Chrüz und quer

Literarische durch Zürich und Basel
Von Ute Harbusch


"Zürich! Lachen würdest Du. Im Café Odeon verkauft ein Mann S t a d t p l ä n e. Ein Drittel (höchstens) sind Schweizer, ein Drittel Flüchtlinge, ein Drittel Spitzel für das Reich", schrieb Erika Mann am 18. April 1933 nach Deutschland. Da wohnten Katja und Thomas Mann noch in München, während sie selbst mit ihrem Bruder Klaus schon in die Schweiz emigriert war, um die Ausreise der Eltern vorzubereiten. Diese kamen dann Ende September nach und bezogen eine standesgemäße Villa in Zürich-Küsnacht. Die genaue Anschrift: Schiedhaldenstraße 33. Ob Erika dem Mann im Café Odeon wohl einen seiner Pläne abgekauft hat, für sich oder für die Eltern? Denn natürlich brauchten die zahllosen Exilanten aus dem nationalsozialistischen Deutschland, die in Zürich eine zeitweilige, dauerhafte oder letzte Bleibe fanden, Stadtpläne zur Orientierung in der neuen Umgebung. Aber wahrscheinlich hat sich keiner von ihnen träumen lassen, dass dereinst eigens Stadtpläne gedruckt würden, auf denen ihre Häuser und Wohnungen, ihre Treffpunkte und Cafés und nicht zuletzt ihre Grabstätten verzeichnet sind.

Arlette Kosch hat einen solchen literarischen Stadtplan von Zürich zusammengestellt, der sich allerdings nicht auf die Immigranten beschränkt, sondern mehrere Jahrhunderte Zürcher Literaturgeschichte umgreift, von dem Minnesänger Johannes Hadlaub und der Mystikerin Elsbet Stagel bis zu heute in Zürich lebenden Autoren wie Jürg Amann, Franz Böni oder Reto Hänny. 129 Männer und 21 Frauen, von Joseph Addison und Hans Arp bis Heinrich Zschokke und Stefan Zweig, von Ingeborg Bachmann und Emmy Ball-Hennings bis Aglaja Veteranyi und Laure Wyss, werden mit ihren Wohn-, Aufenthalts- und Wirkungsorten verzeichnet und mit ihren Bezügen zur Stadt in lebendigen Porträts vorgestellt. So kann man die Straßen durchstreifen (oder ersatzweise den Finger auf der Karte wandern lassen) und sich nicht genug wundern über die topographischen Zufälle der Geschichte. Steigt man zum Beispiel von der Niederdorfstraße her die berühmte Spiegelgasse hinauf, kommt man gleich an mehreren literarhistorisch interessanten Adressen vorbei: In Nr. 1 hatte das „Cabaret Voltaire“ seinen Sitz, das 1916 die Geburtsstunde des Dadaismus erlebte (und nach langjähriger Nutzung als Diskothek jüngst zu einer Apotheke umgebaut werden sollte, wegen Protesten nun aber doch als „Dada-Haus“ mit Ausstellungen und Veranstaltungen geplant ist); linker Hand in Nr. 11 erinnert eine Gedenktafel an den Theologen und Physiognomiker Johann Caspar Lavater, zu dessen Haus im 18. Jahrhundert das ganze gebildete Europa pilgerte, darunter auch Johann Wolfgang Goethe und Jakob Michael Reinhold Lenz; die Nr. 23 etwas weiter oben war eine der zahllosen Zürcher Wohnungen von Robert Walser, der dort um 1904 / 05 Teile von Fritz Kochers Aufsätzen schrieb; auf der anderen Straßenseite in Nr. 12 fand 1836 der Asylant der „Sonder-Classe“ Georg Büchner eine spärlich möblierte Unterkunft, bevor ihn die Zürcher Universität zum Privatdozenten für vergleichende Anatomie ernannte; im Nachbarhaus schließlich, der Nr. 14, mietete sich 1917 Wladimir Iljitsch Lenin mit seiner Frau bei Schuhmacher Kammerer ein, um sich mit den schweizerischen Sozialdemokraten zu verbünden und in der Zentralbibliothek für sein Buch Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus zu arbeiten.

