Ausgabe: November/Dezember 2004 


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“Der Ort, an dem wir uns befinden”*

Zsuzsanna Gahse und Irene Ferchl im Gespräch über den abwesenden Herrn Esterházy


Péter Esterházy hat im Oktober den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten und sich mit einer Rede bedankt, wie sie in der Paulskirche wohl noch nie zu hören war: klug, witzig, poetisch, ernst, viel sagend und hintergründig politisch. Übersetzt wurde sie, wie Das Buch Hrabals, Eine Frau, Fancsikó und Pinta, Kleine ungarische Pornographie und anderes von Zsuzsanna Gahse. Am 4. November ist Péter Esterházy im Stuttgarter Literaturhaus zu Gast und unterhält sich mit Terézia Mora, der Übersetzerin seines Romans Harmonia Cælestis; am 7. November wird Zsuzsanna Gahse mit dem Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen für ihr neues Buch durch und durch ausgezeichnet.

Du übersetzt gerade Péter Esterházys Einführung in die schöne Literatur, ist das sein Hauptwerk?

Péter Esterházy ist erst knapp über 50, und in dem Alter braucht man noch nicht über ein Hauptwerk zu reden, wir wissen ja nicht, was er in den nächsten 50 Jahren schreiben wird, auf jeden Fall ist die Einführung in die schöne Literatur ein wirklich wichtiges Werk von ihm, in der ungarischen Originalversion hat es ungefähr 1000 dicht bedruckte Seiten, folglich schätze ich, dass es auf Deutsch ungefähr 1500 Seiten haben wird. In diesem Buch zeigt Esterházy sein Hauptanliegen, dass es ihm zum Beispiel immer um ein Gespräch mit der Weltliteratur geht, vor allem mit der Literatur des 20. Jahrhunderts.

Ich muss vielleicht vorher noch sagen, dass Die Einführung in die schöne Literatur aus mehreren Büchern besteht, man kann es sich wie eine Zwiebel vorstellen, unter deren Schale sich noch viele Bücher befinden: davon kennen wir schon einige wie die Kleine ungarische Pornographie oder Die Hilfsverben des Herzens oder Die Fuhrleute. Und innerhalb dieser Zwiebelschale befinden sich einzelne Motive, die sich zum Teil in den anderen Büchern wiederholen, es ist also ein Netzwerk, das er aufbaut und für das er seine Motive nicht nur aus seinem eigenen politischen Erleben holt, sondern es ist ein Welt-Erleben, vielleicht durch die ungarische Brille betrachtet, aber man erlebt zum Beispiel auch Camus’ oder Flauberts Erfahrungen in diesem Buch.

Einer der kleinen Texte, ungefähr 20 Seiten lang, heißt „A Hard Day’s Night”, darin beschreibt er den Tag seiner Geburt, die politische Szene damals. Sein Geburtstag ist der 14. April 1950, aber es hätte kaum erstaunt, wenn er den 16. Juni eingesetzt hätte. Dieses Datum taucht in seinen Texten immer wieder auf, und erst vor einigen Wochen hat Esterházy in einem Text zu Ulysses geschrieben, jeder Autor wisse, der 16. Juni ist der Bloomsday, nur muss der ungarische Autor zudem noch wissen, dass es auch der Tag der Hinrichtung von Imre Nagy ist. Womit man gleich unterstreichen kann, dass Esterházy nie unpolitisch ist, er ist selten vordergründig politisch, aber das Zeitgeschichtliche spielt immer eine Rolle.

Weil Esterházy immer so gerne andere Autoren zitiert, wurde er lange als postmoderner Schriftsteller apostrophiert …

