Ausgabe: März/April 2004 


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"Das Auge bringt den Menschen in die Welt, das Ohr die Welt in den Menschen."

Hörbücher, Hörspiele
Von Peter Jakobeit


Das Sprichwort drückt etwas aus, was in unserem Zeitalter des Visuellen gerne vergessen wird: Hören ist der Primärsinn des Menschen. Studien belegen eindeutig, dass taub geborene Kinder in ihrer geistigen Entwicklung sehr viel stärker beeinträchtigt sind als blind geborene. Oder als Erfahrung aus dem Alltag: Wer früh aufstehen muss, verlässt sich kaum auf die Weckkraft des aufkommenden Tageslichts, sondern stellt einen Wecker – das Ohr schläft nicht. Wir tragen da ein Stück Evolutionsprinzip mit uns herum, das sehr sinnvoll war. Der schlafende Mensch ist schutzlos, sein Gehörsinn aber warnt ihn auch in diesem Bewusstseinszustand vor kommender Gefahr. Daher ist leicht einzusehen, dass Gehörtes selbst in anderen Zusammenhängen den Menschen unmittelbarer erreicht als Gesehenes, Geschmecktes, Ertastetes.

Vor diesem Hintergrund staunt man fast ein wenig, dass das Hörbuch erst seit einigen Jahren “marktgängig” ist. Angebote gab es ja schon viel früher: seit reproduzierbare Tonaufzeichnungsverfahren existieren, wurden neben musikalischen Aufnahmen, die ja einen Siegeszug ohnegleichen angetreten haben, immer wieder Lesungen aufgenommen. Aber sebst wenn die beeindruckend vorlesenden Schriftsteller wie Karl Kraus, Joachim Ringelnatz und Thomas Mann oder die professionellen Sprecher Gustaf Gründgens, Will Quadflieg und Gert Westphal rezitierten – Tondokumente mit Rezitationen oder Lesungen konnten den Status eines Objekts für Liebhaber nie überwinden.

Es könnte mit der Rezeptionsgeschichte des Lesens zusammenhängen (“Lesen ist ein einsames Geschäft”), das der konservierten Autoren- oder Textbegegnung die Aura von etwas Zusätzlichem, mithin Entbehrlichem anhaftete.

Wie auch immer, die Geschichte des Hörbuches beginnt nicht mit den zum großen Teil bis heute hörenswerten historischen Produktionen der Deutschen Grammophon, sondern mit dem USA-Aufenthalt eines gewissen Erich Schumm, während dem er diese Form der Literaturweitergabe als ein längst erfolgreiches Produkt entdeckte. 1978 gründete er den Verlag Schumm Sprechende Bücher als ersten deutschen Hörbuchverlag. Nach einem Besitzerwechsel firmiert er heute unter steinbach sprechende bücher und zählt, als eher kleines, unabhängiges Unternehmen, dennoch zu den fünf größten Anbietern von Hörbüchern in Deutschland.

Aber auch das war noch nicht der Durchbruch für eine Entwicklung, deren vorläufiges Ende wir heute in fast jeder Buchhandlung sehen können: die separate Hörbuchabteilung.

Im Jahr 1993 hatten einige Leute das richtige Gespür, als sie den heutigen Marktführer gründeten: den Hörverlag. Vieles musste zusammenkommen und kam zusammen, um diese Erfolgsgeschichte zu schreiben: Die Entscheidung, den Buchhandel zum Vertriebsweg zu machen, die Idee, Buchverlage als Gesellschafter mit ins Boot zu nehmen, die Art der Werbung und manches mehr. Aber all dies hätte auf Dauer möglicherweise nicht so sehr gefruchtet, wenn nicht eine einzige weitere Entscheidung gefallen wäre: den Roman Harry Potter und der Stein der Weisen von Rufus Beck vorlesen zu lassen. 1999 kam dieses Hörbuch, bestehend aus 6 MCs, auf den Markt, löste zuerst den Boom auf die Potter-Vertonung aus und lenkte später den Blick einer erstaunten Öffentlichkeit auf das mittlerweile schon ganz ordentliche Angebot an Hörbüchern in Deutschland. Jetzt erst waren Hörbücher, weil wirtschaftlich interessant geworden, ein Thema für die Medien – analog übrigens zu Jane Rowlings Harry Potter-Büchern. Erst als Band 3 erschien, bemerkten die wichtigen Magazine und Feuilletons, dass da bereits Erstaunliches geschehen war und berichteten groß.

