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Der Weg, den die Sprache nimmtEine kleine Einführung in Marcel Beyers Schreiben “Das ganze vorbereitete Wortmaterial habe ich eigentlich immer hier oben in der Kiste, Kopf, doch manchmal sehr gefährdet, die Bandstimme geht mir verloren, das Material will nicht heraus, als wäre das Band gelöscht, ist mir ein Magnet an der Schläfe entlanggefahren, so daß Laute nicht zu Wörtern werden?” Obwohl dieser Satz in Marcel Beyers Roman Das Menschenfleisch ziemlich am Ende steht, könnte sein Thema als Exposition, als Leitsatz – oder wechseln wir von der Sprachwelt in die Körperwelt – als Zugpferd auf dem Weg durch diesen und alle weiteren Romane Marcel Beyers, vielleicht sogar durch seine Gedichte und Essays dienen. In seinem Roman Flughunde von 1995, der während des Nationalsozialismus im Umfeld von Adolf Hitler spielt, erzählt Marcel Beyer die Geschichte des Herrn Karnau, eines begeisterten Stimmensammlers, eines Akustikers, der seine Forschungen nicht nur an Flughunden betreibt, sondern später auch an Menschen. Er erzählt gleichzeitig das ganze Spektrum der sich fügenden und sich widersprechenden Gefühle und Überlegungen der ältesten, aber immer noch kleinen Tochter der Familie Goebbels, zu den sie umgebenden Ereignissen, die sie nicht einzuordnen weiß, aber intuitiv sortiert, vermisst, zusammenfügt und schließlich einfügt in das kleine Stückchen Welt und Leben, in dem sie sich auskennt. Es ist ein Roman, der sich im emotionalen Raum der NS-Zeit, in seinen Untergründen, Innereien und Abgründen bewegt. Marcel Beyer ist im Schreiben auf der Suche nach den Geschichten der Geschichte. Oder anders: Er schreibt Geschichten, die die Geschichte wiederbeleben, wiedererwecken oder sie überhaupt erst erlebbar machen. Er schreibt hinein in Lücken, in Hohlräume, in Körper, denen bisher nur eine geringe oder gar keine Bedeutung zugekam. Für gewöhnlich schauen wir auf die Opfer des Nationalsozialismus, und anhand ihrer Schicksale wird uns die Brutalität, das Menschenvernichtende, Menschenverachtende dieses zerstörerischen Regimes deutlich. Mit dem Roman Flughunde wird uns die andere Seite vorgeführt: Marcel Beyer hat es geschafft, sich so in den maßgeblich forschenden, aber damit ebenso unhinterfragt quälenden Stimmenforscher Karnau und in dessen Empfindungen und Empfindlichkeiten hineinzuschreiben, dass wir am Ende nichts entschuldigt und erst recht nichts beschönigt sehen. Mit Herrn Karnau lesen wir ein lebendiges Stück fiktiver Zeitgeschichte. Wie nah Körper und Stimme, innen und außen für Marcel Beyer anscheinend zusammenliegen, und wo sich einschreibt, was erlebt wurde oder wo es sich äußert, und wie sehr das eigene Da-Sein, sogar die Bezeichnung für das eigene Ich, davon berührt wird, zeigt sich auch in seinen Gedichten, zum Beispiel in “Wilde Milch” aus dem Band Falsches Futter: [...] “Historie auch dies: Das Haar wird struppiger, Sprechen nachts, benetzt, und nie mehr schlafen, Schreiben bedeutet auch immer Fokussieren: ein Thema, eine Sache einen Menschen. Das ist gewissermaßen mit dem Ohr, mit dem Auge, sogar mit der Nase möglich, der Autor schließlich fokussiert seinen Gegenstand mit Worten, er versprachlicht, was einmal sinnliche Erfahrung war: Wenn Marcel Beyer in Das Menschenfleisch den ganzen Körper und in Flughunde die Ohren zum Entstehungs-, Reflexions- und Vergewisserungsort der Sprache gemacht hat, so wendet er sich in Spione den Augen zu. Auch wenn wir mit unserem Pferd und Karren nicht den Weg bereisen, den Marcel Beyer von West nach Ost nahm, wir lesen doch über ihn in seinen Texten. 1996 ist Marcel Beyer in den Osten Deutschlands gezogen. In seinem Gedichtband Erdkunde, in dem aus sieben Gedichten bestehenden titelgebenden Zyklus, schreibt er eine Landkarte des Ostens als Neuland herbei, beschreibt den Osten als eine Art “Anderland”, und das lyrische Ich bestaunt die eigene “Ossifizierung”, bis es sich ihr schließlich hingibt, ganz sinnlich, mit Händen, mit Füßen. So heißt es fast zärtlich im vierten Gedicht des Zyklus: Feuerpalmen, Sumpfzypressen, Einmal mehr bekommt bei Marcel Beyer hier das Wort Kontur, Höhen und Tiefen, wird der Ort befühlbar; in Schwarz auf Weiß gleitet die wirkliche Landschaft hinüber in die Sprache. Dort wird sie betrachtet, befragt, wird Fremdes mit Bekanntem verglichen, wird manchmal zurückgeschaut in Richtung Westen, wird schließlich im fünften Gedicht des Zyklus “Ostpreußenmuster” konstatiert: “So dunkel ist das nicht, ich muß nur länger gucken, weil / ich ein Westkind bin.” Das “Westkind” ist Bewohner und schließlich heimisch in einer Stadt, die schlimmer als jede andere Großstadt in Deutschland, im wässrigen Sommer 2002, betroffen wurde von einem Hochwasser von entsetzlichem Ausmaß, dessen Wassermenge “alle unterschiedlichen Oberflächenstrukturen zu einer werden läßt, zu einem blanken, glatten Stück Welt”, in dem es nicht mehr um Fragen der Herkunft und auch nicht um solche der Profession geht: “Ganz gleich, ob Schriftsteller oder nicht – hier wurden Sandsäcke geschleppt”, heißt es im Essay “Wasserstandsbericht”, der ebenso wie das einleitende Zitat nachzulesen ist in Marcel Beyers neustem Buch Nonfiction.
Das Menschenfleisch. Roman. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1991. TB, 167 Seiten, 7,50 Euro Von: |
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