Allein der Titel von „A Hard Day’s Night” zeigt, dass er nicht nur Literatur zitiert, sondern die Beatles, das finde ich bemerkenswert für einen ungarischen Autor, der die Beatles ja damals nur indirekt mitbekommen konnte. Da sieht man die Leichtigkeit und das Konzentrierte, manchmal auch tief Taurige von Esterházy, das immer gleichzeitig nebeneinander steht. Gottseidank sagt man jetzt nicht mehr postmodern zum Zitieren, denn es geht ja eher um eine Umarmung der Weltliteratur, um ein Gespräch mit ihr. In der Einführung in die schöne Literatur sieht man die Zitate, anders als in den Einzelausgaben der Bücher, als Marginalien, die Textstellen sind kursiv gedruckt, und man weiß, das ist jetzt Handke, das ist Thomas Bernhard, das ist Kafka, der hier auftaucht und mitspricht. Mir gefällt sehr gut, wie Esterházy die anderen Autoren mitsprechen lässt, ich glaube, sie können alle stolz sein, an diesem großen Dialog teilzunehmen. Oft sind es nur belanglose Sätze, die er übernimmt, zum Beispiel von einem bedeutenden ungarischen Autor, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Vorkriegszeit sehr wichtig war: Dezsö Kostolányi. Da gibt es einen Satz wie “seine zerzausten dunklen Haare hingen ihm in die Augen”, den Esterházy auch hätte erfinden können, aber er möchte Kostolányi zitieren. Und dann gibt es ein Zitat von Camus über einen blank geschliffenen Himmel, der spielt in der Pest eine Rolle in dem Augenblick, wo die Pest schon beinahe vorbei ist, ein Hoffnungszitat, das unpathetisch immer wieder bei Esterházy auftaucht. Durch die Wiederholung bekommt es so ein schönes leichtes Gewicht.

Kostolányi ist für Péter Esterházy wichtig. Ich glaube, dass er einige von dessen Geschichten aus der berühmten Sammlung weiterführen will. Die Erzählungen heißen auf ungarisch Kornél Esti, so der Name der Erzählfigur, die mal bettelarm, mal sehr reich, mal ein erfolgreicher Schriftsteller ist, mal ein Reisender, immer mit dem Namen “Kornél Esti”. Schon beachtlich von Kostolányi, dass er schon in den 30er Jahren eine Figur schaffen konnte, deren Name nicht eine klare psychologische Zeichnung, sondern nur einen Sammelbegriff bedeutet. Diese Idee führte Esterházy auch bisher schon weiter, wenn er in seinem bekanntesten Buch Harmonia Cælestis auf 400 Seiten die unterschiedlichsten Väter erfindet, die alle “Mein Vater” heißen.

Warum ist Harmonia Cælestis so berühmt geworden, hängt es damit zusammen, dass man es als Familienroman lesen kann, als Geschichte der berühmten Familie Esterházy?

Ich glaube, da kommen mehrere Gründe zusammen. Esterházy hatte seine Bücher zunächst im Residenz Verlag. Wunderbar von dem Verleger Jochen Jung, ihn schon Anfang der 80er Jahre zu veröffentlichen. Damit will ich sagen: Esterházy war eigentlich weltweit bekannt, als Harmonia Cælestis im Berlin Verlag erschien, seine Bücher werden ja längst in viele Sprachen übersetzt, sogar ins Japanische oder Finnische, nicht nur ins Amerikanische und Französische. Nun wurde dieser Roman betont als Familiengeschichte angeboten, der Berlin Verlag investierte viel Geld in Werbung, so dass es schon eine gewisse Voraufmerksamkeit gegeben hat, dann wurde das Buch auch wirklich sehr positiv wahrgenommen.

Die Verbesserte Ausgabe wurde dann als explizite politische Äußerung verstanden …

Als sich für Péter Esterházy herausgestellt hatte – er hatte Unterlagen in die Hände bekommen –, dass sein Vater ein Spitzel der Geheimpolizei gewesen war, nahm er die Last auf sich, die Hintergründe zu beschreiben und bestimmte Stellen in Harmonia Cælestis mit dem neuen Bewusstsein zu kommentieren. Diese Verantwortung, der sich Esterházy gestellt hatte, ist politisch sehr wichtig, aber er war immer schon ein politischer Autor, ob nun mit der Kleinen ungarischen Pornographie oder mit seinem ersten, dem Produktionsroman, wo er schon mit dem Titel die Regierungskreise an der Nase herumführte, weil die ja meinen mussten, es gehe um wirtschaftliche Produktionen. So dass schon viele Exemplare des Buches bestellt waren, bevor man es kaufen konnte. In allen seinen Büchern kann man die politische Verantwortung finden, aber auf die Verbesserte Ausgabe war man eben wegen Harmonia Cælestis besonders aufmerksam. Natürlich. Nur darf man das nicht überbetonen. Wobei man hinzufügen muss, dass es für jeden Leser enttäuschend ist, begreifen zu müssen, dass die illustre Vaterfigur ein Spitzel war. Und was muss das für den Autor bedeutet haben! Esterházy hat seinen Vater in verschiedenen Büchern beschrieben, schon in seiner allerersten Veröffentlichung; er war 23 oder 24, als er Fancsikó und Pinto geschrieben hat. In diesem Buch hat er seinen Vater als Doppelfigur gezeichnet, zum Teil charismatisch und anziehend, blitzgescheit und hoch kultiviert, und auf der anderen Seite sehr fragwürdig, unzuverlässig, untreu. Insofern war es letzten Endes beinahe schlüssig, wenn noch dieses i-Tüpfelchen hinzukam, das Agentendasein des Vaters.