Nun waren natürlich Begehrlichkeiten geweckt, jeder wollte ein Stück vom neuen Kuchen abbekommen. Verlage gründeten sich neu, Buchverlage erweiterten das Angebot um Tonträger, Rundfunkanstalten suchten Partner, um ihre riesigen Archive mit Hörspielen verwerten zu können. Heute gibt es eine enorme Vielfalt an Produkten und Anbietern.

Bei den aufwendigen Produktionen ist sicher ganz zuvorderst das Hörspiel Der Herr der Ringe zu nennen, das Opus magnum von J.R.R. Tolkien, das seine Bedeutung schon allein dadurch beweist, dass es sowohl als Buch, als Hörbuch wie als Film funktioniert. Das Hörspiel ist dabei von ausgesuchter Fein- und Schlichtheit. Ganz wenig Effekte, sparsame musikalische Umrandung, geradezu minimalistische akustische Symbolik. Ohne Übertreibung: ein Meisterwerk. Ein kleines Aperçu am Rande: Dieses Hörspiel kann man zwar im Buchhandel erwerben, aber leider nicht mehr im Radio hören. Der SWR, als Rechtsnachfolger des seinerzeit als Produzent fungierenden SDR, kann es sich angesichts der enormen auf ihn zukommenden Honorar- und Rechteforderungen eingestandernermaßen nicht leisten, diesen Meilenstein der Rundfunkgeschichte ein weiteres Mal in Fortsetzungen zu senden.

Auf der gleichen Qualitätsstufe steht ein Hörspiel von Valerie Stiegele: Thomas Manns Der Zauberberg. Auch hier, und vielleicht ist das ja das Geheimnis, wird die Wirkung durch Reduktion erzielt. Ein äußerst sparsamer Einsatz aller Techniken, einschließlich der verhaltenen Stimmen schaffen die vorherrschende Stimmung von Ungewissheit. Mit Udo Samel und Konstantin Graudus sind, ein entscheidender Kunstgriff, gleich zwei verschiedene Erzähler eingesetzt, was dem gesamten Hörspiel eine eigenartig vorwärtsdrängende Dynamik verleiht.

Als Drittes seien die vertonten Tagebücher von Victor Klemperer genannt, bei deren Lesung wiederum Udo Samel es schafft, in kunstvoll gleichmütiger Stimmlage gleichzeitig die Resignation des Tagebuchschreibers angesichts der von ihm vorhergesehenen Unabwendbarkeit der kommenden Gräuel auszudrücken und im selben Atemzug die souveräne geistige – und damit letztlich entscheidendende – Überlegenheit des Intellektuellen über den stumpfsinnigen, dumpfbackigen Nazifuror zu beweisen.

Erwähnen muss man, weil so perfekt, gekonnt und berührend gesprochen, Senta Bergers leicht wienerische Version von Arthur Schnitzlers tragischem Monolog Fräulein Else.

Hat die kurze Geschichte des Hörbuches bei uns schon einige “Klassiker” hervorgebracht, so verwundert es nicht, dass bereits heute “Stars” zum Erfolg einzelner Produktionen maßgeblich beitragen. Es sind dies oft, aber beileibe nicht immer, bekannte Schauspieler. Hannelore Hoger, Manfred Krug, Martin Semmelrogge, Senta Berger, Hans Zischler oder Frank Arnold, die Liste ist lang. Aber die Gattung hat auch eigene Interpreten hervorgebracht: Will Quadflieg und Gert Westphal als sozusagen Altmeister des Hörbuchs. Neuere Entdeckungen sind beispielsweise Rufus Beck, Felix von Manteuffel und, sicher der Erfolgreichste von allen, Christian Brückner, den die meisten zuvor nur als deutsche Synchronstimme von Robert de Niro kannten.

