Dem lichten Andenken Ossip Mandelstams

Ein Blick auf die Arbeit des Übersetzers und Herausgebers Ralph Dutli
Vom Michael Borrasch

In weite Ferne gehen Hügel: Menschenköpfe,
Mich wird man nicht mehr sehn, ich werd verschwindend klein –
In Kinderspielen, Büchern, zärtlichen Geschöpfen
Sag ich einst auferstehend, dass die Sonne scheint.

Ossip Mandelstam

Es ist vollbracht! Mit seiner umfassenden, spannend wie erschütternd zu lesenden Werkbiographie Ossip Mandelstams (1891-1938) hat der Heidelberger Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Lyriker Ralph Dutli im vergangenen Herbst ein über 20-jähriges Editionsabenteuer abgeschlossen. Zehn prachtvolle, teilweise zweisprachig angelegte Bände umfasst die von ihm ins Deutsche übertragene und kommentierte Gesamtausgabe des großen russischen Lyrikers und Essayisten im Zürcher Ammann Verlag. Hinzu kommen weitere Bücher, mit denen Dutli einzelne Schwerpunkte des Mandelstam’schen Œuvres freilegt.

Kein Zweifel: Hier hat ein zu Lebzeiten trotz aller Erdenschwere durch Ausgrenzung, Verfemung und Verbannung stolz bis zum Schluss arbeitender Jahrhundert-Dichter Dekaden nach seinem elenden Tod in einem stalinistischen Lager eine kongeniale deutsche Stimme gefunden. Vom „Luftgrab“ aus, wie Mandelstam hoffte, würde sein Werk weiter leben. Für den deutschen Sprachraum hätte er es sich kaum besser wünschen können.

1954 in Schaffhausen geboren und dort aufgewachsen, entwickelte Ralph Dutli eine frühe Liebe zu Sprachen, zur Poesie. Seine Mutter, eine Journalistin, gab ihm die entsprechende Sensibilität mit. Ein Lehrer vermittelte erste Berührungen mit russischer Lyrik. Privatkontakte zu einer russischen Dame, die Einblicke in ihre bewegte Familiengeschichte gewährte, kamen hinzu und 17-jährig dann die erste Begegnung mit Mandelstams Werk.

„Es hat natürlich angefangen dank Paul Celans Übertragung ins Deutsche. Mandelstam hat mich sofort fasziniert. Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber die Magie der Poesie war bereits wirksam.“ Dutli ist es wichtig, dass nicht ihm, sondern Celan die Entdecker-Lorbeeren zustehen. Der hatte einige Gedichte des Russen übertragen und mit einem Bändchen bei S. Fischer 1959 den Dichter im deutschen Sprachraum vorgestellt. „Eine erste Chance des bloßen Vorhandenseins“, wie er es im Nachwort nannte.

1974 begann Ralph Dutli ein Studium der Romanistik und Russistik in Zürich – in dieser Schwerpunktsetzung. Das Interesse für die russische Sprache und ihre Dichter war zwar geweckt, doch zunächst zweitrangig. Erst ein Auslandssemester 1976 / 77 in Paris brachte die Wende. Dutli schildert seine Initialzündung für das Mandelstam-Projekt wie eine unumgängliche Begegnung: „In einer russischen Buchhandlung am Odéon bekam ich die amerikanische Mandelstam-Ausgabe der 60er Jahre in die Hände, habe geblättert und geblättert. Nach etwa zwei Stunden wurde der Buchhändler schon ganz misstrauisch. Ich konnte längst nicht so gut russisch wie heute und dachte nur: ‚Das ist ja Wahnsinn, diese Sprache, diese Bilder, diese Poesie.’ Aber ich habe schon gemerkt, wie viel da an Schätzen noch zu heben ist. Paul Celan hatte ja nur 30, 40 Gedichte übersetzt.“ Auch wenn Celans Initiative den Weg wies, blieb dem jungen Schweizer genug Entdeckerfreude übrig. Große Teile des Werks konnte er schließlich erstmals ins Deutsche übertragen.

