Parnass und Pegasus in der Provinz

Ein literarischer Spaziergang durch Mährens Hauptstadt Brünn
Von Dirk Heißerer

Der Parnass, der Sitz der Musen, liegt in Brünn (Brno). Auf dem größten Platz, dem Krautmarkt (Zelny Horni), steht er als barocker Springbrunnen nach einem Entwurf des Wiener Architekten Fischer von Erlach aus dem Jahr 1695. Umgeben von Allegorien einstiger Imperien wie Babylonien, Persien und Griechenland zähmt Herkules hier in einer Höhle den Höllenhund Zerberus, während oben auf der Säule Frau Europa alles überragt. Was bedeutet das? Ein literarischer Spaziergang durch Brünn (Literaní toulky Brnem), ausgearbeitet von Studentinnen und Studenten der Masaryk-Universität unter der Leitung des DAAD-Lektors Winfried Adam, gibt eine Antwort.

Näher an Wien gelegen als an Prag, hat es Brünn nach Europa tatsächlich nie weit gehabt. Seit dem frühen Mittelalter haben sich hier neben den Tschechen Deutsche aus Österreich, Flamen vom unteren Rhein, Wallonen aus den südlichen Niederlanden und Juden aus Osteuropa angesiedelt. Reibungen blieben nicht aus, aber Dampfmaschine und Webstuhl sorgten während der österreichischen Monarchie für Prosperität. Der Augustinermönch Gregor Mendel fand hier die Gesetze der Genetik, Edison-Glühbirnen im Stadttheater beleuchteten 1896 das Debüt des Tenors Leo Slezak, und die meisten Opern des großen tschechischen Komponisten Leos Janácek wurden in Brünn uraufgeführt, allen voran 1924 „Das schlaue Füchslein“. Architektonisch lag Brünn zur Zeit der ersten Republik durch Bauten von Bohuslav Fuchs und Ludwig Mies van der Rohe weit vorn, der kulturelle Rückschritt in den Zeiten des Faschismus und Kommunismus hat dagegen auch hier tiefe Spuren hinterlassen. Doch der Parnass steht nicht ohne Grund in Brünn, flankiert von mehreren Bierstuben namens „Pegas“, und so hat die heute mit 388 000 Einwohnern zweitgrößte Stadt der Tschechischen Republik einiges Interessante zu erzählen.

Es beginnt am Bahnhof. Prominent reist dank Robert Musil sein Mann ohne Eigenschaften an. Zu Beginn des „Zweiten Buches“ (1933) heißt es: „Als Ulrich gegen Abend des gleichen Tags in ...* [gemeint ist Brünn] ankam und aus dem Bahnhof trat, lag ein breiter, seichter Platz vor ihm, der an beiden Enden in Straßen auslief und eine beinahe schmerzliche Wirkung auf sein Gedächtnis ausübte, wie es einer Landschaft eigentümlich ist, die man schon oft gesehen und wieder vergessen hat.“ Das ist nun keine große Euphorie und wird auch kaum durch den Umstand gebessert, dass Musil als Sohn eines Professors an der deutschen Technischen Hochschule (an der er später selbst drei Jahre studierte) nicht nur seine Jugend in Brünn verbracht hat, sondern seit 1991 am Wohnhaus Augustinergasse (Jaselská) 10 auch mit einer Gedenktafel gewürdigt wird, übrigens schräg gegenüber derjenigen für Karel Capek am Haus Nr. 5. „Ulrich hatte mitten in der Fröhlichkeit und Hast der Ankunft, die das Tor des Bahnhofs wie die Mündung eines Rohrs in die Ruhe des Platzes ausfließen ließ, gewartet, bis sie nur noch tropfenweise rann.“ Das Thema scheint erschöpft, doch gekonnt verbindet der Erzähler Persönlich-Biographisches mit einer unerbittlichen Analyse der Stadt und ihrer provinziellen Eigenschaften: „Mit einiger Neugierde des Wiedersehens […] betrachtete [er] die große Provinzstadt, in der er kleine, aber wenig angenehme Teile seines Lebens zugebracht hatte. In ihrem Wesen lag, wie er sehr wohl wusste, etwas Heimatlos-Koloniales: Ein ältester Kern deutschen Bürgertums, der vor Jahrhunderten auf slawische Erde geraten war, war da verwittert, so dass außer einigen Kirchen und Familiennamen kaum noch etwas an ihn erinnerte […]; aber über diese Vergangenheit hatte sich in der Zeit der absoluten Verwaltung das große Aufgebot einer kaiserlichen Statthalterei gelagert mit seinen Zentralämtern der Provinz […]. Diese Stadt hatte eine Geschichte, und sie hatte auch ein Gesicht, aber darin passten die Augen nicht zum Mund oder das Kinn nicht zu den Haaren, und über allem lagen die Spuren eines stark bewegten Lebens, das innerlich leer ist.“