Darüber hinaus gibt es aber auch AutorInnen, die ihre eigenen Werke selbst kompetent und gekonnt vortragen. Es hat natürlich einen eigenen Reiz, die Verfasser der Texte zu hören. Urteilen Sie selbst, ob Wiglaf Droste sich so schräg anhört, wie seine Texte sich lesen. Bei Raoul Schrott bemerkt man, dass seine warme Stimme mit der immer durchzuhörenden tirolerischen Färbung dem Vortragen alter Lyrik durchaus nicht abträglich ist. Und wer glaubt, die Lektüre von Sven Regeners Roman Herr Lehmann sei an Komik nicht zu übertreffen, höre doch einmal in die (leider gekürzte) Hörfassung hinein.

Eine Ausnahmestellung hat zweifellos Elke Heidenreich: sie liest sowohl eigene Werke als auch Texte anderer Schriftsteller. In diesem Frühjahr liegt ihr offensichtlich vor allem William Shakespeare am Herzen, sie spricht in zwei Produktionen, der Geschichten-Box, einer Mischung aus Dramen-Rezitation und Nacherzählung, sowie einer Macbeth-CD.

Zur Zeit herrscht auf dem Hörbuchmarkt eine erfrischende Vielfalt, mehr als 6000 Titel (CDs und Kassetten) sind lieferbar. Aber es ist wohl zu erwarten oder vielmehr zu befürchten, dass hier in naher Zukunft die übliche “Marktbereinigung” stattfinden wird. Kleinere Labels, unabhängige Verlage werden es schwer haben gegen Konzerntöchter oder Ableger von Großverlagen. Man muss schon sehr optimistisch sein, um zu glauben, dies täte der Qualität insgesamt keinen Abbruch. Es ist hier wie überall: die Quote entscheidet. Und merkantiler Erfolg sowie künstlerischer Anspruch gehen eben nicht immer zusammen.

Aber noch ist es nicht soweit, die Frühjahrsprogramme der Verlage präsentieren sich erfreulich reichhaltig. Ein paar Produktionen sollen hier erwähnt werden, mit der deutlichen Aufforderung an die LeserInnen, in den Buchhandlungen nach den Publikumsprospekten zu fragen. Der Fundus ist groß, man kann sich regelrecht als Schatzsucher, besser als Schatzheber fühlen – und sich damit auf längere Autofahrten, größere Mengen von Bügelwäsche oder einfach entspannte Stunden auf der Couch freuen.

Der oben schon erwähnte Hörverlag beschenkt uns mit einer echten Preziose: Dickie Dick Dickens. Der gefährlichste Mann, den Chicagos Unterwelt je ausspuckte. Vielleicht klingelt es jetzt bei manchen? Ja, stimmt: seit 1957 strahlte der Bayerische Rundfunk mehrere Dutzend Hörspielfolgen dieser Krimisatire aus.

Gerüchteweise soll es deswegen früher zu regelmäßigen Besuchen bei ansonsten nicht so geliebten Nachbarn gekommen sein, nur weil diese einen Radioapparat besaßen. Hört man heute in diese mehr als vierzig Jahre alten Sendungen hinein, ist man verblüfft angesichts der vollkommenen Frische der Inszenierung. Dickie Dick Dickens ist eine der köstlichsten Parodien auf ein Genre, das sich selber manchmal ein wenig zu ernst nimmt.

Unbedingt anhören sollten sich Interessierte auch eine neue CD aus dem Freiburger AUDIOBUCH Verlag: Der Feuerreiter versammelt klassische deutsche Balladen. Neben dem Titel gebenden dramatischen Gedicht Eduard Mörikes finden sich unter anderen die Droste mit “Der Knabe im Moor”, Schillers “Der Handschuh” oder Goethes “Totentanz”. Allesamt bekannte Werke, kreisend um Düsternis, Tragik und Tod. Die Darbietung der Texte aber ist neu. Tosende Musikkaskaden, filigrane Geräuscheffekte, atemlose Stille, zusammengehalten von Joachim Kerzel, einem Sprecher, der in Erinnerung bleibt. Man mag einwenden, dass hier von allem ein wenig zu viel geboten wird, dass die Gedichte diesen Aufwand nicht bräuchten, dass es irgendwie immer nach großem Kino klänge. Mag sein, fest steht aber auch, dass im Zusammenwirken all dieser Elemente die Texte plötzlich zu leuchten beginnen, um eine Dimension erweitert werden und man sie dadurch leichter begreift.

