Wilhelm Waiblingers emphatische Weltaneignung. Zum 200. Geburtstag des vergessenen Dichters

Von Guntram Zürn

“Ich bin 18 Jahr alt. An meinem vorigen Geburtstage gelobt ich heilig, bis zum nächsten Proben meiner Kraft zu geben. Ich hab es gegeben! Hab ein Trauerspiel, einen Roman geschrieben, habe die Griechen gelesen und … geliebt. In diesen Tagen wars, wo ich durch Liebe, Sehnen, Feuer mich als Dichter fühlte, das fremde Gewand abwarf, mein eigenes anzog, strebte, strebte! … Schon wogt mich der Strudel dahin: fort, fort! kein Halt, kein Ufer mehr! Ins Unermessliche fort! Und mir schwindelt nicht!” (21. November 1822)
Die kraftgenialische Haltung des jungen Waiblinger in diesem Zitat aus seinem literarischen Tagebuch ist keine Pose, sondern Lebensinhalt. Wo sein Streben nach dichterischem Ruhm an Grenzen stößt, reibt er sich wund. Seine Überzeugung, Dichter, ja Genie zu sein, treibt ihn um. Seine ersten viel versprechenden Werke, sein stürmischer Schaffensdrang wirken auf seine Umwelt. Waiblinger findet in seiner Zeit am Stuttgarter Oberen Gymnasium Lehrer und künstlerische Förderer mit klingenden Namen: Schwab und Uhland aus dem Kreis der Tübinger Romantiker sowie Matthisson, Haug und Weißer aus der klassizistisch geprägten Stuttgarter “Ehrbarkeit” unterstützen ihn nach Kräften. Die Professoren am Tübinger Stift, wo Waiblinger von 1822 bis 1826 studiert, sehen in ihm den zügellosen Phantasten. Die Kommilitonen und vor allem seine engsten Freunde Mörike und Bauer scharen sich bewundernd um den jungen Dichter. Waiblinger selbst fühlt sich besonders vom beinahe vergessenen, “wahnsinnigen” Hölderlin angezogen.

Als Sechzehnjähriger verteilt er sein Tagebuch an Freunde und entferntere Bekannte. Er schildert darin in zehn Oktavbänden literarische Erfahrungen: Eine unkonventionelle Autorenhackordnung unterstreicht seine verblüffende Belesenheit. Waiblinger betreibt mit rascher Auffassungsgabe Stilübungen und breitet detailliert erfundene wie erlebte amouröse Abenteuer aus.

“Des Verfassers Vorwort” zu diesem als Roman ausgegebenen Bericht offenbart, dass Waiblinger sich als Genie stilisiert und mit lodernder Emphase hoch hinaus will. Es ziert ein nicht als solches ausgewiesenes Zitat aus Goethes Wahlverwandschaften, während die poetische Figur an desssen Wilhelm Meister erinnert; betitelt ist das Skandalon mit dem Pseudonym Hugo Thorwalds Lehrjahre.

Er wohnt in dieser literaturhistorisch wichtigen Zeit zwischen 1820 und 1822 im Kleinen Graben, der heutigen Eberhardstraße bei seinem Vetter; neben vielfältigen hebräischen, griechischen und lateinischen Stilübungen, naturwissenschaftlichen Studien, Bibellese und Goldsmith' Vicar of Wakefield umfasst der Lehrplan am Oberen Gymnasium nur während eines Sommersemesters die Lektüre der Ilias von Homer, Aias von Sophokles sowie Demosthenes, Tacitus und Cicero.

Waiblinger ist zudem ein besessener Autodidakt. Er streift durch die Antikensammlung des Bildhauers Dannecker und erfreut sich an der bedeutenden Kunstsammlung und Bibliothek der Kölner Brüder Boisserée, deren Wanderausstellung mit altdeutschen und niederländischen Gemälden (später die Grundlage der Alten Pinakothek in München) in Stuttgart von 1819 bis 1827 im Offizierspavillon zu sehen ist.

