Das Verstummen des Spaziergängers

Eine Nach-Lese zum 125. Geburtstag von Robert Walser

von Michael Bienert

Das Spazierengehen war sein Glück. Robert Walser ist viel und gern zu Fuß unterwegs gewesen, ein moderner Nomade, den kaum ein Besitz beschwerte. Manche seiner Texte nehmen den Leser mit auf ausgedehnte Spaziergänge, viele andere sind ein anmutiges Spazieren in Gedanken und auf dem Papier. Welch existentielle Bedeutung das zwanglose Durch-die-Welt-streifen für ihn hatte, erklärt Walser in seiner 1917 entstandenen Erzählung “Der Spaziergang" einem misstrauischen Finanzbeamten, der ihm wegen seines vermeintlichen Müßiggangs eine Steuererhöhung abverlangt: "Spazieren muß ich unbedingt, um mich zu beleben und die Verbindung mit der lebendigen Welt aufrechtzuerhalten, ohne deren Empfinden ich keinen halben Buchstaben mehr schreiben und nicht das leiseste Gedicht in Vers und Prosa mehr hervorbringen könnte. Ohne Spazieren wäre ich tot, und mein Beruf, den ich leidenschaftlich liebe, wäre vernichtet."

Nie hat Walser sesshaft werden wollen und können. Er vermied alles, was sein Spazieren hätte hindern können: baute kein Haus, gründete keine Familie, suchte keine Lebensstellung, übernahm keine Verpflichtungen. Doch die Geschäfte gingen schlecht, seine Romane wollte zuzeiten fast niemand lesen, und auch das Verfassen von "Prosastückli" für Zeitungen und Zeitschriften brachte dem literarischen Außenseiter in den 20er Jahren immer weniger ein. Als die Anzeichen einer seelischen Erkrankung – Angstzustände, Halluzinationen und andere psychotische Symptome – sich häuften, landete Walser im Irrenhaus. In Herisau, wo er sich die letzten 23 Jahre brav in die Anstaltsordnung fügte, hörte er mit dem Schreiben auf, ging aber weiter als harmloser Wunderling in der Umgebung spazieren. Was er der Welt noch zu sagen hatte, vertraute er seinem Freund und Vormund Carl Seelig auf gemeinsamen Wanderungen an. Von seinem letzten Spaziergang am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1956 kehrte der Dichter nicht mehr zurück. Man fand ihn, von einem Herzschlag getroffen, rücklings im Schnee.

Wer spazieren geht, bleibt ungebunden. Die Welt ist um ihn, berührt ihn, strömt in ihn ein, ohne den Spaziergänger festzuhalten. Er öffnet sich zur Welt, fühlt sie, genießt sie, will sie aber nicht besitzen. Er übt keine Macht oder Gewalt aus. Als höchste Lust hat Walser ein seelisches und geistiges Einswerden mit der Welt geschildert, wie es sich auf manchen Spaziergängen einstellte. Diesem fragilen Glückszustand seliger Selbstvergessenheit lief und schrieb er nach: "Für ihn gibt es nur eine Religion, nur ein Gefühl, nur eine Weltanschauung: in die Anschauung, in das Gefühl, in die Religion anderer, womöglich aller, liebend aufpassend unterzuschlüpfen", heißt es in dem 1907 im Berliner Tageblatt gedruckten Selbstbildnis "Der Schriftsteller". "Er ist mit sich jedesmal fertig, wenn er das erste Wort schreibt, und wenn er den ersten Satz geformt hat, kennt er sich nicht mehr. Ich meine, das darf ihn empfehlen…"

Dieses Feuilleton gehört zu den Glanzlichtern des Bandes Feuer, der anlässlich von Walsers 125. Geburtstag am 15. April erschien. Die darin enthaltenen Texte haben fleißige Forscher in den letzten Jahren aufgespürt, vor allem in Berliner Zeitungsfeuilletons und abgelegenen Provinzblättern wie der Neuen Badischen Landeszeitung oder der Kasseler Post. Statt sie stillschweigend in die Nachauflagen der Taschenbuch-Gesamtausgabe bei Suhrkamp aufzunehmen, hat der Verlag daraus ein eigenes Büchlein gemacht. Ökonomisch ist das sicher von Vorteil, ob freilich Walser eine solche Zufallsauswahl von Gedrucktem, Durchgestrichenem und Fragmentarischem gerne zwischen zwei Buchdeckeln gesehen hätte, bleibe dahingestellt.