Ende der 70er Jahre verwandelte sich seine Faszination in eine Kraft der Poesie, die erste eigene Übertragungen hervorbrachte. Einige davon übermittelte Dutli 1981 Egon Ammann, dessen Interesse sofort erwachte. Neben der Gründung seines eigenen Verlags leitete er in Zürich die Schweizer Außenstelle des Suhrkamp Verlags, wo 1983 und 1984 mit Die Reise nach Armenien und Schwarzerde zwei von Dutli übersetzte Bände in der Bibliothek Suhrkamp erschienen.
1982 war Ralph Dutli ganz nach Paris gezogen, für ihn damals ein Zugewinn an „poetischer Atemluft“, während seine Arbeit von anderer Stelle erheblich behindert wurde: Bis 1989 lehnte man ihm sämtliche Visa-Anträge für Reisen nach Moskau ab. Die Forschung in Mandelstams Heimat war trotz Angabe eines Tarnthemas unmöglich, ein Besuch bei dessen Witwe Nadeshda, die Ende 1980 starb, konnte nicht mehr stattfinden. Das Interesse eines westlichen Literaturwissenschaftlers am verfemten Dichter passte den sowjetischen Behörden offenbar gar nicht. Größere Kraft bewies schließlich das freie Wort.

Es ist in diesem Fall auch ein Verdienst Egon Ammanns, denn er nutzte als junger Verleger – wagemutig genug – rasch die sich bietende Chance. Nach der Veröffentlichung von Dutlis Promotions-Essay über Mandelstams Beziehungen zur französischen Kultur machte er sich auch an das Abenteuer der Edition des Gesamtwerks für einen damals kaum bekannten Autor. Im Herbst 1985 begann mit dessen autobiographischer Prosa Das Rauschen der Zeit das, was sich in den nächsten 18 Jahren zu einem Maßstäbe setzenden publizistischen Ereignis entwickeln sollte und alle wichtigen Feuilletons des deutschen Sprachraums zu Jubel und Anerkennung provozierte.

Nach dem 1988 verliehenen Klagenfurter Publizistik-Preis sorgten die in unregelmäßigem Abstand folgenden Ehrungen für den bei der Verwirklichung eines solchen Mammutprojekts nötigen Zuspruch; in Weimar wurde Ralph Dutli soeben mit einer Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung gewürdigt.

Trotz manch entbehrungsreicher Arbeitsphase ist er heute glücklich: “Jeder Band war ein Abenteuer, eine Entdeckung. Es war wie das Vordringen in einen lichtvollen Stollen, eine heitere, schöne Begegnung. Das versuche ich immer wieder zu zeigen: das Lebensbejahende, diese Vitalität im Werk.“

Und in der Biographie wird Mandelstam nicht nur als ein unter Stalin in Ungnade gefallener und verfolgter armer Poet geschildert. Stets stehen seine positive Kraft, seine mit Mut und Witz gepaarte „Sehnsucht nach Weltkultur“, die er bis zum Schluss verfolgt, im Mittelpunkt. Ein grenz- und zeitübergreifender Dialog mit Kulturen von der Antike bis zur Moderne ist ein wesentlicher Kern seines Schaffens. Gleichzeitig war seine Dichtung eine sehr diesseitige, vor politischen Äußerungen schreckte er nicht zurück. Ein „Epigramm gegen Stalin“, in dem Mandelstam den Diktator als „Seelenverderber und Bauernabschlächter“ bloßstellte, wurde ihm zum Verhängnis.
Ganz bewusst lässt Dutli die Biographie nicht mit dem erschütternd geschilderten Tod des Unbeugsamen am 27. 12. 1938 enden, sondern geht in das Bleibende des Werks über. Gleichwohl werden dem Leser die arroganten Seiten des Dichters nicht erspart. Mandelstams Frau, die nach seinem Tod unendlich viel für die Erhaltung des Werkes tat, hatte einiges auszuhalten. Indem Dutli das nicht verschweigt, bleibt Mandelstam ein Künstler mit menschlichen Schwächen und wird nicht zum überhöhten Heiligen der Poesie.

Dutlis Vermittlung in Form von erhellenden Essays und teilweise zeilengenauen Versentschlüsselungen der bild- und themenvollen Lyrik des Russen sind eine wesentliche Erklärung für das Gelingen seiner Arbeit. „Derart leichthändig und elegant aufgetischte Wissenschaft trifft man gerade in Deutschland viel zu selten“, pries denn auch Urs Heftrich in seiner Laudatio bei der Verleihung des Stuttgarter Literaturpreises an Dutli im Mai 2003.

