Ich bin meinem Exil dankbar

„Ich bin meinem Exil dankbar“ – Ein E-Mail mit Rafik Schami über seinen neuen Roman Die dunkle Seite der Liebe

Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus, Syrien, geboren und lebt seit 1971 in Deutschland. Seine Bücher für Kinder und Erwachsene sind in vielen Auflagen und Übersetzungen erschienen; zuletzt veröffentlichte er Die Farbe der Worte, zusammen mit Root Leeb, und Mit fremden Augen. Tagebuch über den 11. September, den Palästina-Konflikt und die arabische Welt. Mit seinem neuen Roman geht Rafik Schami wieder auf Lesetour, Auftritte sind u.a. in Renningen (weitere Orte einfügen) am 13. Oktober.


I.F. Das Thema der diesjährigen Frankfurter Buchmesse heißt "arabische Welt". Freuen Sie sich über dieses Thema? Was versprechen Sie sich von diesem Schwerpunkt, gibt es dafür ein Interesse bei uns oder deuten die 50 Übersetzungen in ihrer geringen Zahl bereits auf Desinteresse? Ist die Formulierung ”arabische Welt” vielleicht schon ein Klischee?

R.S. Ich freue mich schon, wenn auch verhalten, weil immer noch Autorinnen und Autoren in Arabien wegen ihrer Meinung verfolgt und im Gefängnis gedemütigt und gequält werden. Deshalb habe ich es abgelehnt, zur offiziellen Eröffnung zu erscheinen oder eine Rede zu halten. Ich werde auf der Buchmesse als Autor da sein, aber nichts im Namen der arabischen Länder und ihrer lächerlichen Liga vortragen. Ich bin in Frankfurt, was ich dort immer war: Rafik Schami, ein deutschsprachiger Autor syrischer Herkunft.

Die Leitung der Buchmesse hat aber eine richtige Entscheidung getroffen, denn damit regt sie in Medien und unter der deutschen Bevölkerung die Diskussion über die Freiheit des Wortes in den arabischen Ländern an, so wie sie nächstes Jahr auch mit dem Thema Korea eine Diskussion entfachen wird. Mehr können das Buch und seine Messe nicht erreichen. Politik müssen die Völker machen.
Das Wort ”arabische Welt” ist ein hilfloser Annäherungsversuch wie ”Arabien” oder ”arabische Literatur”, aber es gibt keine einfache richtige und umfassende Formulierung für die Gegend, die Palästina, den Irak, den Libanon, Marokko und Syrien benennt.

Nun, die Buchmesse diente nie, und ich betone es, nie der Verbreitung von Büchern. Das Thema muss sich beim Publikum über andere Wege durchsetzen oder nicht. Die Buchmesse war weder im Stande, Afrika, Indien, Japan und andere wichtige literarische Welten populärer zu machen, noch wird sie es bei Arabien sein. Man kann die Zahl der Übersetzungen als hoffnungsloser Optimist, wie ich es bin, als guten kleinen Schritt in die richtige Richtung deuten.

I.F. Auf der anderen, der deutschen, deutschsprachigen, mitteleuropäischen Seite steht ja ebenfalls eine heterogene Gesellschaft. Auf welchen Wegen könnte überhaupt eine Verständigung, vielleicht erst einmal wenigstens eine interessierte Offenheit füreinander wachsen? Könnte das Erzählen ein solcher
Weg sein?

R.S. Eine Verständigung entsteht nicht, solange die Überzeugung von ihrer Notwendigkeit nicht im Bewusstsein beider Seiten präsent ist. Ich habe nach dreiunddreißig Jahren Aufenthalt in Europa den traurigen Eindruck, dieses Bewusstsein existiert nur marginal, nur in geringen Spuren unter den sensibelsten Europäern. Solange das Erdöl fließt und noch keine Bomben in Europa hochgehen, ist der Mehrheit hier gleichgültig, wer wen und wie regiert. Dass diese Gleichgültigkeit ein großer Fehler war, beweist nicht nur der demütigende Einmarsch der Amerikaner. Die Besetzung des Iraks ist nicht nur für die Araber, sondern, wenn man über die Sicherheit und Kultur des Mittelmeers spricht, auch zutiefst demütigend für die passiven Europäer.

Literatur kann, wenn sie gut ist, spannend aufklären, Türen aufstoßen, aber den entscheidenden Schritt müssen Politiker vollziehen.

Man kann leider den Einfluss von Literatur und überhaupt Kunst nie direkt messen. Wer weiß, vielleicht haben die Bemühungen der arabischen Autorinnen und Autoren in Frankreich und Deutschland doch ein Millionstel dazu beigetragen, dass beide Länder im Irak-Krieg eine menschlich edle und nachahmenswerte Haltung zeigten.

