Ausgabe: Januar/Februar 2005  


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Das Kapital der Klassiker - Schiller und Goethe in Anna Amalias Bibliothek

Der größte Bibliotheksbrand in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg, der Anfang September 2004 die Anna Amalia Bibliothek in Weimar verwüstete, hat nur einen Bruchteil ihrer Bestände vernichtet. Neun Zehntel der rund eine Million Bände blieben unversehrt, weil sie in Außendepots lagerten oder gerettet werden konnten. Darunter sind unersetzliche Schätze wie die mittelalterlichen Handschriften, die frühen Drucke, die Landkarten oder Nietzsches Privatbibliothek. Gleichwohl hat der Brand diese Bestände ins Mark getroffen, denn besonders groß sind die Verluste bei den Werken aus dem 17. und 18. Jahrhundert, also genau bei der Literatur, die den Humus der Weimarer Klassik bildete, bei den Werken, die Schiller und Goethe studierten und als Quellen heranzogen. Nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern wegen dieser Funktion als Ideenmagazin der Klassiker gehört die Anna Amalia Bibliothek seit 1998 zum Weltkulturerbe unter dem Schutz der UNESCO.

Als Goethe nach Weimar kam, befand sich die herzogliche Büchersammlung bereits im Grünen Schlösschen, zauberhaft gruppiert an den Wänden des jetzt oben ausgebrannten, unten vom Löschwasser durchfeuchteten Rokokosaals. Die regierende Herzogin Anna Amalia hatte 1766 dafür gesorgt, dass die Bibliothek ein eigenes Haus bekam. Ein Glück für die Bücher und für den Weimarer Musenhof, sonst wären die Bestände wenige Jahre später beim großen Schlossbrand ein Opfer der Flammen geworden.

Zu den vielen Verwaltungsaufgaben, die Goethe im Herzogtum an sich zog, gehörte seit 1797 die Oberaufsicht über die Bücher. Kaum im Amt, setzte er eine neue Bibliotheksordnung in Kraft. Er wollte die Benutzung der herzoglichen Bücher demokratisieren, sie einem möglichst breiten Publikum zugänglich machen. Goethe trieb die Katalogisierung voran und plante ein Gesamtverzeichnis aller in den Bibliotheken des Herzogtums vorhandenen Bücher. Daraus wurde zwar nichts, aber bis zu Goethes Tod verdoppelte sich der Bestand der Weimarer Bibliothek auf über 130 000 Bände. Der Anschaffungsetat stieg von jährlich 600 auf 12 000 Taler – vielleicht sollten heutige Bildungs- und Kulturpolitiker sich den alten Goethe mal wirklich zum Vorbild nehmen. Er war mit 2276 dokumentierten Entleihungen auch der fleißigste Benutzer. Zum Vergleich: Goethes stattliche Privatbibliothek im Haus am Frauenplan zählte zuletzt 6500 Bände. Dazu bildete die öffentliche Hofbibliothek im Grünen Schlösschen eine wichtige Ergänzung, zumal wenn man als Minister deren Neuerwerbungen beeinflussen konnte.

Nicht minder wichtig war das Bucharsenal für den Historiker und Dramatiker Schiller, zumal jener weit knapper bei Kasse war und sehr viel weniger Bücher als Goethe besaß. Die Rekonstruktion von Schillers Bibliothek im 41. Band der Nationalausgabe umfasst knapp 700 Titel. Schiller war kein Büchernarr. Wenn er ein Schreibprojekt abgeschlossen hatte, trennte er sich nicht nur von den Manuskripten, sondern auch von den benutzten Büchern. So beteiligte er sich 1799 mit Goethes Genehmigung an einer Dublettenauktion der Weimarer Bibliothek, die eigentlich der Aufstockung des Erwerbungsbudgets diente. Schiller bot bei dieser Gelegenheit 58 teils mehrbändige Werke zum Verkauf an.

Die Weimarer Bibliothek war für ihn auch ein unentbehrliches Hilfsmittel bei der literarischen Produktion. "Ich bin gezwungen auf die Bibliothek zu gehen, um eine ganze Literatur zusammen zu suchen. Mein Stück führt mich in die Zeiten der Troubadours, und ich muß, um in den rechten Ton zu kommen, auch mit den Minnesängern mich bekannter machen", schrieb Schiller am 2. August 1800 an Goethe. Da arbeitete er gerade an seiner Jungfrau von Orleans und lieh sich Bücher über Hexenprozesse und das Nibelungenlied aus. Für Wallenstein deckte er sich mit Literatur über Böhmen ein, für Maria Stuart mit Werken über die englische Geschichte. Manche der ausgeliehenen Bücher behielt er dreieinhalb Jahre, was auf gewisse Privilegien bei der Benutzung schließen lässt. Wie auch ein Schreiben Schillers an Goethe aus Jena vom 26. April 1799: "Wollten Sie die Güte haben und gegen beiliegende Scheine die notierten Werke aus der Bibliothek für mich holen und durch das Botenmädchen senden zu lassen. Camden habe ich schon mitgenommen, aber den Schein vergessen zurück zu lassen. Wenn Sie mir, etwa aus der Sammlung des Herzogs den Genzischen Historischen Calender, der das Leben der Maria Stuart enthält, verschaffen könnten, so wäre mir das sehr angenehm."

