Unzufriedenheit rückhaltlosen Ausdruck. Der Italiener übt selbst laut die schärfste Kritik an den Mißständen seiner Verwaltung, aber den Tadel, den man selber ausspricht, mag man doch aus fremden Munde nicht hören. […]

Es ist auch ein Mißgriff, die geschmeidige Höflichkeit des gemeinen Mannes durchweg für bloße Kriecherei vor dem Trinkgeld zu halten. Diese Geschmeidigkeit ist bewußte Kulturform, hinter der sich sogar gelegentlicher Spott verstecken kann. Es ist so vieles doppelsinnig in der Rede der Italiener.

(Auszüge aus: Deutsche und Italiener, erschienen in der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart 1919; der gesamte Vortrag ist in dem Lesebuch von Gisela Schlientz abgedruckt)


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