Würden sie Eduard Mörike als einen liebenswerten Menschen bezeichnen?

Ein Gespräch mit dem Mörike-Biografen Ehrenfried Kluckert

Ehrenfried Kluckert, 1944 in Hamburg geboren, lehrte nch seiner Promotion im Fach Kunstgeschichte an der PH Reutlingen und als Professor an der Universität Gießen. Heute lebt er als freier Autor im Markgräflerland / Südbaden. Er veröffentlichte unter anderem: Neckarreise.Biographie einer Kulturlandschaft (1999), Gartenkunst in Europa. Von der Geschichte zur Gegenwart (2000), Reise nach Mömpelgard. Kulturgeschichtliche Streifzüge ins schwäbische Frankreich (2001) und zusammen mit dem Fotografen Achim Bednorz Heilige Räume (2002).

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Wie kommt man als Hamburger dazu, eine Mörike-Biografie zu schreiben?

Als Hamburger und als Kunsthistoriker, müsste man hinzufügen. In Tübingen habe ich Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie studiert. Und schon in meinem ersten Semester hat man mir gesagt, ich müsse mir die Mörike-Vorlesung von Gerhard Storz unbedingt anhören, weil der Professor ein Erlebnis sei. Ich habe mit seinen Ausführungen zunächst nicht viel anfangen können. Das Schwäbische war mir sehr fremd. Aber dann habe ich den Maler Nolten und die Gedichte gelesen und war begeistert. So hat mich Mörike seit 1966 / 67 begleitet, und immer wenn ich später kulturgeschichtliche Bücher über die Region geschrieben habe, tauchte Mörike auf, bis ich mich dann entschloss – und das hat Jahre gedauert – eine Biografie zu schreiben …

Hat Ihnen das Schreiben der Biografie den erhofften Spaß gemacht?

Ja, es war eine Erinnerung an die frühen Studienjahre, und ich habe meine ganzen Wege durch Württemberg noch einmal erlebt mit den Klängen seiner Gedichte, den Motiven seiner Erzählungen und seines Romans. Das hat großen Spaß gemacht. Die kognitive Seite war anstrengend: ich musste auf den neuesten Stand der Mörike-Forschung kommen, die Briefe lesen ... eben alles recherchieren. Aber es wurde mir andererseits leicht gemacht, weil in Marbach die Mörike-Schätze einem zu Füßen liegen. Außerdem traf ich dort so hilfreiche und freundliche Menschen wie Hans-Ulrich Simon im dortigen Mörike-Archiv oder den Mörike-Forscher Reiner Wild in Mannheim. Sie haben mir nicht nur geholfen, sondern mich auf Wege geschickt, die ich sonst nicht beachtet hätte – und sie haben mich über die leidigen Mörike-Legenden aufgeklärt.

Welche Art von Biografie hatten Sie sich denn vorgenommen?

Freundschaftsdienst! Das heißt, ich schätze Mörike, ich habe große und tiefe Empfindungen für ihn. Mörike als Freund betrachten, heißt ihn gelten lassen, ihn respektieren, aber nicht bewerten und nicht belehrend über sein Werk reden. Also keine Noten verteilen!

Kann man denn aus den Quellen und Legenden die wirkliche Person herausschälen?

Die Legenden lassen wir lieber! Was ist objektiv? Das ist eine philosophische Frage. Ich nähere mich Mörike eben auch über Gefühle, Sympathien und Antipathien. Wie soll ich ihn objektiv darstellen? Ich glaube, das ist unmöglich. Durch die Arbeit von Hans-Ulrich Simon, der die Briefe herausgegeben und kommentiert hat, wird einem die Möglichkeit geboten, Mörike in seiner Zeit zu orten. Mörike wird fassbar.

Wie hatten Sie sich Mörike vor der Arbeit an der Biografie vorgestellt?