Zu- und Zusammenfälle dieser Art erschließt der Literaturführer Basel, den Matthyas Jenny herausgegeben hat, nicht so ohne weiteres. Warum nicht? Wahrscheinlich, weil hier zur Orientierung wie zur gedanklichen Verknüpfung der Stadtplan fehlt. Gut 80 Autorinnen und Autoren, „deren Wirken in Bezug zu Basel steht“, werden in Kurzbiographien vorgestellt, streng alphabetisch sortiert. Da bleibt es dann schon eher dem Zufall überlassen, ob man bemerkt, dass Rolf Hochhuth sich in genau jenem Haus niederließ, in dem fünfhundert Jahre zuvor schon Sebastian Brant, der Verfasser des Narrenschiffs, gewohnt hatte, nämlich in der Augustinergasse 1. Ein Viertel der Porträtierten sind Frauen; dabei 14 lebende SchriftstellerInnen, ein anderer Schwerpunkt liegt naturgemäß auf dem Basler Humanismus. So erfährt der Leser beispielsweise, dass Erasmus von Rotterdam im Jahr 1515 nach Basel reiste, um sich die Arbeit des Druckers Johannes Froben näher anzusehen. Der geschäftstüchtige Mann hatte Erasmus‘ Adagia in einem Raubdruck herausgebracht, der den Gelehrten einerseits ärgerte, andererseits aber wegen seiner fachlichen Qualität beeindruckte. Erasmus stieg in Frobens Haus „zum Sessel“ ab und lernte die dort um den Drucker versammelten humanistischen Kreise schnell schätzen. So blieb er schließlich fast zwei Jahre und vertraute Froben viele seiner Werke an, darunter die Hieronymus-Ausgabe und die Edition des griechischen Neuen Testaments. Zwei Jahrzehnte später wurde der große Gelehrte im Basler Münster beigesetzt, Frobens Haus „zum Sessel“ aber, am Totengässlein 3 in der Nähe des Marktplatzes gelegen, ist heute nur noch ein vergessener Hinterhof, in dem einsam ein Brunnen plätschert.

Doch kehren wir wieder nach Zürich zurück. Verborgene und verschüttete Spuren freizulegen, hat sich ein Führer etwas anderer Art zum Ziel gesetzt, der „Sieben Frauenstadtrundgänge in Zürich“ enthält. Sein – wenigstens für deutsche Münder – zungenbrecherischer Titel Chratz & Quer ist Programm.

Frauengeschichte liegt noch immer „quer“ zur traditionellen Geschichte, und um sie sichtbar zu machen, ist es häufig nötig, ein wenig zu „kratzen“, um unter die Oberfläche zu gelangen: „Chratz“ ist die Imperativform zum Verb kratzen. Chratz ist aber auch der Name eines heute verschwundenen Viertels beziehungsweise „Quartiers“ in Zürich, das vor 150 Jahren zwischen dem Bürkliplatz und dem Münsterhof lag und dem Ausbau der Bahnhofstraße zur eleganten Luxus- und Flaniermeile zum Opfer fiel. Folgt man dem im Buch vorgeschlagenen Weg vom Bahnhof bis hinunter zum ehemaligen Chratzplatz (bitte nachsprechen!), kommt man an den im 19. Jahrhundert entstandenen großen Warenhäusern vorbei, in denen Frauen als Kundinnen wie Verkäuferinnen die Szene beherrschten, vorbei an den Plätzen, auf denen die Marktfrauen ihre Waren verkauften und Neuigkeiten weitergaben, vorbei an Restaurants, Cafés und Hotels, die nicht selten von Frauen geführt wurden. Das „Hotel Schwert“ am Weinplatz zum Beispiel war schon im 18. Jahrhundert ein europaweit bekanntes und von berühmten Gästen wie Goethe aufgesuchtes Etablissement. Seine Direktorin Dorothea Ott-Rosenstock, eine schöne und gebildete Dame von Welt, verkehrte mit Lavater und ließ ihre Kinder von Fichte erziehen. Weitere Rundgänge gelten Exilantinnen, Arbeiterinnen, Künstlerinnen und Frauenfreundschaften in Zürich, ein Kapitel führt auch auf die Friedhöfe zu den Grabstätten einiger dort ruhender Frauen wie zum Beispiel Nora Joyce und Therese Giehse.