Es wird immer mehr üblich, für Hörbücher eine eigene, gekürzte Fassung des betreffenden Buches zu nehmen. Deutsche Grammophon Literatur und steinbach sprechende Bücher machen diese Entwicklung bisher glücklicherweise kaum mit. Demzufolge kommt hier Theodor Fontane in gebührender Vollständigkeit zu Wort; sein Roman Schach von Wuthenow, gesprochen von dem unvergessenen Gert Westphal, kommt im Juli auf den Markt.

Ob Paulo Coelhos Elf Minuten oder Die große Hörbibel mit dreißig Stunden Spieldauer, ob Nietzsches Zarathustra (beim wirklich feinen Label Onomato), Neues von Robert Gernhardt oder Strittmatters Roman Der Laden, vom Autor selbst gelesen – die Auswahl ist riesig und die Qualität stimmt zumeist. Eines darf natürlich nicht unerwähnt bleiben: Soeben ist der neue Harry Potter erschienen, gelesen wieder von Rufus Beck auf 27 CDs.

Was hätte Heinrich Heine wohl über Hörbücher gedacht? Oder in seinem späten Gedicht “Zur Theleologie” geäußert, wo es heißt:

“… Ohren gab uns Gott die beiden
Um von Mozart, Gluck und Haydn
Meisterstücke anzuhören –
Gäb es nur Tonkunst-Kolik
Und Hämorrhoidal-Musik
Von dem großen Meyerbeer,
Schon ein Ohr hinlänglich wär.”

Das aktuelle Reservoir an Hörbüchern rechtfertigt in jedem Falle zwei Ohren pro Kopf.

Zum Weiterhören:

Der Feuereiter, Balladen. Gelesen von Joachim Kerzel. Audiobuch. 16,90 Euro

Rolf und Alexandra Becker, Dickie Dick Dickens. Der Hörverlag. 29,95 Euro

Die große Hörbibel. Deutsche Bibelgesellschaft. 99,90 Euro

Paulo Coelho, 11 Minuten. Gelesen von Markus Hoffmann und Nadja Schulz-Berlinghoff. steinbach sprechende bücher. 26 Euro

Theodor Fontane, Schach von Wuthenow. Gelesen von Gert Westphal, Deutsche Grammophon Literatur. 36 Euro

Robert Gernhardt, Blanket Creak oder Verwilderte Wünsche. Gelesen vom Autor. AUDIOBUCH. 22,90 Euro

Elke Heidenreich und Tom Krausz, Macbeth, Schlafes Mörder. Random House Audio. 18 Euro

Victor Klemperer, Zeugnis ablegen. Gelesen von Udo Samel. Der <audio></audio>Verlag. 34,95 Euro

Karl Kraus liest eigene Schriften. Hörsturz. 18,90 Euro

Thomas Mann, Der Zauberberg. Hörspiel. der Hörverlag. 49,95 Euro

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I – IV. Gelesen von Axel Grube. Onomato. 39,90 Euro

Joanne K. Rowling, Harry Potter und der Orden des Phönix. Gelesen von Rufus Beck. der Hörverlag. 99 Euro

Arthur Schnitzler, Fräulein Else. Gelesen von Senta Berger. Kein & Aber. 19,90 Euro

William Shakespeare, Geschichten-Box. Gelesen von Walter E. Richartz, Urs Widmer, Elke Heidenreich, Bernd Rauschenbach und Otto Sander. Kein & Aber. 98 Euro

Erwin Strittmatter, Der Laden. Gelesen vom Autor. Der Audio Verlag. 29,95 Euro

J. R. R. Tolkien, Der Herr der Ringe. Hörspiel. der Hörverlag. 49,95 Euro


Von:
Peter Jakobeit, geboren 1955, führt eine Buchhandlung in Renningen und schreibt seit vielen Jahren das Rätsel im Literaturblatt. Außerdem ist er seit langem ein begeisterter Hörbuch-Hörer.


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