Ich mag’s kaum sagen, mein erstes Vorstellungsbild – durch Storz ein wenig vorbereitet – war der idyllische Landpfarrer. Das ist, wie schon Hesse gesagt hat, eine gründlich erlogene Fabel. Man kommt durch die Arbeit zu einer erfrischenden Ernüchterung, entdeckt allmählich einen Künstler, Poeten und einen großartigen, liebenswerten Menschen. Wenn man ihn als Freund gehabt hätte, wäre man glücklich gewesen, viele haben ja um seine Freundschaft gebuhlt …

Würden sie Mörike wirklich als einen liebenswerten Menschen bezeichnen?

Unbedingt, und als einen empfindsamen, einfühlsamen Menschen, der sich um seine Umgebung gekümmert hat, um das Wohl der kranken Schwiegermutter rührend bemüht war, seine Kinder über alles geliebt hat. Ja, Mörike war ein liebenswerter Mensch ...

Es gibt auch ganz andere Stimmen; Wilhelm Raabe hat ihn als „quabbbelige faule Natur“ verachtet, Theodor Storm musste zehn Jahre auf einen Antwortbrief warten, mit Hermann Kurz gab es politische Auseinandersetzungen und mit Wilhelm Hartlaub Streit wegen der katholischen Ehefrau Margarethe …

Aber sie haben ihn alle geliebt: Storm hat ihn verehrt und alles nachgesehen, Raabe hat später zutiefst bedauert, Mörike nicht kennengelernt zu haben, Kurz hat sich abgesetzt, weil er ihn für unpolitisch hielt, was übrigens nicht stimmt, und dann gab es die Altersfreundschaft mit Moritz von Schwind, die einzige, die Mörike selbst gesucht hat.

Wie haben Sie die Biografie aufgebaut?

Ganz konventionell: mit der Geburt beginnend und mit dem Tod endend. Ich habe versucht, Mörike durch sein Leben zu begleiten, das Ambiente mit seinen Augen zu sehen, wie er als Kind in Ludwigsburg gespielt hat, wie er nach Urach kam, dann ins Tübinger Stift. Ich habe versucht, immer an seiner Seite zu sein, aus seiner Perspektive die Welt zu sehen und zu begreifen. Dadurch wird auch die Interpretation seiner Gedichte und Novellen viel transparenter und plastischer.

Bei einer Biografie stellt sich die Frage des Umgangs mit Nähe und Distanz: wie nah kann man seinem Protagonisten kommen, wie diskret muss man sein, um nicht Intimes auszuplaudern?

Das war insofern kein Thema, weil Mörike in allen seinen Äußerungen niemals Intimität und Nähe hat aufkommen lassen, es war immer eine Distanz da. An keiner Stelle seiner Aufzeichnungen hätte ich Skrupel gehabt, diese zu zitieren.

Gibt es darum so viele Legenden?

Viele sehen in Mörike einen merkwürdigen Menschen. Mag sein. Für mich ist er nicht merkwürdig. Er ist viele Schleifen in seinem Leben gegangen, und manch einer mochte sich gefragt haben, ob der Mörike einem nicht etwas vorenthalten hat. Möglich, dass das Legendenbildungen förderlich war.

Waren Sie selbst in der Versuchung, Leerstellen zu füllen? Zu erfinden, wie etwas gewesen sein könnte?

In Versuchung schon. Ich hatte lange Gespräche mit Hans-Ulrich Simon. Es ging unter anderem um die Josephine-Geschichte in Scheer. Hinreißende Gedichte, erotische Gedichte. In seinen Briefen ist von dem Mädchen allerdings keine Rede. Josephine hat er, so heißt es, auf der Orgelempore in der wunderschönen Barockkirche in Scheer kennengelernt. Ich habe mir vorgestellt, dass er in Scheer seine ersten rauschenden Liebesnächte genossen und dass er im katholischen Scheer die Lebenslust kennengelernt hat, die ihm im protestantischen Schwaben versagt war. Josephine, die Tochter des Organisten und Lehrers? Nein! Simon hat nur geschmunzelt, nachweislich hatte der Organist gar keine Tochter. Also war Josephine die Tochter des Bäckers oder Fleischers. Ist ja völlig egal, sie haben sich umarmt und „die Füße und die Köpfe zusammengelegt“, wie Thomas Mann sagte.

