Orpheus im Blick

Zwischenbilanz nach 10 Jahren: die „Deutsche Reise nach Plovdiv“ als spannendes deutsch-bulgarisches Literaturprojekt
Von Thomas Frahm

Ein lang gezogener Schrei erfüllt den Raum des archäologischen Museums in der südbulgarischen Stadt Plovdiv. Die Berliner Lyrikerin Brigitte Oleschinski eröffnet so ihre Lesung, um die Zuhörer an eine Quelle des poetischen Ausdrucks zurückzuversetzen, die in jeder Sprache verstanden wird. Anlass ist die Vorstellung der bulgarischen Ausgabe ihres Buches Argo Cargo.

Es ist ein Glücksfall, dass das spannende Projekt „Deutsche Reise nach Plovdiv“ (deutsch im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn und bulgarisch im Pygmalion-Verlag, Plovdiv) mit ihrem Buch eine Art Zwischenbilanz ziehen kann, denn Oleschinski befasst sich darin mit dem Verhältnis von Stimme und Lyrik. Dabei stößt sie unweigerlich auf den Ahnherrn der zur Lyra gesungenen gebundenen Rede: Orpheus. Dessen Heimat, das Rhodopen-Gebirge, beginnt nur wenige Kilometer südlich von Plovdiv. Wenn sie schildert, wie der Sänger unter den Haudegen auf Jasons Schiff „Argo“ mit auf die Suche nach dem Goldenen Vlies geht, gerät dies unweigerlich zu einer Auseinandersetzung über die Rolle des Dichters in der Gesellschaft. Zu einem Höhepunkt kommt es, als Orpheus versucht, an der Meerenge bei Sizilien gegen die Sirenen anzusingen, sie wie ein moderner Rockstar niederzukämpfen und so die Mannschaft der „Argo“ vor dem Verderben zu retten.

Seit 1995 hat das Künstlerhaus Edenkoben, eine Einrichtung der Stiftung Rheinland-Pfalz, unter Federführung von Ingo Wilhelm jedes Jahr einen deutschen Autor als Stipendiaten für sechs Wochen ins bulgarische Plovdiv geschickt; 2004 geht Ute Christine Krupp auf die Reise. Einquartiert werden die deutschen Gäste in der malerischen Altstadt, die einen der drei „Tepeta-Hügel“ bedeckt, auf denen die traditionsreiche 300 000-Seelen-Stadt sich ausbreitet. Genauer gesagt, wohnen sie in den restaurierten Räumen des „Lamartine-Hauses“, das seinen Namen von dem französischen Dichter Alphonse Lamartine (1790-1869) herleitet, der hier einmal auf einer Orient-Reise Rast gemacht hatte. Nur wenige Schritte Fußweg trennen die Gäste von der Panorama-Aussicht auf die ganze Stadt, gleich zu Füßen das römische Amphitheater aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., auf das die Plovdiver sehr stolz sind. Von Thrakern gegründet, war Plovdiv mazedonische Hauptstadt unter Philipp II., dann römisch, byzantinisch, slawisch, türkisch, griechisch und jetzt bulgarisch.

Die Fremdheitserfahrung, die ja eine Grunderfahrung vieler Dichter ist – wie würde sie sich sprachlich niederschlagen in diesem Land, das schon durch die Verwendung des kyrillischen Alphabetes Verständnisbarrieren aufbaut und in dem eine Sprache gesprochen wird, die nicht gerade zur allgemeinen Schulbildung in Deutschland gehört? Das zwiespältige Verhältnis der Bulgaren zu Türken und Roma, die auch in Plovdiv zahlreich vertreten sind, ist eine weitere Nagelprobe für die von Berufs wegen gern aufgeklärten und moralisch korrekten Deutschen.