I.F. Nun haben Sie selber in den letzten Jahrzehnten über 20 Bücher veröffentlicht, die inzwischen großen Erfolg haben, in zahlreichen Auflagen und 23 Übersetzungen erschienen sind. Und Sie machen seit langem viele gut besuchte Veranstaltungen für Kinder und Erwachsene. Kann man das nicht als ein positives Zeichen für ein Interesse an Ihrem Thema, dem Dialog der Kulturen, deuten?

R.S. Doch, doch. Austausch und Dialog der Kulturen entwickeln sich im Alltag effektiver durch Film, Musik und Literatur als durch Beschlüsse der Kultusminister oder Kongresse der Kulturexperten. Ich bin meinem Publikum dankbar, das mir seit über 25 Jahren treu geblieben ist. Es rührt mich zutiefst, wenn ich erfahre, dass Leute am Tag der Lesung 100-200 km reisen, um mir zuzuhören. Es erfüllt mich mit Freude und mahnt mich zugleich, besser zu werden. Diese Leute schenken den Autorinnen und Autoren das teuerste auf Erden: Zeit aus ihrem Leben, die man nie wieder ersetzen kann. Entsprechend groß muss die Achtung im Herzen der Künstler sein. Das begreifen viele nicht und führen sich auf wie eitle Affen auf der Bühne.

Ich glaube fest daran: Zuhörerinnen und Zuhörer meiner Geschichten genießen nicht nur, sondern sie werden immuner gegen Kriegs-, Rassismus- und Überheblichkeitsviren.

I.F. Nach vielen Jahren erscheint jetzt ein Roman von Ihnen, der wieder in Ihrer Heimatstadt Damaskus spielt. Sie erzählen darin eine Liebesgeschichte, aber weil sich die Handlung über ein Jahrhundert erstreckt, erfährt man sehr viel von syrischer Geschichte und Kultur. Was war der Impetus, der Beweggrund, für diesen Roman?

R.S. Ich habe als Jugendlicher erlebt, wie eine Muslimin umgebracht wurde, weil sie die Religionsgrenzen überschritten und einen christlichen Mann geliebt hatte. Das Traurige war, der Mann war es nicht wert. Er war ein Gigolo. Ich bin früher und später einigen anderen Formen der verbotenen Liebe begegnet, aber unmittelbar nach diesem Mord dachte ich, man muss über diese verbotene Liebe schreiben. Ich wusste damals intuitiv und weniger intellektuell, wie krank eine Gesellschaft ist, die Liebe mit Mord bestraft, aber ich besaß lange nicht die erzählerischen Mittel, um ein solches Thema glaubwürdig in einen Roman umzuwandeln. Das war mehr das Wunschdenken eines entsetzten Jungendlichen.

Erst mit den Jahren begriff ich die Rolle der Sippe, der Religion, des Erdöls (der Vater der Putsche) und der Wüste in der Deformierung der arabischen Persönlichkeit im letzten Jahrhundert.
Und dann suchte ich lange, sehr lange nach der Stimme des Erzählers. Das ist für mich bei diesem Roman der schwierigste Punkt gewesen, denn sehr schnell verfällt man bei verbotener Liebe in Parteilichkeit für die Liebenden und in Moralpredigten. Alles verständlich aus dem humanistischen guten Willen heraus, aber für den Romancier ist es tödliches Gift.

Erst vor ein paar Jahren fand ich einen Ausweg. Der Roman ist ein Mosaikgemälde aus 28 Kapiteln und 304 Geschichten, die miteinander filigran verbunden sind. Die Steine sind sehr knapp und dicht erzählt. Die Poesie, die Üppigkeit kommt aus der Gesamtheit der Steine. Der Roman beginnt mit einer Frage und endet nach 890 Seiten mit einer Antwort und dazwischen gibt es ein Jahrhundert bewegte und bewegende Geschichte von Menschen, die um ihre Liebe kämpfen. Gleich zu Anfang gibt es einen mysteriösen Mord, aber wie die Geschichte weitergeht, verrate ich nicht...

I.F. Ist es nicht sehr schwer und schmerzlich für Sie, Damaskus als Romanschauplatz gewählt zu haben, die Stadt, aus der Sie 1971 geflohen sind, und die Sie bis heute nicht betreten dürfen, wie wir vor zwei Jahren hautnah aus Ihrem Damaskus-Kochbuch erfuhren, das Sie über die räumliche Distanz hinweg mit Ihrer Schwester verfasst haben. Wie stehen Sie nach der langen Zeit zur Stadt Ihrer Kindheit?

R.S. Meine Antwort wird im besten Fall eine Annäherung an das komplexe Gebilde der Wahrheit. Der Roman konnte nirgends glaubwürdiger spielen als in dieser Stadt, deren Sohn ich bin, deren Gassen ich kenne und deren Dokumente ich besitze. Ich habe beispielsweise alle Stadtpläne im Wandel der Zeit, alle Nachschlagwerke für Münzen, Geldscheine, Kleider, Zeitungen etc. Für den Roman und Damaskus habe ich eine eigene Bibliothek und ein eigenes Archiv aufgebaut. Sogar für die Witze, eine beliebte Widerstandsform der Araber, gibt es genaue Aufstellungen zur Geschichte und Zeit. Und das, was im Archiv fehlte, trug ich in mir. Man sagt über Damaskus, wer in ihr sieben Jahre wohnt, wird von ihr bewohnt. Ich verbrachte 25 Jahre meines Lebens in dieser schönen Stadt.

