Wahre Geschichten - Die Doppelspiele von Sophie Calle und Paul Auster

Sophie Calle zählt in Frankreich zu den wichtigsten KünstlerInnen der Gegenwart, und auch in Deutschland ist sie keine Unbekannte mehr. In Berlin und im Pariser Centre Pompidou war im vergangenen Jahr eine große Retrospektive ihrer Foto- und Rauminstallationen zu sehen. Dazu ist kein gewöhnlicher Ausstellungskatalog erschienen, sondern ein bibliophiles Künstlerbuch mit gepolstertem Einband, unterschiedlichen Papiersorten, Fotos und Notizen. Auch in ihren Wahren Geschichten geht es, wie in allen Arbeiten der 1953 geborenen Künstlerin, um Voyeurismus und Intimität, um Identität und Erinnerung.

Sophie Calle erzählt Geschichten, und ihre Ausstellungen muten dem Betrachter eine Menge Lesestoff zu. Fotos, Objekte und Texte arrangiert sie zu Installationen, die von ihren eigenen Erlebnissen und Aktionen berichten. Häufig entstehen im Laufe der Zeit verschiedene Variationen ihrer Arbeiten. So inszenierte Calle ihren Zyklus „Autobiographies“ im Museum als Rauminstallation. Dieselben True Stories oder Histoires vraies existieren aber auch als großformatiger Fotozyklus wie als handliche Buchausgabe.

Doch was soll man von diesen Wahren Geschichten halten? Kann das wirklich wahr sein? Etwa die „Traumhochzeit“: „Beinahe hätte ich einen Mann geheiratet, der für drei Jahre nach China gehen wollte. […] Wie eine Kriegsbraut, deren Liebster an die Front zieht, wollte ich ihn vor dem Abflug auf der Rollbahn ehelichen.“ Verhandlungen mit den Flughafenbehörden, Genehmigung des Bürgermeisters, Brautkleid, alles war bereits geregelt, doch dann kam die Absage von höchster Stelle. „Am 7. Oktober habe ich ihn zum Flughafen begleitet, um ein einziges Mal mein Kleid einzuweihen und unsere Hochzeit zu betrauern. Dann kehrte ich wie geplant alleine heim.“ Auf dem dazugehörigen Foto steht Sophie Calle im roten Brautkleid einsam in der menschenleeren Abfertigungshalle des Flughafens.

Andere Geschichten erzählen von Kränkungen der Kindheit, wundersam wachsenden Brüsten und kruden Liebesaffären, von Erlebnissen als Striptease-Girl und Aktmodell, in gleichbleibend lakonischem Ton gehalten, geradezu banal. Als Belege dienen „echte“ Erinnerungsstücke: Brautkleid, Liebesbriefchen, angekokelte Betten und ausgestopfte Katzen. Ein Panoptikum der Verletzungen, Sehnsüchte, Erfahrungen und Phantasien.

Auch der amerikanische Schriftsteller Paul Auster hat in seinem Bändchen Das rote Notizbuch kleine Geschichten gesammelt, die das Leben schrieb: unwahrscheinliche Zufälle und Zusammentreffen, Namensdoppelungen und Déjà-vu-Erlebnisse. Doch während Calles Arbeiten egozentrisch in Spiralen und Ellipsen die eigene Person umkreisen, fixiert Austers Blick auch die Menschen und Lebenswege um ihn herum.

Meister im Verwirren von Realität und Fiktion sind sie beide. Und seit Austers Roman Leviathan aus dem Jahr 1992 haben sich die Fäden ihrer Erzählungen und Lebenswege auch unmittelbar miteinander verschlungen. Auf dem Vorsatzblatt des Buches heißt es: „Der Autor dankt Sophie Calle für die Erlaubnis, Fakten und Fiktion vermischen zu dürfen.“ Und so begegnet der Leser auf Seite 83 der Taschenbuchausgabe einer blonden Frau namens Maria Turner, die zwar äußerlich das genaue Gegenteil der kleinen, zierlichen, brünetten Sophie Calle ist, die sich aber als wahre Doppelgängerin der französischen Künstlerin entpuppt: „eine unorthodoxe Frau, die ihr Leben einer Reihe ebenso raffinierter wie bizarrer Privatrituale unterwarf […]. Manche nannten sie eine Fotografin, andere sahen in ihr eine Vertreterin der Concept Art, wieder andere hielten sie für eine Schriftstellerin, aber keine dieser Bezeichnungen war zutreffend.“