Das erste Buch, das Du übersetzt hast, die Kleine ungarische Pornographie, hast Du als politisches Buch bezeichnet …

Es ist ein Glücksfall, den ungarischen Titel einfach so übersetzen zu können, dass die Initialen auch auf Deutsch KUP bedeuten, also die Kommunistische ungarische Partei. Dieser Titel ist so gut und herausfordernd, übrigens auch ein Verweis auf Gombrowicz und dessen Buch Pornographie, aber natürlich in erster Linie auf die Pornographie in der Politik. In Ungarn musste man das nicht erst erklären. Dieses Buch besteht aus drei Kapiteln, das erste zeigt die kaputten Verhältnisse, indem alles in einem kaputten Ungarisch geschrieben ist: es ist voller Germanismen, das heißt, das Deutsche beeinflusst das Ungarische. Nun musste ich mir natürlich überlegen, wie ich die Entsprechung in der Übersetzung finde, denn ich konnte das Deutsch natürlich nicht durch Deutsch kaputt machen; hätte ich es durch ein Französisch deformiert, dann wäre die Can-Can-Zeit zum Vorschein gekommen, Anglizismen oder Amerikanismen gingen auch nicht, und ich habe dann – schließlich helfen die einfachsten Dinge am besten - das Deutsch durch ungarische Satzvorstellungen kaputt gemacht.

Ist das nicht etwas anderes, weil das Deutsche im Ungarischen viel präsenter ist als umgekehrt?

Das ist so. Aber etwas musste passieren. Und wenn man tiefer in die Sätze schaut, sieht man, dass sie nur durch das Ungarische so kaputt sein können. Man hat ein fremdes Deutsch vor sich, kein Vorbewusstsein für die Fremdheit, und schon das ist eine Hilfe. In der Originalsprache hört man die österreichische Besatzung mit, das konnte ich nicht liefern. Obwohl ich auf die entsprechenden Wendungen genau aufgepasst habe, so dass die k.u.k.-Zeiten auch für uns vorhanden sind. Esterházy war, als das Buch erschien, hier nur Insidern bekannt, und es war mir klar, dass die Kritiker denken würden, entweder die Übersetzerin ist auf den Kopf gefallen oder der Autor spinnt. Die Kleine ungarische Pornographie befasst sich mit den Torturen, die die Ungarn in den Zeiten des Stalinismus mitgemacht haben, mit Folterungen, mit dem Gefängnis, mit den Ermordungen, die Geschichten gehen zurück bis auf die Schwierigkeiten der k.u.k.-Zeit, und Esterházy zeichnet ein riesiges Tableau, so dass es gerechtfertig ist, wenn man eine Weile braucht, um dieses turbulente Buch in allen Details zu verstehen.

Vielleicht kommen wir noch einmal auf die Einführung in die schöne Literatur zurück. Wie kann man sie beschreiben? Und ist es, wie der Titel suggeriert, ein literarisches Programm, seine Poetik?

Alle Bestandteile sind ein Lagebericht, eine Ortsbeschreibung; der Ort, an dem wir uns befinden, so hätte das ganze Buch heißen können. Zwischen den einzelnen Geschichten gibt es über die Differenzen hinaus eine Reihe von Parallelen, Satzwiederholungen, Wiederholungen der Motive. Das Buch besteht aus etwa 20 Teilen, so als würden 20 unterschiedliche Tänzer auftreten, die allerdings zusammen einen Tanz aufführen. Und Péter Esterházy steht im Dialog mit vielen lebenden und verstorbenen Autoren, vorwiegend mit der Literatur des 20. Jahrhunderts, aber er greift auch zurück, bis in die Barockliteratur und weiter zurück – es gibt ja kein Buch, das ihn nicht interessiert. So steht er auch mit völlig neuen Themenstellungen, mit der Gegenwart, im Dialog. Schon durch diesen Zugang wird man ihn immer erkennen können, so wie wir Mozart erkennen oder den sich ständig wandelnden Ligeti, am eigenen Ton. So werden wir Esterházy an seinem sprachlichen Interesse, an seinem Interesse an Witz und Sinnlichkeit erkennen. Dass er sich von neuen Fragen gerne überraschen lässt, sieht man an den vielen Glossen, die er so nebenbei schreibt und die später oft in seine Werke Eingang finden.