Diese Leere ließ sich mit Nationalismus und Antisemitismus schon damals übertünchen. Ein Treffpunkt entsprechend gestimmter Brünner Deutscher um 1900 war das längst verschwundene Deutsche Haus am Mährischen Platz (Moravské Námestí), dort, wo heute ein Park und ein Brunnen in der Nähe des sowjetischen Befreiungsdenkmals überwintern. Doch es gab auch andere Stimmen. Man muss nur über den Platz zum „Scala“-Kino gehen, um die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu sehen.

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang der Habsburger Monarchie wurde in Prag die unabhängige Republik der Tschechoslowakei ausgerufen; ihr erster Staatspräsident war bis 1935 Thomas Garrigue Masaryk. Thomas Mann war damals gleich dreimal in Brünn mit Vorträgen zu Besuch, im Januar 1922 mit „Goethe und Tolstoi“, im Januar 1935 mit „Leiden und Größe Richard Wagners“ und im Mai 1936 mit „Freud und die Zukunft“. Immer kam er dabei im Grand Hotel am Bahnhof unter, auch wenn ihm das nicht so ganz zusagte („Unbehagen im provinziellen Grand Hotel“). Den Freud-Vortrag hielt er im Typos-Saal der Masaryk-Universität (heute steht dort der Neubau des Tschechischen Rundfunks, gleich hinter der St. Jakobs-Kirche) „vor 800 Personen mit Mikrophon“.

Anschließend, bei der „nachfolgenden Geselligkeit“, traf Thomas Mann auf deutsche Exilanten wie den „Simplicissimus“-Zeichner Thomas Theodor Heine oder den selbst ernannten „Provinzschriftsteller“ Oskar Maria Graf.

Dank der liberalen Ausländerpolitik ihres Staatspräsidenten bot die Tschechoslowakei auch vielen deutschen Exilanten Zuflucht; Thomas Mann und die Seinen wurden 1936 sogar tschechoslowakische Staatsbürger. Treffpunkt der Emigranten in Brünn war das DOPZ-Gebäude am Lazansky Platz 3 (heute Moravské Námestí) mit dem „Kaffeehaus / Kavarna Biber“. Im heutigen „Scala“-Kino trat Thomas Manns Sohn Klaus im Dezember 1935 mit dem Vortrag „Woran glaubt die europäische Jugend?“ vor seine Kollegen. Eine Gedenktafel im Eingang erinnert an all die „Künstler, Schriftsteller, Publizisten und Politiker aus Deutschland und Österreich, die in den Jahren 1933-1939 in Brünn im Exil lebten“. Eine der Initiatorinnen der Tafel ist Dora Müller. Ihr Vater Theodor Schuster hatte im DOPZ-Gebäude eine Anwaltskanzlei und nahm als führender Sozialdemokrat seine Tochter zu den Gesprächen ins Café Biber mit. Sie hat sie alle kennen gelernt und hält sie lebhaft in Ehren. Auf diese Weise ist Dora Müller das lebendige Gedächtnis der Stadt an diese Zeit geworden, und ihre Ausstellung „Drehscheibe Brünn“ ist seit 1997 dauernd unterwegs.

Oskar Maria Graf war 1933 durch den Aufruf „Verbrennt mich!“ gegen die Bücherverbrennungen der Nazis ebenfalls zum Exilanten geworden. Mit seiner Frau Mirjam Sachs fand er oberhalb von Brünn in der Grüngasse der etwas spießigen Ziegelhauskolonie „Schwarze Felder“ (Zelena, heute Muchova 6) eine Bleibe. Von hier aus unternahm er 1934 seine Reise in die Sowjetunion, hier schrieb er den Roman Der Abgrund vor dem Hintergrund des gescheiterten Arbeiteraufstands in Wien 1934, hier setzte er dem deutschen Spießbürger mit dem satirischen Roman Anton Sittinger (1937) ein zeitloses Denkmal, und hier begann er die Arbeit an seinem Hauptwerk Das Leben meiner Mutter (1946), das er im amerikanischen Exil beendete.

