Der Weg, den die Sprache nimmt

Eine kleine Einführung in Marcel Beyers Schreiben
Von Sandra Hoffmann

“Das ganze vorbereitete Wortmaterial habe ich eigentlich immer hier oben in der Kiste, Kopf, doch manchmal sehr gefährdet, die Bandstimme geht mir verloren, das Material will nicht heraus, als wäre das Band gelöscht, ist mir ein Magnet an der Schläfe entlanggefahren, so daß Laute nicht zu Wörtern werden?”

Obwohl dieser Satz in Marcel Beyers Roman Das Menschenfleisch ziemlich am Ende steht, könnte sein Thema als Exposition, als Leitsatz – oder wechseln wir von der Sprachwelt in die Körperwelt – als Zugpferd auf dem Weg durch diesen und alle weiteren Romane Marcel Beyers, vielleicht sogar durch seine Gedichte und Essays dienen.

Marcel Beyers Texte bewegen sich immer nah an der Sinneswahrnehmung, sie befragen den Körper als Wahrnehmungsorgan und schreiben sich entlang am Tastsinn, Hörsinn, Sehsinn. Dort wo die Fragwürdigkeit der Empfindung, der Zweifel am Gefühlten, Gehörten und Gesehenen beginnt, dort beginnt Marcel Beyers Schreiben.

Besteigen wir also den von unserem Pferd gezogenen Karren. Es ist ein offenes Gefährt, anders als jenes, mit dem Flaubert seine Madame Bovary, weltabgewandt und im Sinnentaumel, herumkutschieren lässt, wir wollen etwas sehen, hören, lesen. Wir fahren in Marcel Beyers Texte.

Aber zuerst noch dies: wir fahren nicht den Marcel-Beyer-Weg, von Südwest nach Nordost, nicht von Tailfingen aus, Donau nah und Alb nah, wo Marcel Beyer 1965 geboren wurde, Richtung Deutschlands Mitte, wo er einige Jahre verweilte, weiter nach Dresden, wo er seit 1996 lebt. Wir nehmen einen anderen Weg, auch chronologisch, aber mitten hindurch durch seine Texte, auf einer Straße, von der aus wir immerzu gleichzeitig in Sprach-, Körper-, und Wahrnehmungsräume, auf Reflexionsebenen und Sinnenwelten schauen können.

Der Roman Das Menschenfleisch ist eine Liebesgeschichte: Ein Ich und ein Du, kurz K. genannt, nähern sich an, immer weiter, bis sie sich lieben, immer mehr, solange bis K. sich wieder entfernt, weil es noch einen anderen gibt, bis Eifersucht die Liebe ablöst. Das Menschenfleisch ist aber genauso ein Roman auf der Suche nach Wörtern für einen Prozess der Annäherung, des Herantastens, Antastens, Eindringens, Ineinanderfallens, Verschlungenseins, des Eins- anstatt Zweiseins, des sich Entfaltens, wieder Auseinanderfallens und schließlich des Getrenntseins. Eine Suche nach Wörtern für Sinneswahrnehmungen, Körperwahrnehmungen und gleichzeitig eine Suche nach dem Weg, den die Sprache nimmt, vom Körper aus hinein in den Kopf und von dort aus hinaus aufs Papier.

In seinem Roman Flughunde von 1995, der während des Nationalsozialismus im Umfeld von Adolf Hitler spielt, erzählt Marcel Beyer die Geschichte des Herrn Karnau, eines begeisterten Stimmensammlers, eines Akustikers, der seine Forschungen nicht nur an Flughunden betreibt, sondern später auch an Menschen. Er erzählt gleichzeitig das ganze Spektrum der sich fügenden und sich widersprechenden Gefühle und Überlegungen der ältesten, aber immer noch kleinen Tochter der Familie Goebbels, zu den sie umgebenden Ereignissen, die sie nicht einzuordnen weiß, aber intuitiv sortiert, vermisst, zusammenfügt und schließlich einfügt in das kleine Stückchen Welt und Leben, in dem sie sich auskennt. Es ist ein Roman, der sich im emotionalen Raum der NS-Zeit, in seinen Untergründen, Innereien und Abgründen bewegt.