Begonnen hat dieses ungewöhnliche Projekt 1993, als fünf bulgarische Dichter auf Einladung des Künstlerhauses nach Edenkoben gekommen waren, um dort mit fünf deutschen Autoren Übersetzungen zu erarbeiten, die der WDR anschließend in seiner Europa-Reihe „Poesie der Nachbarn“ vorstellen wollte. Mirela Ivanova, die derzeit bedeutendste und auch in Deutschland erfolgreichste Lyrikerin ihres Landes, sprach eine Gegeneinladung aus, und so reisten ein Jahr später die Lyriker Johann Tammen und Gregor Laschen mit Ingo Wilhelm nach Bulgarien. Emil Stojanov und seine gut deutsch sprechenden Damen vom Pygmalion-Verlag betreuten die Deutschen nicht nur im Rahmen der Lesungen, sondern zeigten ihnen auch die wild-romantischen Rhodopen, das Gebirge der Hundertjährigen. „Das müssen auch andere deutsche Dichter sehen!“ meinte Gregor Laschen, der Herausgeber der Buchreihe „Poesie der Nachbarn“ (bisher edition die horen, jetzt Wunderhorn), und so wurde in Windeseile ein Konzept entwickelt.

Lutz Stehl, Künstler, Essayist und Lyriker, war der erste, der Plovdiv besuchte, und er hat einen Gedichtband geschrieben, der erstaunlich tief in die Psyche der Bulgaren eindringt. Ihr ambivalentes Verhältnis zum Schicksal formuliert er so: „Bald wird das Paradies kommen / und dir die Tür eintreten.“ Und über die Herzlichkeit der Menschen heißt es: „Im Osten kommt der Morgen nicht / vor einem freundlichen Wort.“

Ralf Thenior, Michael Buselmeier, Jan Koneffke und Hans Thill, die Stipendiaten von 1996 bis 1999, legten Tagebücher vor, jedenfalls in der deutschen Ausgabe. Die bulgarischen Editionen, die zwar nicht mit festem Einband und auf so gutem Papier gedruckt, aber auf andere Art schön gestaltet sind, enthalten weitere literarische Texte dieser Autoren. Als ich in Plovdiv nach dem Grund für das Fehlen dieser Texte in den deutschen Ausgaben fragte, hieß es, die deutschen Dichter hätten die fürs deutsche Publikum uninteressanten Teile weggelassen. Das leuchtet mir allerdings nicht ein. Denn auch die Tagebuch-Notizen sprechen im Grunde nur Leser an, die Bulgarien kennen oder einmal dort hinfahren möchten.

Davon abgesehen, enthalten die Bücher eine Reihe von klugen Beobachtungen. Jan Koneffke etwa schreibt über die Atmosphäre in den Kirchen: „Und ich habe immer dieses Gefühl des Dumpfen, des geheimnisvoll Raunenden, wenn ich in eine dieser dunklen orthodoxen Kirchen komme. Des Geborgenen (als kehre man in den Mutterschoß zurück), dem aber auch die Luft und das Licht, die Klarheit, die Vernunft fehlen.“

Unter den Autoren könnte man Koneffke als den Sofia-Spezialisten bezeichnen, Stehl als den Plovdiv- und Thenior als den Schwarzmeer-Spezialisten. Thenior hatte auf eigene Faust einen Abstecher in die Umgebung von Varna organisiert und sich so neben seiner typischen Gabe zur Schilderung sprechender Details auch eine kleine These erarbeitet: die Menschen, die in einer Hafenstadt am Meer wohnen, sind weltoffener und kommunikativer als die in einer Binnenstadt wie Plovdiv, die trotz ihrer jahrtausendealten Geschichte und ihrer internationalen Messe abgeschlossen vom Duft der großen weiten Welt dahinschläft wie eine deutsche Kleinstadt. Hans Thill schreibt am besten über Architektur und Kunst, und Michael Buselmeier zeigt sich sehr sensibel für das, was auf den Lesungen und literarischen Begegnungen mit bulgarischen Autorengruppen passiert. Er fängt vielleicht am unversöhnlichsten ein, wie groß der Graben ist, der uns von der bulgarischen Mentalität trennt. Buselmeier, der durch seine intellektuellen Schutzbastionen zugleich die größten Schwierigkeiten hatte, sich dem „Balkan-Flair“ hinzugeben, ist mit seinen Hunden von Plovdiv sogar ein kleiner Skandal gelungen. Die ausgesprochen schamhaften Bulgaren wurden nicht damit fertig, dass einer aus dem reichen Deutschland kam (wo es wichtig ist, auf die Kehrseiten des Wohlstands hinzuweisen) und beschrieb, was die Bulgaren lieber heute als morgen ändern würden: Dreck, Armut, streunende Hunde. Sie wissen, dass solche Nachrichten in Westeuropa das Bild vom „Balkanschlendrian“ nähren.