So weit ich sehe, übersetzt Du seine aktuellen kurzen Texte alle, und bei den Büchern, ist es da ein bestimmter Werkstrang?

Das ist einfach. Die beiden ganz dicken Bücher wollte ich nicht übersetzen, Donau abwärts und Harmonia Cælestis, weil es mich zu viel Arbeitszeit und Lebenszeit gekostet hätte, ich wäre nicht zum Schreiben meiner eigenen Bücher gekommen, aber die Zeitungsartikel und Glossen sind für mich ein Einblick in seine jeweiligen Gedanken und das übersetze ich gern. Sie sind qualitativ natürlich ganz verschieden, je nachdem, für wen er schreibt, was ihm einfällt, wie viel Zeit er hat. Und da sehe ich mich nicht als Opfer. Neulich allerdings habe ich mich bei dem Ulysses-Artikel über die FAZ geärgert: Da sind zwei Seiten über Ulysses von internationalen Autoren erschienen und nirgendwo stand der Name der Übersetzer. Das heute! Jedenfalls habe ich durch das ständige Übersetzen Esterházy immer sehr präsent und daher lebt auch die ungarische Sprache in mir.

Profitierst Du in Deinem eigenen Schreiben davon? Man profitiert ja immer von Lektüre, aber bei jemandem, der so originell ist, gibt es vielleicht mehr Anregungen?

Ich glaube, diese direkte Anregung wäre ein Nachteil. Ich habe ja ähnliche Grundbedürfnisse wie er, bin womöglich noch weniger ein Geschichtenerzähler als Esterházy. Und auf meine Weise bewege ich mich auch in den Sätzen, so dass sich die Sätze miteinander unterhalten. Ich habe bei einem italienischen Autor gelesen, sein Lebensziel sei, dass man einen einzigen Satz von ihm weiß. Das könnte ich für mich auch sagen. Esterházy wohl auch. Durch diese kleinen Ähnlichkeiten ist er mir sogar eher im Weg. Ich könnte nie etwas von ihm übernehmen, das würde ich unlauter finden. Zum Beispiel habe ich bei meinem Buch Stadt Land Fluß mit Absicht versucht, ganz schlicht zu erzählen, um ja nicht in seine Nähe zu kommen, obwohl ich ursprünglich eine andere Erzählweise vorhatte.

Damals hatte ich grade die Kleine ungarische Pornographie übersetzt. Inzwischen habe ich keine Angst mehr. Übrigens, wenn jemand sagt, ich hätte zuerst übersetzt und dann erst zu schreiben begonnen, stört mich das sehr, weil ich schon vier Bücher veröffentlicht hatte, als ich mit den Übersetzungen anfing. Und ich glaube, dass man auch besser übersetzt, wenn man eine Vorstellung vom Schreiben hat. Um auf die Anregung zurückzukommen: Vielleicht werde ich eines Tages absichtlich ein Bild, ein Motiv von ihm übernehmen, aber bisher habe ich es nicht gemacht.

Der Anlass für unser Gespräch ist ja der Friedenspreis – Du hast seine Rede übersetzt – und den bekam Esterházy vor allem für die Verbesserte Ausgabe …

Ich glaube, dass man sich anhand der Verbesserten Ausgabe daran erinnern muss, wie politisch Esterhazy seit jeher gewesen ist, im Produktionsroman, in der Kleinen ungarischen Pornographie. Oder im Buch Hrabal: Da beschreibt er ja nicht nur Ungarn, sondern die Tschechoslowakei und die dazugehörigen Probleme, in Daisy hat er Ost- und West-Berlin beschrieben – es gibt meines Wissens kein Buch von Esterházy, das nicht politisch wäre, und was ihn in meinen Augen auszeichnet und ihn auch von anderen unterscheidet, ist, dass er nie vordergründig über Politik schreiben würde: nie einen Artikel zum Irak-Krieg, nie über Serbien, so etwas lehnt er ab. Aber es gibt keinen wichtigen Text von ihm, den ich als unpolitisch bezeichnen würde.


* so lautet der Titel der ersten Geschichte in Péter Esterházys Buch Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors. 1999

 


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