Marcel Beyer schreibt in seinem Essay Licht, zu finden in seinem Essayband Nonfiction (2003): “In Flughunde spielen die zentralen, wenn nicht die meisten Szenen unter Ausschluß von Tageslicht [...]. Ich habe dies in erster Linie in einem Zusammenhang mit dem Motiv der Stimme, des Gehörs gesehen. Bei Dunkelheit löst das Gehör das Auge ab [...]. Menschen erkennt man weniger am Gesicht als an der Stimme. Das Bild vom Menschen verändert sich.”

Marcel Beyer ist im Schreiben auf der Suche nach den Geschichten der Geschichte. Oder anders: Er schreibt Geschichten, die die Geschichte wiederbeleben, wiedererwecken oder sie überhaupt erst erlebbar machen. Er schreibt hinein in Lücken, in Hohlräume, in Körper, denen bisher nur eine geringe oder gar keine Bedeutung zugekam. Für gewöhnlich schauen wir auf die Opfer des Nationalsozialismus, und anhand ihrer Schicksale wird uns die Brutalität, das Menschenvernichtende, Menschenverachtende dieses zerstörerischen Regimes deutlich. Mit dem Roman Flughunde wird uns die andere Seite vorgeführt: Marcel Beyer hat es geschafft, sich so in den maßgeblich forschenden, aber damit ebenso unhinterfragt quälenden Stimmenforscher Karnau und in dessen Empfindungen und Empfindlichkeiten hineinzuschreiben, dass wir am Ende nichts entschuldigt und erst recht nichts beschönigt sehen. Mit Herrn Karnau lesen wir ein lebendiges Stück fiktiver Zeitgeschichte.

Ähnlich wie Das Menschenfleisch beschäftigt sich Flughunde mit der individuellen Verarbeitung von Sinneseindrücken in Grenzsituationen und verwandelt sie in Sprache. Doch Marcel Beyer geht darin noch weiter: mit der Hauptfigur des Stimmenforschers macht er Sprechen und Hören, und somit Verlautlichung von Gedanken und Gefühlen und deren Rezeption zu einem zentralen Thema.

Wie nah Körper und Stimme, innen und außen für Marcel Beyer anscheinend zusammenliegen, und wo sich einschreibt, was erlebt wurde oder wo es sich äußert, und wie sehr das eigene Da-Sein, sogar die Bezeichnung für das eigene Ich, davon berührt wird, zeigt sich auch in seinen Gedichten, zum Beispiel in “Wilde Milch” aus dem Band Falsches Futter:

[...] “Historie auch dies: Das Haar wird struppiger,
jedoch die Nägel brechen immer noch, ist:

Sprechen nachts, benetzt, und nie mehr schlafen,
das lässt nicht nach: Die Haut-, die Lautfehler
beim Aufsagen des eigenen Namens” [...]

Schreiben bedeutet auch immer Fokussieren: ein Thema, eine Sache einen Menschen. Das ist gewissermaßen mit dem Ohr, mit dem Auge, sogar mit der Nase möglich, der Autor schließlich fokussiert seinen Gegenstand mit Worten, er versprachlicht, was einmal sinnliche Erfahrung war: Wenn Marcel Beyer in Das Menschenfleisch den ganzen Körper und in Flughunde die Ohren zum Entstehungs-, Reflexions- und Vergewisserungsort der Sprache gemacht hat, so wendet er sich in Spione den Augen zu.

In diesem drittem Roman steht im Vorfeld der Handlung ein Kind, der Ich-Erzähler, an der Tür und schaut, wie ihm die kleine Welt davor durch den Spion besonders nahe rückt. Im Roman werden der Ich-Erzähler, seine zwei Cousinen und sein Cousin zu wirklichen Spionen: sie sind auf der Suche nach einem Leben, auf dem sich das ihre und das ihrer Eltern begründet, dem der Großeltern. Ihr zentrales Hilfsmittel ist ein Familienalbum.

