Ausgabe: September/Oktober 2004 


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1001 Nacht

Altes und Neues aus "Tausendundeine Nacht"

Von Dieter Ferchl

Über die vergangenen Jahrhunderte erwiesen sich die Erzählungen, die unter dem Namen Tausendundeine Nacht bekannt sind, als beständige Bestseller. Tausendundeine oder mehr Ausgaben überschwemmten die Buchmärkte, schwergewichtige Bücher, mehrbändige Werke und schmale Bändchen, kleine Sammlungen mit den bekannten Erzählungen von Sindbad, Aladdin und Ali Baba, mit Liebesgeschichten oder mit Märchen für Kinder, teils wortgetreue Übersetzungen aus dem Arabischen mit wissenschaftlichem Anspruch, teils freie Nachdichtungen oder Bearbeitungen, die sich am Geschmack der potentiellen Leserschaft orientieren, und neuerdings auch Hörbücher.

Ein inzwischen vergangenes Phänomen dürfte es sein, dass die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht Moden auslösten und das Orientbild der westlichen LeserInnen prägen konnten – die täglichen Fernsehbilder aus Bagdad erinnern heute wohl kaum noch an die Beschreibungen der schönen alten Stadt Harun ar-Raschids. Die so vielfältigen und phantasievollen Geschichten haben dadurch aber sicher nicht an Reiz und Bedeutung verloren, und der Umfang des aktuellen Angebots lässt auf immer noch gute Verkaufszahlen schließen.

Tausendundeine Nacht, das ist für die heutige Leserschaft eine riesige Sammlung von Märchen, Romanen und Novellen, Sagen, Legenden, Humoresken und Anekdoten, mehr als 300 Erzählungen, locker zusammengehalten durch die berühmte Rahmenhandlung von König Schehrijar und der klugen Schehrezad, die in tausendundeins Nächten um ihr Leben erzählt.

Teile der Sammlung sind sehr alt. Die Rahmengeschichte und einige weitere Erzählungen sind, so wird vermutet, indischen Ursprungs, andere Teile stammen offenbar aus dem vorislamischen Iran; bezeugt ist eine im 10. Jahrhundert aus dem Persischen ins Arabische übersetzte Erzählungssammlung mit derselben Rahmengeschichte, und in diese Zeit datieren auch die ältesten bekannten Handschriften. Die vielen in Bagdad spielenden Geschichten werden ins 8. bis 12. Jahrhundert, das ägyptische Material ins 13. bis 16. Jahrhundert datiert. Die Sammlung wuchs und änderte sich fortwährend, einen gewissen Eindruck über die vielfältigen Entwicklungen geben die verschiedenen erhaltenen Handschriften.

In Europa wurden Teile des Werkes ab 1400 bekannt, der Siegeszug von Tausendundeiner Nacht im Westen begann Anfang des 18. Jahrhunderts mit der ersten umfangreichen Ausgabe des französischen Orientalisten Antoine Galland, seine heute bekannte Form erhielt die Erzählungssammlung im 19. Jahrhundert durch die großen arabischsprachigen Ausgaben, die Vollständigkeit in Verbindung mit wissenschaftlicher Korrektheit anstrebten.

Auf dem aktuellen deutschsprachigen Buchmarkt tummeln sich etliche neue Übersetzungen und Bearbeitungen sowie neue Zusammenstellungen und Ausgaben berühmter und bewährter Übersetzungen, ausgewählt von den Altmeistern der orientalistischen Wissenschaften wie Gustav Weil (erstmals 1842): Die schönsten Märchen aus 1001 Nacht, ausgewählt von Hans-Jörg Uther bei Diederichs, und Max Henning (erstmals 1897): Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, herausgegeben von Johann Chr. Bürgel und Marianne Chenou bei Reclam; die umfangreichste und in Fachkreisen meistgeschätzte Ausgabe, die Übersetzung von Enno Littmann (erstmals 1928), soll demnächst wieder erhältlich sein. Weil, Henning und Littmann legten ihren Arbeiten verschiedene arabische Fassungen des 19. Jahrhunderts zugrunde, woraus sich gewisse Unterschiede ergeben. Gemeinsam ist ihnen eine hohe Qualität der Übersetzung, eine gute Lesbarkeit und einige Auslassungen und Kürzungen. Letzteres gilt sogar für die Arbeit von Littmann, der sich besonders eng an die arabischen Vorlagen hielt und auf Vollständigkeit großen Wert legte; er verzichtete nur bisweilen auf die Wiedergabe freizügiger Liebesgedichte und Passagen erotischen Inhalts oder übertrug sie ins Lateinische – vielleicht liefert ja die Neuausgabe unzensierte Erotik auch für Leserinnen und Leser ohne Großes Latinum.

Eine Neuübersetzung ist Tausendundeine Nacht von Claudia Ott bei C. H. Beck, ein schönes, dickes, aufwendig gestaltetes Buch, in Leinen gebunden, mit Lesebändchen und einem umfangreichen Anhang. Ein auffälliges blaues Band umspannt den Umschlag, darauf steht in deutlichen Lettern: "Das arabische Original – erstmals in deutscher Übersetzung". Endlich, so soll uns das suggerieren, können wir das Original erwerben, doch leider ist dies nur ein dreister oder dummer, jedenfalls irreführender Marketing-Gag!
Otts Übersetzung folgt der arabischen Edition einer altbekannten Handschrift von Tausendundeine Nacht, die aus dem 15. Jahrhundert stammend, seit 300 Jahren in Paris liegt, Antoine Galland hatte sie ab 1704 erstmals ins Französische übersetzt, und seine Übersetzung wurde im 18. und 19. Jahrhundert wiederum in etliche europäische und außereuropäische Sprachen übertragen.