Immerhin lenkt der Band Feuer die Aufmerksamkeit eines größeren Publikums in den Buchhandlungen auf den Jubilar, und Walser müsste sich dessen auch nicht schämen, enthält das Buch doch einige wunderbare Texte wie das gleichnamige Feuilleton (das in den letzten Jahren bereits unter Walser-Liebhabern zirkulierte). Auf einem nächtlichen Stadtspaziergang durch Berlin wird der Erzähler Zeuge eines Hausbrandes: "Ein dichter, scheinbar unaufhörlicher Sprühregen von kleinen, leichten Glutstücken fliegt aus der dunklen Luft in die menschenerfüllte Straße hinunter und besät den Erdboden mit glühendem Schnee. In diesem Moment rollt der Stadtbahnzug vorüber; auch er wird von diesem sonderbaren Schnee bedeckt. Menschen stehen da, die unvorsichtigerweise in die rotbetupfte Höhe schauen, ohne zu bedenken, daß ihnen ein glühender, siedend heißer Schneeflocken ins Auge fallen kann … Plötzlich schießt aus dem glühenden Brandloch eine majestätische Flammenerscheinung, ein wahrhaft feuriger Riesenkörper hoch empor, um sich weit, als sanft fallender Regen, hinüber in die Nachtluft zu legen, als sei da eben etwas Großes und Schönes gewesen und sterbe jetzt aus." Dieses Wunderwerk an atmosphärischer Beobachtung und sprachlicher Vergegenwärtigung liest sich wie die Einlösung des poetologischen Versprechens, das Walser ein halbes Jahr zuvor in dem bereits zitierten Schriftsteller-Selbstporträt gegeben hatte. Man glaubt an der Seite des Autors durch das nächtliche Berlin zu spazieren und sich unter den Schaulustigen zu drängen, bis der banale Appetit auf ein hübsches Abendessen über die Lust am Katastrophenschauspiel triumphiert.

Der schriftstellernde Spaziergänger Walser war kein politischer Akteur. Er ging nicht auf die Straße, um zu demonstrieren, und war auch kein dichtender Weltverbesserer. Aber unpolitisch war er nicht, das wissen wir seit Seeligs 1957 erschienenem Buch über seine Wanderungen mit dem Anstaltsinsassen. Seelig überlieferte erstaunlich hellsichtige Kommentare Walsers zu den Zeitläuften, etwa 1950 anlässlich der US-Intervention in Korea: "Haben Sie diese Galgen-. und Gangstergesichter gesehen? Dummstolz, arrogant und räuberlich. Was gehen die Amerikaner die Freiheitskämpfe eines alten Kulturvolkes an? Natürlich werden sie mit ihrer supermodernen Kriegsmaschinerie alles kaputtschlagen und siegen. Aber wie soll man die Bestie ‚Kapitalismus‘ nachher wieder in den Käfig zurücktreiben? Das ist eine andere, langwierige Frage. Die wahre Bildung wohnt jedenfalls nicht in Washington."

Der von Bernhard Echte herausgegebene Auswahlband Europas schneeige Pelzboa verortet den Ursprung von Walsers tiefer Abneigung gegen jedes Machtgehabe in seiner Heimat, der Schweiz. Walser bekannte sich leidenschaftlich, aber nicht unkritisch zur bürgerlich-demokratischen Tradition der Alpenrepublik. Er wünschte sich die ganze Welt als eine Art idealer Schweiz: "Unter Menschen, die sich frei fühlen, weil sie sich beschränken, möchte ich leben. Unter Menschen, die einander achten, möchte ich leben. Unter Menschen, die keine Angst kennen, möchte ich leben. Ich sehe wohl ein, daß ich phantasiere."

In diesem Zusammenhang aufschlussreich sind einige in die Auswahl aufgenommene Auszüge aus den Mikrogrammen, den nachgelassenen Bleistiftaufzeichnungen Walsers, die als Ganzes jetzt erstmals in einer wohlfeilen Paperbackausgabe vorliegen. Da tastet er sich schreibend in "schwarzblitzende Fragen" der Zeit hinein, zeigt wenig Hoffnung in die Vermeidbarkeit weiterer Kriege und die moralische Verbesserbarkeit der Menschen. So schreibt Walser über den idealisierten Hoffnungsträger der sozialistischen Bewegung den schönen, leider unverändert gültigen Satz: "Der Arbeiter von heute ist seiner Struktur nach ein sich nicht zum Protzentum hinaufgeschwungen habender Protz". Und die Versuche, im Rahmen des Völkerbundes zu einer globalen Friedensordnung zu gelangen, quittiert er Mitte der 20er Jahre mit lakonischen Versen:

"Sind uns nun die Verständigungen nah?
Hah ha ha ha ha ha ha!
Mit der Errichtung von Frieden
geht’s nicht so schnell hienieden."