Uwe Kolbe, der aus seiner Jugend in der DDR noch einiges an Russisch-Kenntnissen gerettet hat, konnte sich einigermaßen mit den Bulgaren verständigen. Er traute sich in die Kalkschluchten des Rhodopen-Gebirges, das von vielen bulgarischen Türken und den Pomaken, islamisierten Slawen, bewohnt ist, und förderte eine Kriminalgeschichte zutage.

Den erstaunlichsten Band hat der rumäniendeutsche Autor Ernest Wichner vorgelegt. Seine Erzählungen verraten eine solche Vertrautheit mit Land und Leuten, dass man meinen könnte, es seien tatsächlich wahre Geschichten zu den Fotografien des Bandes, aber er hat sie – zu Fotos aus irgend einem Plovdiver Antiquariat – erfunden: etwa die vom Königreich Dobrudsha. Diese fruchtbare Ebene am Unterlauf der Donau wechselte ständig zwischen rumänischer und bulgarischer Zugehörigkeit. Da beschlossen ein paar verrückte Männer, ein Königreich Dobrudsha auszurufen, einen aus ihren Reihen zum König zu ernennen und schon einmal einen Palast zu bauen. Allein diese Geschichte lohnt die Lektüre des Buches, denn darin treten einem so viele typische Balkan-Charaktere plastisch entgegen, dass man gleich in Bulgarien nachprüfen möchte, ob das auch alles so stimmt, was Wichner da wahrheitsgetreu zusammengeflunkert hat …


Zum Weiterlesen:

Michael Buselmeier, Die Hunde von Plovdiv. Bulgarisches Tagebuch

Uwe Kolbe, Der Tote von Belintasch. Kriminalgeschichte

Jan Koneffke, Gulliver in Bulgarien. Tagebuch

Johann Lippet, Kapana, im Labyrinth

Brigitte Oleschinski, Argo Cargo. Essay. Mit einer CD

Lutz Stehl, Thrakien, Thrakien. Gedichte

Ralf Thenior, Das bulgarische Gefühl. Siebenundneunzig Miniaturen aus Plovdiv und vom Schwarzen Meer

Hans Thill, Kopfsteinperspektive. Briefe aus Bulgarien

Ernest Wichner, Alte Bilder. Geschichten
(Alle in der Reihe Deutsche Reise nach Plovdiv, hrsg. von Hans Thill)

Mirela Ivanova, Einsames Spiel. Gedichte, und neu im Juli: Versöhnung mit der Kälte. Gedichte. Übersetzt von Gabriele Tiemann. Edition Künstlerhaus
Alle im Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg, 48 / 64 Seiten, gebunden, 13,50 Euro

Gregor Laschen (Hrsg.), Hör den Weg der Erde. Poesie aus Bulgarien. edition die horen im Wirtschaftsverlag N.W., Bremerhaven 1994. 188 Seiten, 13,50 Euro



Von:
Thomas Frahm, geboren 1961 in Duisburg, arbeitet seit 2000 als Autor und Journalist für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften mit den Schwerpunkten Verlagswesen und bulgarische Literatur. Er lebt in Duisburg und Sofia.