Die Bibliothek war Mittelpunkt der lebendigen Lesekultur im klassischen Weimar, zugleich entwickelte sie sich schon zu Goethes Lebzeiten zur Walhalla der kleinen Residenz. Porträtbüsten der großen Dichter und Denker Weimars schmückten den Rokokosaal neben den Fürstenporträts, von denen viele beim Brand im vergangenen Jahr zerstört wurden. Ein makabrer Höhepunkt des Dichterkults war die feierliche Aufstellung der Schillerbüste, die der schwäbische Bildhauer Dannecker erst nach dessen Tod fertig gestellt hatte. Herzog Carl August erwarb sie 1826 aus dem Nachlass von Schillers Witwe. Im selben Jahr suchte der Weimarer Bürgermeister Schwabe im Kassengewölbe auf dem Jakobsfriedhof nach Schillers sterblichen Überresten. Ein Schädel, in dem er den des Dichters zu erkennen glaubte, fand seinen Platz im Sockel der Danneckerschen Büste. Damit wurde die Bibliothek – nicht nur symbolisch, sondern ganz real – zum Beinhaus und Mausoleum.
Allerdings nicht lange. Goethe lieh sich den Schädel alsbald nach Hause aus, um ihn dort reinigen zu lassen. Fast ein Jahr behielt er die Reliquie bei sich und schrieb in dieser Zeit das berühmte Gedicht auf Schillers Schädel, in dem es zunächst heißt: "Und niemand kann die dürre Schale lieben / Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahre". Dann aber glaubt das lyrische Subjekt einen "Lebensquell" in der toten Materie zu erspüren: "Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, / Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?"

Im August 1827 kehrte der Schädel noch einmal in die Bibliothek zurück, denn König Ludwig I. von Bayern weilte in Weimar und wünschte das Kultobjekt zu besichtigen; danach dichtete auch er:

„Nicht berühren durft´ ich deine Lippe,
Knüpfen nicht der Freundschaft ew´gen Ring,
Sehen konnte nur ich das Gerippe,
Das die schönste Seele einst umfing,
Den betrauern, der so früh verging.“

Der Reliquienkult um Schillers Schädel erregte freilich den Unmut der protestantischen Geistlichkeit im Herzogtum, und auch Schillerfreunde jenseits der Landesgrenzen zeigten sich befremdet. Um dem Gerede ein Ende zu machen, befahl der Herzog noch im selben Jahr die Umbettung des Schädels und der Schiller zugeschriebenen Knochen in die neu erbaute Fürstengruft. Dort lagern sie bis heute und warten auf eine klärende DNA-Analyse.
Statt des Schädels wurde später eine Totenmaske Schillers im Sockel seiner Büste in der Weimarer Bibliothek eingesargt. Beim Versuch, möglichst viel aus dem brennenden Bau zu retten, ist sie im vergangenen Herbst zerbrochen. Sie kann aber restauriert werden – auf Kosten der Deutschen Schillergesellschaft in Marbach.

Eine Bibliothek sei ein "großes Kapital, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet", schrieb Goethe einmal. Zu den Erträgen der Bibliothek Anna Amalias gehören Goethes und Schillers Werke aus der Weimarer Zeit, nicht eingerechnet die Zinseszinsen der Forschungsliteratur. Wenn nun in Ludwigsburg dazu aufgerufen wird, bei den Veranstaltungen zum Schillerjahr einen Obulus zugunsten der ausgebrannten Bibliothek zu entrichten, dann ist das nur konsequent. Haben doch Schillers Leser schon immer, wenn auch meist unbewusst, von Anna Amalias Bibliothek profitiert.


Über den genauen Umfang der Brandschäden an der Bibliothek wie Rekonstruktionspläne und Spendenaktionen informiert eine hervorragend gestaltete Hompepage der Stiftung Weimarer Klassik: www.anna-amalia-bibliothek.de

Spendenkonto für Restaurierung und Wiederbeschaffung von Büchern:

Stiftung Weimarer Klassik- und Kunstsammlungen
Deutsche Bank AG Erfurt, Kto: 289 002 808, BLZ 820 700 00.
Kennwörter: "Fruchtbringende Gesellschaft" (für die Wiederbeschaffung) oder "Buchpatenschaften" oder "Restaurierungsbaustein"

Spendenkonto für den Wiederaufbau des Gebäudes:
Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e. V.
Sparkasse Mittelthüringen, Kto: 301 040 400, BLZ 820 510 00

Zum Weiterlesen:

… auf daß von Dir die Nach-Welt nimmer schweigt. Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar nach dem Brand. 128 Seiten, 100 Abb., 12 Euro

Michael Knoche (Hg.), Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Kulturgeschichte einer Sammlung. Hanser Verlag, München 1999. 261 Seiten, 116 Abb., 19,50 Euro

Albrecht Schöne, Schillers Schädel. C. H. Beck Verlag, München 2002. 112 Seiten, 12 Euro

Robert Boxberger, Schillers Lectüre. In: Archiv für Litteraturgeschichte, Band 2 (1872), Leipzig 1872, S. 198-216

Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 41, Teil 1: Schillers Kalender / Schillers Bibliothek. Hrsg. von Georg Kurscheidt und Andreas Wistoff. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 2003


Michael Bienert hat zuletzt das Marbacher Magazin 106 über Schiller in Berlin publiziert. Er ist Autor zahlreicher Bücher und berichtet für das Feuilleton der Stuttgarter Zeitung aus Berlin.

Mehr auf seiner Homepage: www.text-der-stadt.de


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