Immer öfter muss sich Walser in jener Zeit in traumatische Angstzustände hineingeschrieben und -gedacht haben. Das Glück des In-die-Welt-Schauens und Schreibens schlug um in Horror, in eine aussichtslose Qual. Dafür waren gewiss nicht allein die Weltläufte verantwortlich, sondern deren Zusammentreffen mit einer wahrscheinlich ererbten Anlage zur Schizophrenie. Nicht ganz freiwillig hat sich Walser im Jahr 1929 hospitalisieren lassen, doch er sah wohl sehr deutlich, dass es für ihn kaum eine Alternative gab. Eine Heil- und Pflegeanstalt in der Schweiz war nicht das schlechteste Asyl in einer Welt, die auf den Zweiten Weltkrieg zusteuerte, in der seine Texte immer weniger zahlende Abnehmer fanden und in der es immer schwieriger wurde, traumwandlerisch spazieren zu gehen.

Um das Verstummen Walsers in der Anstalt Herisau kreist die biographische Erzählung Verirren des Schweizer Schriftstellers Jürg Amann, die bereits zum 100. Geburtstag Walsers erschien und nun nach 25 Jahren wieder aufgelegt wurde. Amann stützt sich im Wesentlichen auf das Material, das Carl Seelig und Walsers erster Biograph Robert Mächler zur Krankengeschichte und den Anstaltsjahren des Dichters überliefert haben.

Aus diesem Stoff hat er einen fiktiven Dialog zwischen dem Anstaltsdirektor und dem Vormund Walsers nach dessen Tod montiert. Der Text wirkt ein wenig angestrengt in seinem Streben nach einem literarischen Duktus, hat aber den Vorzug, den Leser in sehr komprimierter Form an das Seelendrama Walsers heranzuführen. Wer sich ernsthaft mit der Frage beschäftigt, wie verrückt Walser denn nun wirklich gewesen sei, wie bewusst er seinen Rückzug aus der Welt inszeniert habe, sei dennoch auf Mächlers Biographie zurückverwiesen, die bereits 1966 erschien und nun in der überarbeiteten Fassung von 1992 als Taschenbuch greifbar ist. Mächler hat seine Hauptaufgabe als Biograph darin gesehen, Walsers Leben möglichst seriös und lesbar zu dokumentieren, nicht es abschließend zu deuten. Er zitiert widersprüchliche ärztliche Auffassungen, verlässt sich aber nicht darauf, sondern versucht, ein umfassendes Bild der Lebensumstände vor und nach der Hospitalisierung zu geben. Durch behutsame Annäherung kommt Mächler zu einer Einschätzung von Walsers Krankheit, der man noch immer folgen kann: Ihre Symptome sind von Walser als bedrohlich und schaffenshemmend erlebt worden, doch nach heutigen Maßstäben der Psychiatrie war die Einweisung in eine geschlossene Anstalt nicht zwingend. Walser gehörte wohl zu den Grenzfällen, denen man heute lieber außerhalb der Kliniken zu helfen versucht, weil drinnen die Heilungschancen eher kleiner werden.

Nachdem der Anstaltsinsasse um das Jahr 1933 gänzlich verstummte und alle Angebote zurückwies, ihm einen Raum zum Schreiben einzurichten, entfalteten seine Schriften ihre ganz eigentümliche, stille und nachhaltige Wirkung. Sie zogen Liebhaber, Germanisten und Schriftstellerkollegen in ihren Bann, die nicht müde wurden, sich für Walser einzusetzen. Einen schönen Überblick über die sanft bezwingende Wirkung seiner Schriften seit Walsers Todesjahr 1956 gibt ein Buch von Jochen Greven, dem Herausgeber der so leserfreundlichen wie verlässlichen Gesamtausgabe und ersten Präsidenten der 1996/97 gegründeten Robert-Walser-Gesellschaft.