Beim Schreiben war es zeitweise erstickend traurig und ich musste die Arbeit manchmal für Wochen ruhen lassen, weil ich mich elend fühlte, dann aber ging es wieder und bei den Lachkapiteln wurde ich mit Erinnerungen belohnt und lachte Tränen. So hielt sich die Balance zwischen Heiterkeit und Traurigkeit. Aber jetzt im Nachhinein bin ich sehr froh, dass ich manche Kapitel noch verkraftet habe.

Sie werden sehen, genau wie das Buch mit meiner Schwester ist die Dunkle Seite der Liebe eine große Liebeserklärung an Damaskus.

I.F. Und eine Liebeserklärung an die Tradition des orientalischen Geschichtenerzählens? Denn dieser Roman wirkt – schon nach der Lektüre des Einlesebuchs – wie ein riesiger farbiger Teppich, gewoben aus unglaublich vielen Fäden, und jeder einzelne hat darin seinen ureigenen Platz.

In Ihrem Tagebuch über den 11. September, Mit fremden Augen, gibt es einen Eintrag, in dem es heißt: ”Die Literatur ist ein Spiegel der Seele eines Volkes” und man könne ein Volk niemals nur durch das Studium der Geschichte, Wirtschaft, Gesetze kennen lernen, sondern man müsse vor allem die Literatur lesen. Darf man Die dunkle Seite der Liebe in diesem Sinne als einen Spiegel der syrischen Kultur nehmen, gespiegelt in Ihren Augen, also denen eines lange hier lebenden deutschsprachigen Schriftstellers, der uns den Zugang in die Fremde erleichtert?

R.S. Sie haben elegant zwei Fragen in ein Päckchen geschmuggelt. Nun. Die Form hatte ich lange gesucht. Ich finde es ohnehin merkwürdig, um nicht zu sagen komisch, wenn Autoren ihr erstes und ihr dreißigstes Buch im selben Stil schreiben. Bei jedem meiner 21 Bücher stellte sich mir die Frage, wie soll diese Geschichte erzählt werden. Ehrlich gesagt, mir ist diese Form-Frage ein wenig wichtiger als der Inhalt. Nichts gegen Liebe, Krieg, Tod, Freundschaft, Hunger und Lachen, aber das sind doch die Konstanten der Themen, die seit dreitausend Jahren unverändert blieben. Es kommt aber auf die Form an, in die diese Inhalte gegossen werden. Die Suche nach der geeigneten Form dieses Romans nahm viel Zeit in Anspruch, und als ich die Mosaikform gefunden hatte, merkte ich, wie leicht die Arbeit geworden war. Es hat natürlich große Sorgfalt in dem Aufbau der filigranen Verbindungen und etwas Mut gekostet, um jede auch so wunderbare Geschichte rauszuschmeißen, wenn sie nicht dem Aufbau unentbehrlich diente.

Nun, in meinem Roman behandle ich hundert Jahre oder drei Generationen der syrischen Gesellschaft. Ich versuche zu zeigen, wie die Herrschaft der Sippe funktioniert, dass wir mit der Sippe die Wüste überleben konnten, aber die Sippe hat uns zu ihren Sklaven gemacht. Am Ende dieser traurigen Entwicklung steht ein Saddam Hussein nicht als Betriebsunfall, sondern als logische Konsequenz. Ich versuchte zu zeigen, wie das Verbot der Liebe die Menschen deformiert hat und wie mutige Frauen und Männer dagegen Widerstand leisten und sich lieben. Die Politik ist in diesem Roman nur Requisite, weil sie mich im Grunde nicht sonderlich interessiert. Ich halte sowieso nichts von dem so genannten engagierten oder politischen Roman. Ich will eine Liebesgeschichte unter erschwerten Bedingungen erzählen. Ich wäre sehr glücklich, wenn die Leserinnen und Leser so nebenbei die syrische Gesellschaft kennen lernen, so wie ich Balzacs und Camus’ Frankreich, das alte Russland von Tolstoi bis Gorki, Marquez Kolumbien, Cervantes Spanien, Kafkas Prag, Goethes Weimar, Kraus’ und Altenbergs Wien und Heines Paris kennen gelernt, bevor ich sie betreten habe.

Was ich mit dem Roman erreichen könnte, wird die Zeit zeigen, aber schon heute bin ich meinem Exil dankbar, weil ich eine solche Geschichte niemals in meiner Heimat hätte veröffentlichen können.

Die Fragen stellte Irene Ferchl

© Claude Giger