Ralph Dutli kann noch mehr. Wer seine Lese-Auftritte besucht, erfährt ganz unmittelbar eine andere Erklärung für die Überzeugungskraft seines Schaffens. Hier lebt jemand im, labt sich am Wort und teilt es wie ein Stück Brot mit dem Publikum: „Bei Genuss und Gebrauch der Poesie vollzieht sich ein Energie-Transfer.“ Die zweisprachig zelebrierten Lesungen sind ein Erlebnis. Wenn Dutli die russischen Originaltexte in die Luft entlässt, meint man einem schamanistischen Akt beizuwohnen, der mit der Rezitation der deutschen Übertragung zu einem Dialog mit dem Schöpfer der Ur-Verse wird.

Neuerdings ist Ralph Dutlis Stimme auch auf zwei Hörbüchern zu hören, die etwas von seiner lebendigen Rezitationskunst ahnen lassen. Wer sich tiefer in die russische Literaturgeschichte begeben will, findet in ihm auf 4 CDs einen kundigen Fremdenführer, der einen Pfad durch das von allerhand Klischees verstellte Thema schlägt. Eine andere Aufnahme widmet sich der Lyrik von Anna Achmatowa und Marina Zwetajewa, zwei engen Freundinnen Mandelstams. Mit der Schauspielerin Katharina Thalbach liest Dutli eine Gedichtauswahl, sein ausführlicher Begleittext vermittelt Hintergründe.

Aber natürlich macht ein die „Poesie als Energiequelle“ feiernder Sprachkünstler nicht bei den geliebten Kollegen von einst Halt. Ralph Dutli ist nicht zuletzt selbst Lyriker, ausgewählte Gedichte der letzten zwanzig Jahre sind als Notizbuch der Grabsprüche erschienen.

In Heidelberg, wohin 1909 für wenige Monate auch ein Student namens Ossip Mandelstam – von Paris kommend – zog, beginnt nun Dutlis „Nach-Mandelstam-Zeit“. Auf den Spuren „seines“ Dichters war er dank eines Stipendiums 1994 ebenfalls an den Neckar gewechselt.
Sicher ist für ihn zunächst vor allem eins: einen ähnlich umfangreichen Einsatz für einen anderen Autor kann sich Dutli nicht vorstellen. „Es gibt keinen Dichter, der mich so faszinieren würde. Auch werde ich demnächst 50 Jahre alt, das heißt, es wird nicht mehr so abenteuerlich wie vor 20 Jahren, als ich mit einem Köfferchen in Paris ankam und sagte: auch mir gehört diese Weltstadt der Poesie.“

Zum Weiterlesen:

Ossip Mandelstam, Das Gesamtwerk. Zehn Bände in Kassette. Übersetzt und herausgegeben von Ralph Dutli. Ammann Verlag, Zürich 1985-2000. 199 Euro (auch einzeln lieferbar und zum Teil als Fischer TB)

Ralph Dutli, Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie. Ammann Verlag, Zürich 2003. 635 Seiten, 28,90 Euro

Ralph Dutli, Notizbuch der Grabsprüche. Gedichte. Rimbaud Verlag, Aachen 2002. 15 Euro

Russische Literaturgeschichte erzählt von Ralph Dutli. 4 CDs, 272 Minuten. Hörbuch Hamburg 2003. 24,90 Euro

Mit dem Strohhalm trinkst du meine Seele. Gedichte von Marina Zwetajewa und Anna Achmatowa gelesen von Katharina Thalbach und Ralph Dutli. Auswahl, Übersetzung und Begleittext Ralph Dutli. 1 CD, 64 Minuten. Der Hörverlag, 2003. 14,95 Euro

Am 14. Mai stellt Ralph Dutli seine Mandelstam-Biographie im Hermann Hesse-Zentrum in Calw vor.

Bilder Mandelstam: © Ammann Verlag,
Bild Dutli:© Catherine Dutli-Polvêche


Von:
Michael Borrasch, geboren 1963 in Bremen, lebt als Kulturarbeiter in Ravensburg. Hier war er u.a. 1994 Mitbegründer der „Freunde toller Dichter“, deren Veranstaltungen er bis heute organisiert.