Gibt es Fakten, die Sie entdeckt haben und zum ersten Mal veröffentlichen?

Nein, ich habe nur Gedanken weitergesponnen und durch Dokumente abgesichert. Was ich vielleicht anders sehe, ist die Geschichte mit Luise Rau, die ja immer als ein bisschen dümmlich dargestellt wird, als eine, die dem großen Dichter nicht das Wasser reichen kann. Wenn man den Briefwechsel liest, von dem ja leider nur Mörikes Briefe vorhanden sind, dann hat er sein Poetenleben vor ihr ausgebreitet, während sie gehofft hat, einmal einen Pfarrer zu heiraten, um eine Familie mit vielen Kindern zu gründen. Genau diesem Wunsch ist er nicht gerecht geworden. In all seinem Tun und Streben war er Dichter. Die arme Luise war enttäuscht, sie hat ihn geliebt, aber sie war weder ein Dummerchen noch ihm zu wenig, sie hat einfach gesehen, dass ihre Lebensvorstellung an seiner Seite nicht realisierbar war.

Sie möchten also nicht Partei ergreifen, sondern die unterschiedlichen Interessen und Erwartungen darstellen. Wie sehen Sie die Ehefrau Margarethe?

Das ist eine ganz schwierige Frage, ich würde sagen, sie war eine strenge Katholikin, die gemerkt hat, dass seine soziale Umgebung in Stuttgart nicht ihre Welt war, und sie hat sich ihren eigenen katholischen Bekanntenkreis aufgebaut, der diametral dem von Mörike gegenüberstand, sie hat sich zurückgezogen, und so ist die Beziehung auseinandergegangen. Als dann die Kinder zur Welt kamen, gab es große Streitereien bezüglich der Erziehung und des zukünftigen Lebensglücks der Töchter. Aber die Zeugnisse zeigen, wie Mörike sich väterlich rührend um sie gekümmert hat, er muss ein toller Vater gewesen sein, und er hat sich um die Einrichtung der Wohnungen Gedanken gemacht, um jedem Familienmitglied seinen Platz zuzuweisen. Sich selbst hat er oft genug zurückgestellt.

Damit wären wir bei der Schwester Klara, die ja immer zur Familie gehörte …

Mörike ist in einem Frauenhaushalt groß geworden, seiner älteren Schwester Luise war er fast hörig, und wie man in Briefen und Gedichten merkt, beinahe befreit, als sie starb. Dann ist er mit seiner Mutter und der jüngeren Schwester Klara nach Cleversulzbach gezogen, sie haben ihm den Haushalt geführt. Gut für Mörike, der auch als Pfarrer nicht gerade fleißig war, er hat lieber gedichtet, ist in der Gegend herumgegangen und hat sich schöne Gedanken gemacht.

Die Lebensumstände haben ihn mit seiner Schwester auf natürliche Weise zusammengeschmiedet, und deshalb ist er dieser „Lebensgefährtin Schwester“ treu geblieben, ganz selbstverständlich, die Wohnverhältnisse waren eben nicht so, dass man auseinandergehen konnte, und sie hatten ja nie viel Geld. Klara war einfach am längsten mit Mörike zusammen.

Das war jetzt der Aspekt „Mörike und die Frauen“, wenn wir Maria Meyer mal weglassen. Welche Rolle spielt in Ihrer Biografie das Werk?

Der Schwerpunkt liegt auf dem Leben, eine eingehende Werkinterpretation überlasse ich den Spezialisten. Ich habe mich mit der Dichtung insofern intensiv auseinandergesetzt, um darin ein Modell für Mörikes Leben zu entdecken, ich meine die poetischen Kunstgestalten seines Lebens und seines Lebensraumes. Ich möchte sogar behaupten, dass Mörike vielleicht der einzige Poet seiner Zeit gewesen ist, der zuweilen mit einer atemberaubenden Artistik die Exotik der Nähe beschrieben hat, und zwar nicht unbedingt und ausschließlich "idyllisch-ländlich", sondern in poetischen Formulierungen, Motiven und Bildern, die einzigartig in der literarischen Landschaft des 19. Jahrhunderts stehen.