„Tote Dichter sind ein enormer Standortvorteil“, äußerte Urs Widmer einmal ironisch über „[s]ein Zürich“. Zweifellos verleihen die Gräber von Berühmtheiten einer Stadt nicht nur geisteshistorisches Gewicht, sie erfreuen ebenfalls die Fremdenverkehrsvereine, denn gerne besuchen Touristen neben den Wohn- auch die letzten Ruhestätten der von ihnen Verehrten. Dass wenigstens in Zürich kein Grabmalsucher unverrichteter Dinge wieder umkehren muss, dafür sorgt der Führer über Berühmte und vergessene Tote auf Zürichs Friedhöfen, mit genauen Lageplänen zu nicht weniger als 15 Kirchhöfen inner- und außerhalb der Stadt. Der Autor Daniel Foppa geleitet einen sicher über die Totenäcker wie durch die Lebensgeschichten knapp einhundert ausgewählter Persönlichkeiten. Büchners Grab etwa befindet sich nicht mehr auf dem längst aufgelösten Friedhof zum Krautgarten mitten in der Stadt, sondern in der Nähe der heutigen Seilbahnstation „Rigiblick“ auf dem Zürichberg, wohin es 1875 von deutschen Burschenschaftern verlegt wurde. Golo Mann wiederum wollte auf eigenen Wunsch nicht im Kilchberger Familiengrab, sondern abseits davon in einem bescheidenen Reihengrab beigesetzt werden – so liegen Ludwig Klages und Gert Westphal der Familie Mann nun näher als er. Wie die genannten Beispiele zeigen, sind in Zürich nicht nur Einheimische, sondern viele Emigranten und Zugezogene begraben. Und selbst auf der Durchreise kann einen der Tod überraschen: Die galizische Dichterin Mascha Kaléko machte auf der Heimfahrt von ihrer letzten Europareise Halt in Zürich, um dort abzuwarten, bis der Fahrstuhl ihres Hauses in Jerusalem – sie wohnte im siebten Stock – repariert wäre. Doch die Nachricht von dessen Wiederinstandsetzung erreichte sie nicht mehr. 1975 wurde sie in Zürich auf dem Israelitischen Friedhof Oberer Friesenberg beerdigt. Anstelle von Reden las man auf ihren Wunsch am Grab ein Gedicht von ihr, das mit den Zeilen begann: „Hier liegt M. K., umrauscht von einer Linde. ‚Ihr letzter Wunsch‘: Dass jeglicher was finde – Der Wandrer: Schatten, und der Erdwurm: Futter.“

Zum Weiterlesen, -schauen und -laufen:
Arlette Kosch: Literarisches Zürich. 150 Autoren: Wohnorte, Wirken und Werke. Verlag JENA 1800, Berlin 2002. 240 Seiten und 5 Karten, 19,90 Euro

Chratz & Quer. Sieben Frauenstadtrundgänge in Zürich. Hrsg. vom Verein Frauenstadtrundgang Zürich. Limmat Verlag, Zürich 1995. Überarbeitete Neuauflage 2003. 320 Seiten, 33 Euro

Daniel Foppa: Berühmte und vergessene Tote auf Zürichs Friedhöfen. Limmat Verlag, Zürich 2000. 2. ergänzte Auflage 2003. 232 Seiten, 23,50 Euro

Corina Lafranchi: Literaturführer Basel. Hrsg. von Matthyas Jenny. Christoph Merian Verlag, Basel 2003. 180 Seiten, 23 Euro

Das Büro Zürich Tourismus veranstaltet regelmäßig Altstadtbummel zu verschiedensten Themen (Emigranten, Geld und Geist, Lovestorys, Zum Schmunzeln u.a.): www.zuerich.com

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Von:
Ute Harbusch lebt als freie Literaturwissenschaftlerin in Stuttgart. Unter anderem veranstaltet sie für Hahn & Kusiek Literatur-Spaziergänge in Stuttgart und der Region, in diesem Jahr auch einen Mörike-Rundgang. Zuletzt erschienen von ihr (mit Irene Ferchl und Thomas Scheuffelen) „Das ist eine Stadt“. Literarische Spuren in Esslingen und „Hier ist Freude hier ist Lust“. Eduard Mörike zwischen Alb und Neckar. Mit Photographien von Roland Bauer.