Waiblinger führt eine eigenwillige Poetenexistenz. Selbst aus unzureichenden materiellen Verhältnissen stammend – er wurde 1804 in Heilbronn als Sohn des Kammersekretärs Johann Friedrich Waiblinger und dessen zweiter Ehefrau Christine Luise geb. Kohler geboren –, beeindrucken ihn die Lebensverhältnisse seiner literarischen Förderer, aber er grenzt sich dagegen ab: Sein Haar trägt er künstlerwild als schulterlang-lockige “Löwenmähne”. Noch mehr schockiert er Stuttgarts Hautevolee durch seinen Umgang mit den Schauspielern Gnauth und Miedke oder dem Tenor Krebs. Diese versuchen Waiblingers Erstlingsdrama Liebe und Haß (1822 verfasst und 1914 erstmals veröffentlicht) am Hoftheater unterzubringen.

Trotz Entschärfungen lehnt es Intendant Lehr jedoch wegen “innerer Zügellosigkeit” ab. Die Idee Waiblingers, selbst als Karl Moor aufzutreten, können ihm die Gönner Schwab, Weißer und Haug gerade noch ausreden.

Die antiken Klassiker, voran Homer, inspirieren ihn, vor allem aber Shakespeare: Am 16. Dezember 1822 notiert er in sein Tagebuch: “Ich war gestern den ganzen Abend wie in einem Rausche. Ich rannte wie besessen umher … Shakespeare! du bists dem ich nachstrebe! … es treibt mich mit furienmäßiger Gewalt, selbst zu erschaffen … Mein ganzes Innere ist mit hohen Ideen ausgefüllt!”
Manchmal plagen ihn Selbstzweifel und Unzufriedenheit: “Warum bin ich kein Göthe? Natur du bist eine Metze!” Das prägendste Vorbild ist Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther. Aus Waiblingers Haltung im Leben und teils im Werk spricht – verbunden mit der Gier nach Renommee – die reine Absicht, Werther nachzueifern, sich wie er vom Genius getrieben aus allen Bindungen zu reißen, und auch ihn treibt unerfüllte Liebe zum Suizid. Bezeichnend ist Waiblingers im Tagebuch ausführlich geschilderter Selbstmordversuch am 29. September 1821, den er auch in seinem Roman Phaëton verwertet. Mit künstlerischem Enthusiasmus hat er seine Verehrung Philippine Heims zur leidenschaftlichen Anbetung gesteigert: Vor ihren Augen stößt er sich mehrfach mit dem Messer in die Brust.

Bei seinem Einzug im Tübinger Stift am 23. Oktober 1822 ist Waiblinger bereits allseits bekannt. Auf Vermittlung von Haug sind Gedichte von ihm erschienen, als erstes das Sonett “Calderon” in der Zeitung für die elegante Welt. Im Gepäck hat er das Trauerspiel Liebe und Haß und seinen am Werther orientierten Briefroman Phaëton, den der junge Stuttgarter Verleger Franckh noch in diesem Jahr druckt, daneben auch die Lieder der Griechen, einen Gedichtzyklus über den griechischen Freiheitskampf.

Auch als Theologiestudent verachtet Waiblinger alles Konventionelle: Die Inspektoratsberichte dokumentieren seine Vergehen, ständig erntet er “Carition” (Weinentzug), allein im Sommer 1823 27-mal, kaum seltener sitzt er im Karzer. Waiblinger ist zudem nur provisorisch ins Stift aufgenommen, denn in seinem Prüfungsaufsatz über den “Werth der Wissenschaft” wurden “Auswüchse einer zügellosen Phantasie” gerügt. Der Poet nimmt das Thema mit Humor, eine oft übersehene Qualität seines Werks, die sich nicht nur in seinen Epigrammen zeigt. Ein Beispiel: Da es ihn an den Füßen friere, fasse er sich kurz: “Der Wahren (Wissenschaft) widme ich mein Leben, und wenn ich so einmal mit Kant erkannt, mit Schelling gescholten, mit Fichte gefochten und mit Richter gerichtet habe, dann schlag' ich mehr als Schlegel.”