Das Buch ist dennoch sehr lesenswert und eine Bereicherung: Ott erzählt in klarer, frischer und lebensnaher Sprache, ihre Übersetzung ist frei von Eingriffen, Auslassungen und Prüderien, präzise, eng an der Vorlage orientiert und mit viel Liebe zum Detail. Der Übersetzerin gelingt es, die alten Geschichten mit all ihrer Dramatik, Komik und Erotik wieder erstehen zu lassen; auch den vielen Gedichten, die in älteren Ausgaben oft als störendes Beiwerk behandelt wurden, gibt sie den ihnen gebührenden Rang, indem sie die komplizierten arabischen Versmaße mit Leidenschaft, Fleiß und Geschick nachzeichnet.

Im Nachwort gibt Ott Auskunft über ihre Grundüberlegungen und Vorgehensweisen bei der Übersetzung, plaudert fröhlich-ungezwungen-sympatisch über ihr Leben und Arbeiten, ihre Aufenthalte in Kairo, ihren Rucksack und viele dicke Bücher, und sie gibt einen Überblick über die Entwicklungsgeschichte von Tausendundeine Nacht; dass es kein Original der Erzählungssammlung gibt und geben kann, stellt sie dabei mehrfach heraus. Tausendundeine Nacht von Claudia Ott ist ein sehr gelungenes Buch. Es endet wie die zugrunde liegende Handschrift in der 282. Nacht und inmitten der Erzählung von Kamarazzaman – wer wissen will, wie die Geschichte weitergeht und was Schehrezad in den folgenden 700 Nächten erzählte, muss anschließend eben noch zu einer anderen Ausgabe greifen.

Mehr und andere Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht liefert Rudolf Gelpke in Neue Liebesgeschichten aus Tausendundeine Nacht bei Manesse, ein schönes handliches Buch mit Lesebändchen und hübschen Illustrationen von Otto Bachmann. Für Kenner der Erzählungssammlung dürfte dies die interessanteste und spannendste Publikation im deutschen Sprachraum sein. Sie enthält sechs lange Erzählungen, von denen fünf bisher nicht in europäischen Ausgaben enthalten waren. Dies mag angesichts der Vielzahl der Publikationen merkwürdig klingen, ist aber einfach erklärt: Während allen anderen Ausgaben die arabischsprachigen Quellen zugrunde legen, wandte sich Gelpke der persischen Tradition der Erzählungen zu. Aus der großen persischen Standard-Ausgabe von Tausendundeiner Nacht wählte er einige besonders phantasievolle und spannende, bisher unbekannte Geschichten aus, in deren Zentrum gewaltige Frauengestalten und ihre Liebesleidenschaften stehen. Gelpkes Arbeit ist keine Übersetzung, sondern eine Nacherzählung; neben der erwähnten Ausgabe verarbeitete er weitere Publikationen aus dem Iran, auch Handschriften und mündliche Quellen, das Ergebnis ist beeindruckend und überaus lesenswert. Im Nachwort führt er seine Überlegungen und Vorgehensweisen aus.

Tausendundeine Nacht ist ein Sammelbecken insbesondere oral tradierter Literatur aus verschiedenen Zeiten und Regionen, die sich ständig weiterentwickelte und sich auch in Zukunft verändern wird. Weiterhin werden die Geschichten in vielen Ländern zwischen Marokko, Jemen, Syrien und Iran erzählt, gespielt und aufgeführt, aktualisiert und weitergetragen; auf Marktplätzen, in Cafés und bei vielerlei Anlässen finden sie ein großes und leidenschaftliches Publikum. Europäern bleibt diese Kultur in der Regel verschlossen – aber sie haben die zahlreichen Buchausgaben, die ja auch vorgelesen oder frei nacherzählt werden können, und eine Alternative, oder vielleicht besser Ergänzung dazu, sind die verschiedenen Hörbücher.

Die schönsten Märchen aus 1001 Nacht. Nach der Übersetzung von Gustav Weil ausgewählt von Hans-Jörg Uther. Diederichs, München 2002. 592 Seiten, 10 Euro

Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Übersetzt von Max Henning, herausgegeben von Johann Chr. Bürgel und Marianne Chenou. Reclam, Stuttgart 1995. 852 Seiten, 19,90 Euro

Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten. Übersetzt von Enno Littmann. 6 Bände. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2004. 4920 Seiten, 128 Euro (neu im September)

Tausendundeine Nacht. Übersetzt von Claudia Ott. C. H. Beck, München 2004. 688 Seiten, 29,90 Euro

Neue Liebesgeschichten aus Tausendundeine Nacht. Erstmals den persischen Quellen nacherzählt von Rudolf Gelpke, mit Zeichnungen von Otto Bachmann. Manesse Verlag, München / Zürich 1995. 701 Seiten, 24,90 Euro

Tausendundeine Nacht. Ausgewählt von Helma Sanders-Brahms. Der Hörverlag, München 2004. 4 Audio-CDs, 42 Euro

1001 Nacht. Hörbuch Hamburg 2004. 24 Audio-CDs, 99,90 Euro

Dieter Ferchl, Jahrgang 1958, studierte Arabistik, Islamwissenschaft und Volkskunde an der Universität Göttingen. Seit 1989 lebt er als Übersetzer und Sachbuchautor bei Hannover. Zuletzt erschien von ihm Die Deutung der „rätselhaften Buchstaben“ des Korans.


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