Robert Walser – ein Außenseiter wird zum Klassiker ist eine geglückte Mischung aus Autobiographie, Forschungs-, Editions-, Rezeptions- und Verlagsgeschichte, mit Gewinn zu lesen nicht nur für die Walser-Gemeinde, sondern für alle, die irgendwie mit der Vermittlung literarischer Werke an eine breitere Öffentlichkeit zu tun haben. Denn es bedurfte einer geduldigen, Jahre und Jahrzehnte in Anspruch nehmenden Anstrengung, die Widerstände gegen eine breitere Walser-Rezeption aus dem Weg zu räumen: das Misstrauen seiner Nachlassverwalter, mangelnde Fortune seiner Verleger, die teilweise Verborgenheit des Werkes in alten Zeitungsbänden und in Walsers kaum entzifferbarer Mikrogrammschrift. Es gab Vorbehalte gegen Walsers "Feuilletonismus" – in den 50er Jahren ein Schimpfwort! –, später dann gegen seinen deutschen Herausgeber, der von manchen Schweizern Walserianern scheel angesehen wurde, weil sie ihm nicht zutrauten, ihren Landsmann wirklich zu verstehen. Anfang der 80er Jahre beschäftigte Walser gar das höchste Schweizerische Bundesgericht, als Greven eine Klage gegen das Eidgenössische Departement des Innern durchfocht, um – mit Erfolg – bessere Verwahrungsbedingungen und Zugangsmöglichkeiten zu Walsers Nachlass im Zürcher Walser-Archiv zu erzwingen.

Heute ist der Spaziergänger Walser fast ein Klassiker, allseits anerkannt – und wie es sich für einen richtigen Klassiker gehört – zu wenig gelesen. In der Schweiz wurde sein 125. Geburtstag gefeiert, aber nördlich der Alpen ist das Datum fast geräuschlos vorübergegangen, es erschienen wenige Artikel, es gab einige Sendungen im Radio und ein paar Veranstaltungen, jedoch keinen Rummel wie anlässlich der zurückliegenden Geburtstage von Brecht oder Hesse. Berlin zum Beispiel hat noch immer keinen nach Robert Walser benannten Platz, obwohl diese Stadt für ihn so wichtig war wie Biel oder Bern und obwohl sie ihm einige der zauberhaftesten Schilderungen verdankt. Sollte die Stille um das Jubiläum ein Zeichen dafür sein, dass das Interesse an Walser bereits wieder abflaut? Oder ist sie vielleicht eher ein Qualitätsmerkmal? Walsers Werk und Schicksal widersetzen sich nach wie vor einer hemmungslosen Vermarktung, erst recht einer dröhnenden Vereinnahmung auf Massenveranstaltungen, wie sie bei Dichterjubiläen en vogue geworden sind. Die Wirkung von Walsers Texten entfaltet sich im Verborgenen. Die angemessenste Ehrung für diesen Dichter ist es immer noch, ganz allein mit einem seiner Bücher in der Tasche spazieren zu gehen.


Zum Weiterlesen:

Robert Walser, Sämtliche Werke in zwanzig Taschenbuchbänden. Hrsg. von Jochen Greven. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1998-2002. 148 Euro

Ders., Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme 1924-1932. Hrsg. von Bernhard Echte und Werner Morlang. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003. Sechs broschierte Bände, 2412 Seiten. 78 Euro

Ders., Feuer. Unbekannte Texte aus drei Jahrzehnten. Hrsg. von Bernhard Echte. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003. 141 Seiten, 16,90 Euro

Europas schneeige Pelzboa. Texte zur Schweiz. Hrsg. von Bernhard Echte. Suhrkamp Frankfurt a. M. 2003. 245 Seiten, 23 Euro

Carl Seelig, Wanderungen mit Robert Walser. Bibliothek Suhrkamp 554 Seiten, 14,80 Euro

Jürg Amann, Verirren oder Das plötzliche Schweigen des Robert Walser. Arche Verlag, Hamburg 2003 (Neuausgabe). 124 Seiten, 14,80 Euro

Robert Mächler, Robert Walser. Eine dokumentarische Biographie. Suhrkamp Taschenbuch 3486, revidierte Fassung von 1992. 273 Seiten, 8,50 Euro

Jochen Greven, Robert Walser – ein Außenseiter wird zum Klassiker. Libelle Verlag, Lengwil 2003. 300 Seiten, 24 Euro
(Buchvorstellung am 16. 9. im Literaturhaus, Zürich, Lesungen am 15. 10. in Konstanz und am 24. 10. in Stockach)

Von:
Michael Bienert, Jahrgang 1964, ist Autor mehrerer Bücher über das literarische Berlin und berichtet für das Feuilleton der Stuttgarter Zeitung aus der Hauptstadt. Zuletzt erschien von ihm Eine Stunde Stadt. Berliner Ringbahn-Reise (mit Ralph Hoppe, BerlinEdition im Quintessenz-Verlag).