Gibt es Zeiten in Mörikes Leben, die Ihnen besoders wichtig sind, und die im Buch einen besonderen Stellenwert haben?

Natürlich ist die Stuttgarter Zeit unter literarischen Aspekten wichtig. Stellen Sie sich vor, Fontane soll gesagt haben, Storm sei der norddeutsche Mörike. Mörike war ein poetisches Schwergewicht, um das einmal salopp zu sagen. Das bezieht sich also auf die Stuttgarter Zeit. Und es ist Tübingen, vielleicht weil ich ebenfalls dort studiert habe. In der Tübinger Zeit sind unglaubliche Sachen passiert, sein Bruder August hat Selbstmord begangen, sein Freund Wilhelm Waiblinger hatte die verhängnisvolle Affäre mit der wunderschönen Julie. Mörike verliebte sich in Maria Meyer. Dann das Studentenleben, die Trinkgelage in der Beckbeckei. Nebenbei hat er studiert – mit mittelmäßigem Erfolg –, „Orplid-Visionen", Gedichte geschrieben, Konzepte für Erzählungen angefertigt – Mörike in Tübingen! Das wäre ein eigenes Buch…

Sie haben das Werk gelesen, die Briefe, die älteren Biografien, haben Bilder betrachtet, haben Sie auch die Lebensstationen besucht?

Ja, das war eine wichtige Voraussetzung. Ich hatte glücklicherweise vom Verlag auch den Auftrag, die Orte zu fotografieren, und war überall, in der Barockkirche in Scheer, im Mönchshof in Urach, an den authentischen Plätzen in Bad Mergentheim, Schwäbisch Hall ... In Stuttgart habe ich das "Neo-Hutzelmännlein" aufgesucht.

Und nun besuchen Sie alle Orte wieder, um dort Ihr Buch und Mörikes Bedeutung vorzustellen. Wie erreichen Sie das Publikum?

Ich stelle mir immer die Frage, wo hole ich die Leute ab. Mein Entrée könnte folgendermaßen lauten: Goethe verehrt man, aber Mörike liebt man. Auf dieser Ebene versuche ich ihn zu präsentieren. Über das Leben kommt man zum Werk, und das Werk öffnet Fenster für sein Leben. Und wenn man aus seinen Briefen zitiert, sieht man, wie er sein Leben poetisch gestaltet hat. Seine Freunde Vischer, Strauß oder Kerner haben behauptet: Mörike führe ein poetisches Leben wie keiner von uns.

Haben Sie selbst ein konkretes Bild der Person Mörike?

Mörike steht vor mir: ein mittelgroßer Mann, in meinem Alter, Ende fünfzig, mit traurigem Gesichtsausdruck, die Mundwinkel so hängend, dass man sie unterm Kinn zusammenbinden kann. Dann aber hellt sich sein Gesicht auf. Mörike, ein witziger, humorvoller, herzensguter Mensch. Ich könnte mir vorstellen, ihm zu begegnen. Er schaut traurig drein. Doch dann lachen seine Augen und er scherzt – zusammen suchen wir das nächste Gasthaus auf …


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Das Gespräch führte Irene Ferchl

Zum Weiterlesen:
Ehrenfried Kluckert, Eduard Mörike. DuMont Verlag, Köln. Ca. 450 Seiten mit ca. 40 Abb. 24,90 Euro.

Die Buchvorstellung findet am 3. Februar im Literaturhaus Stuttgart zusammen mit der CD-Präsentation von Peter Schindlers Mörike-Vertonungen „So ist die Lieb“ statt.

Die nächsten Lesungen / Vorträge von Kluckert sind am 7. 2. in Bad Urach, am 10. 2. in Ludwigsburg; weitere Termine gibt es im März, Mai und Juli. Kontakt: ekluckert@gmx.de.

Infos unter www.donzelli-kluckert-verlag.de (Projekt "Mörike")