Noch nicht zwanzig Jahre alt ist Waiblinger, als er von seinen spärlich fließenden Honoraren im Sommer 1823 das heute abgerissene “Presselsche Gartenhaus” am Österberg mietet. Die Freunde Mörike und Bauer entfliehen unter seiner Anführerschaft der strengen Zucht des Stifts. Das Trio schleppt Wein, Bier und Bücher den Berg hinauf und errichtet dort die Sprach- und Zauberwelt der Insel Orplid, die Bauer wie Mörike in dramatische Dichtung umsetzen. Zugetan ist Waiblinger vor allem Mörike, was zahlreiche Notizen im Tagebuch zeigen: „Ich kann ihn lieben … ohne gesättigt zu werden … Mörike ist mein lieber Gesellschafter, Freund und mitfühlender, mitdenkender Genosse. Unser Verhältnis ist in meinen Augen das wunderbarste der Welt.“

In dieses Gartenhaus führt Waiblinger auch Hölderlin. Verbunden im gemeinsamen Naturgenuss und eingehüllt in Pfeifenrauch gelingt Waiblinger die Annäherung an den Verwirrten. Dieser liest seinen Hyperion, Waiblinger trägt ihm seinen Phaëton vor. Mit seinem später in Rom entstandenen Aufsatz “Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn” (1827, Erstdruck 1831) begründet der jüngere die Forschung über den älteren Dichter.

Waiblinger ist auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Auf Haugs Rat beginnt er sein Drama Anna Bullen und entwirft den verschollenen Roman Lord Lilly. Allein zehn weitere geplante Schauspiele und mehrere Romane listet er am 20. Juni 1822 in seinem Tagebuch auf, von denen leider auch seine anakreontischen Lieder und die Komödie Die Frösche verloren gegangen sind, ebenso der an den Verleger Franckh gesandte Roman Feodor.

Denn für Waiblinger sollte alles anders kommen. Als er nach fortwährenden Auseinandersetzungen mit der strengen Stiftsordnung, der Trennung von seiner Geliebten Julie Michaelis und vielfältigen Verdächtigungen bis hin zur Brandstiftung schließlich Tübingen mehr oder weniger freiwillig ohne Abschluss den Rücken kehrt, macht er sich nach Italien auf, wo er mit nur 25 Jahren am 17. Januar 1830 stirbt. Das damalige Württemberg war dem jungen Genie zu eng geworden: “Schöner ist auch, nach dem Zeugnis der Alten, ein göttlicher Wahnsinn als eine menschliche Verständigkeit”, lautet – nach Platons Phaidros – das Motto seine Phaëton.

Zum Weiterlesen (Vergriffenes ist in Antiquariaten erhältlich):

Werke und Briefe in 5 Bänden sowie 2 Bände Tagebücher. Hrsg. von Hans Königer. Klett-Cotta, Stuttgart 1980ff. 300 Euro

Reprints der Gedichte, Lieder der Verwirrung, Phaëton, Friedrich Hölderlins Leben, Taschenbuch aus Italien und Griechenland 1829 / 1830 nach Ausgaben des 19. Jahrhunderts. Schwäbische Verlagsgesellschaft, Tübingen 1979 (jeweils 5 bis 15 Euro)

Mein flüchtiges Glück. Eine Auswahl. Hrsg. von W. Hartwig. Rütten & Loening, Berlin 1974

Eduard Mörike und Wilhelm Waiblinger. Eine poetische Jugend in Briefen, Tagebüchern und Gedichten. Hrsg. von Heinz Schlaffer. Hatje, Stuttgart 1993

Peter Härtling, Waiblingers Augen. Luchterhand, Darmstadt 1987

Guntram Zürn, Jahrgang 1974, hat in Stuttgart Literaturwissenschaften und Politologie studiert. Seine Magisterarbeit ging um Waiblingers Tätigkeit als Reisejournalist in Italien. Zur Zeit arbeitet er an seiner Promotion und schreibt für die Kulturredaktion der Leonberger Kreiszeitung.