Marcel Beyer seinerseits ist auf der Suche nach der Macht, der Allmacht der Wörter, und fragt, welchen Einfluss sie auf das haben, was im Leben geschieht: “Wer sich darauf versteht, Untote vom Bann zu befreien, wer die Fähigkeit hat Geister von Verstorbenen zu rufen, ist darauf angewiesen, dass alle Beteiligten seinen Worten Glauben schenken. [...] Wer Tote wecken oder Lebende verschwinden lassen will, braucht nichts anderes als Worte.”

Auch wenn wir mit unserem Pferd und Karren nicht den Weg bereisen, den Marcel Beyer von West nach Ost nahm, wir lesen doch über ihn in seinen Texten. 1996 ist Marcel Beyer in den Osten Deutschlands gezogen. In seinem Gedichtband Erdkunde, in dem aus sieben Gedichten bestehenden titelgebenden Zyklus, schreibt er eine Landkarte des Ostens als Neuland herbei, beschreibt den Osten als eine Art “Anderland”, und das lyrische Ich bestaunt die eigene “Ossifizierung”, bis es sich ihr schließlich hingibt, ganz sinnlich, mit Händen, mit Füßen. So heißt es fast zärtlich im vierten Gedicht des Zyklus:

“Über den Kamm. Streiche
Böhmen, streiche Land
mit dem Finger auf der
Karte. Fächer- und

Feuerpalmen, Sumpfzypressen,
Torf, ohne Wattejacke,
ohne Schutzhelm in die
Sprache.” [...]

Einmal mehr bekommt bei Marcel Beyer hier das Wort Kontur, Höhen und Tiefen, wird der Ort befühlbar; in Schwarz auf Weiß gleitet die wirkliche Landschaft hinüber in die Sprache. Dort wird sie betrachtet, befragt, wird Fremdes mit Bekanntem verglichen, wird manchmal zurückgeschaut in Richtung Westen, wird schließlich im fünften Gedicht des Zyklus “Ostpreußenmuster” konstatiert: “So dunkel ist das nicht, ich muß nur länger gucken, weil / ich ein Westkind bin.”

Das “Westkind” ist Bewohner und schließlich heimisch in einer Stadt, die schlimmer als jede andere Großstadt in Deutschland, im wässrigen Sommer 2002, betroffen wurde von einem Hochwasser von entsetzlichem Ausmaß, dessen Wassermenge “alle unterschiedlichen Oberflächenstrukturen zu einer werden läßt, zu einem blanken, glatten Stück Welt”, in dem es nicht mehr um Fragen der Herkunft und auch nicht um solche der Profession geht: “Ganz gleich, ob Schriftsteller oder nicht – hier wurden Sandsäcke geschleppt”, heißt es im Essay “Wasserstandsbericht”, der ebenso wie das einleitende Zitat nachzulesen ist in Marcel Beyers neustem Buch Nonfiction.


Zum Weiterlesen:

Das Menschenfleisch. Roman. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1991. TB, 167 Seiten, 7,50 Euro

Flughunde. Roman. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1995. TB, 300 Seiten, 9,50 Euro

Falsches Futter. Gedichte. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1997. 83 Seiten, 7 Euro

Spione. Roman. DuMont, Köln 2002. 308 Seiten, 20 Euro

Erdkunde. Gedichte. DuMont, Köln 2002. 116 Seiten, 16,90 Euro

Nonfiction. DuMont, Köln 2003. 322 Seiten, 22,90 Euro

Von:
Sandra Hoffmann, Jahrgang 1967, lebt als freie Autorin in Tübingen. 2002 debütierte sie mit schwimmen gegen blond. eine erzählung in 52 tagen im Verlag C.H. Beck. Soeben erschien von ihr “Ich treibe Tierliebe. Zehn Gedichte” in der von Jan Bürger bei Klett-Cotta herausgegebenen Anthologie Ich bin nicht innerlich. Annäherungen an Gottfried Benn.