Auf seinem Heimweg vom Café Biber durch den Luzánky-Park und die Schodová-Treppe hinauf kam Graf jedes Mal an der markanten Villa Tugendhat vorbei, einem Bau des Star-Architekten Ludwig Mies van der Rohe aus dem Jahr 1930 für das jüdische Ehepaar Grete und Fritz Tugendhat, die ihren Reichtum der Textilindustrie verdankten. Die Villa im Hang hat im tiefer gelegenen Innenbereich einen großen Wohnraum, dessen West- und Südwände aus zum Teil versenkbaren Fenstern bestehen und einen atemberaubenden Blick über den Garten auf die Kirchen von Brünn und den Spilberk gewähren. Während des Sozialismus diente das schöne Haus als Turnhalle, seit 2001 gehört es zum Weltkulturerbe der UNESCO.

Unter den zeitgenössischen deutschen Autoren verbindet Peter Härtling besonders viel mit Brünn. Von hier stammte die Familie seines Vaters, und die Besuche im Haus der Großmutter am Franzensberg (Petrov) hat der 1933 geborene in seinen Romanen mehrfach erwähnt. Brünn ist in Nachgetragene Liebe (1980) das „Inbild aller Städte […] aufgebaut aus Staunen und Neugier“.

Neben dem in Brünn aufgewachsenen Publizisten Peter Demetz ist besonders der Lyriker Jan Skácel zu nennen (1922–1989), der lange als Kulturredakteur an der Brünner Zeitung Rovnost arbeitete. Eines ihrer Büros liegt am Römerplatz, den der Brünner Jirí Kratochvil (Jahrgang 1940) trefflich beschreibt. Man meint zunächst, der Platz sei „einem Bild von Chirico entstiegen […]. In Wirklichkeit ist es allerdings bloß ein ganz kurzer und vor der Einmündung in die Josefsgasse ein bisschen erweiterter Abschnitt der Franziskanergasse, als träte man auf einen Gartenschlauch, der sich wie eine tödliche Embolie ausbeult.“ Es ist kein Zufall, dass Milan Kundera (ebenfalls aus Brünn gebürtig) Jirí Kratochvil dem Parnass der mitteleuropäischen Literatur zurechnet. Der Parnass gehört in Brünn schließlich zum Stadtbild.

Zum Weiterlesen:

Peter Demetz, Böhmische Sonne, mährischer Mond. Essays und Erinnerungen. Deuticke Verlag, Wien 1996. 168 Seiten, 18 Euro

Oskar Maria Graf, Erzählungen aus dem Exil. List Verlag, München 1994. 380 Seiten, 23 Euro

Peter Härtling, Nachgetragene Liebe. dtv, München 1993. 176 Seiten, 8,50 Euro
Ders., Große kleine Schwester. Roman 1998 (nur antiquarisch)

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2000. 2192 Seiten, 49,90 Euro

Jan Skácel, Das elfte weiße Pferd. Erzählungen. Wieser Verlag, Klagenfurt 2004. 180 Seiten, 12,95 Euro

Informationen zu dem Literaturspaziergang: wadam@phil.muni.cz



Von:
Dirk Heißerer, Jahrgang 1957, veranstaltet seit 1988 seine beliebten literarischen Spaziergänge und Exkursionen zwischen Schwabing und dem Gardasee (www.lit-spaz.de). Er ist Herausgeber (von u.a. Rudolf Schlichter, Erika Mann, Kadidja Wedekind, der Buchhandelsgeschichte der Firma Lehmkuhl und soeben Fred Endrikats Der fröhliche Diogenes), 1. Vorsitzender des Thomas-Mann-Förderkreises München (www.tmfm.de) und Autor zahlreicher Bücher, zuletzt über Die Maxhöhe. Vom Dampfschiff zum Windrad und einer Monographie über Ludwig II.