Es ist ein Roman der unwahrscheinlichen Verwicklungen und Überblendungen, wie Auster sie liebt. Schon seine berühmte New York-Trilogie ist voll von Spiegelungen des Autoren-Ich, die sich in Facetten um die reale Person Paul Auster drehen. Da gibt es einen Detektiv mit Namen Paul Auster, in dessen Rolle durch Zufall ein Schriftsteller namens Daniel Quinn gerät. Der wiederum scheint ein Alter Ego des Autors zu sein und wechselt im Laufe der Handlung seinerseits die Identitäten. In einer Nebenrolle erscheint überdies der Schriftsteller Paul Auster mit seiner Frau, der Autorin Siri Hustvedt, und Söhnchen Daniel, ganz wie aus dem Leben gegriffen. Das Spiel der Identitäten ist potentiell unendlich.

In seinem Leviathan dehnt Auster seine Strategie auch auf die Person Sophie Calles aus. Er flicht ihre Biographie in die Romanhandlung ein und erzählt von lauter merkwürdigen künstlerischen Arbeiten, für die in Wahrheit Sophie Calle bekannt geworden ist. Erwähnt wird etwa jene Aufsehen erregende Aktion, in der sie aus einer Laune heraus einem Unbekannten nach Venedig folgte, um ihn zu beschatten, oder wie sie sich selbst von einem eigens angeheuerten Privatdetektiv observieren ließ. Schließlich erzählt er jene Geschichte, die mit einem gefundenen Notizbuch beginnt. Sophie Calle nahm Kontakt zu den darin vermerkten Personen auf, um etwas über den ihr unbekannten Besitzer des Adressbuches in Erfahrung zu bringen, und publizierte die Ergebnisse fortlaufend in einer Tageszeitung. In Paul Austers Roman wird diese Notizbuch-Recherche zum Ausgangspunkt unvorhersehbarer Ereignisse mit tödlichem Ausgang. Rasant vergrößert sich der Abstand zwischen der Figur der realen Sophie Calle und der Romangestalt Maria Turner. Sie ist es, die – obwohl keineswegs die Hauptfigur des Romans – die ganze Geschichte ins Rollen bringt: „vielleicht nicht Maria als Frau aus Fleisch und Blut, aber Maria als lenkender Geist des Zufalls, als Göttin des Unvorhersehbaren.“ Durch sie kommt der Schriftsteller Ben Sachs schließlich zu Tode, doch: „Auf Grund irgendeiner Verwechslung […] hatte Sachs nie so ganz begriffen, wer Maria Turner eigentlich war […]. Für ihn war Maria Turner eine kleine Brünette mit langen Haaren, und wann immer ich ihm von ihr erzählt hatte, hatte ihm dieses Bild vorgeschwebt.“ Dies Bild wiederum entspricht ganz der „echten“ Sophie Calle.

Das literarische Verwechslungsspiel scheint der Künstlerin größtes Vergnügen bereitet zu haben, und sie spielte den Ball ohne Zögern zurück. Sie begann nämlich, einige von Auster erfundene künstlerische Arbeiten der Maria Turner in Wirklichkeit auszuführen, um ihre Vita der Romanheldin noch stärker anzunähern. Sie stellte, wie von Auster beschrieben, jeden Tag der Woche unter das Motto eines bestimmten Buchstabens und unterzog sich seinen monochromen Diätvorschriften: montags orange (Karottenpüree, Shrimps und Melone), dienstags rot (Tomaten, Tartar und Granatäpfel), und so weiter …

Dabei fing Sophie Calle erst recht Feuer; sie bat Paul Auster um eine eigens für sie entworfene Handlungsanweisung – woraus sich, so dachte sie, wiederum ein Roman entspinnen könnte. Ein ganzes Jahr ihres Lebens wollte sie einem von ihm erdachten Skript unterwerfen. Doch dem Autor wurde die Sache zu heikel. Er schickte ihr lediglich ein wenige Seiten umfassendes Konzept, das „Gotham Handbook“, mit „Personal Instructions for SC on How to Improve Life in New York City (because she asked …)“: Sie solle unbekannte Passanten anlächeln, Bettlern Sandwiches und Zigarretten schenken und irgendeinen öffentlichen Ort verschönern. Calle reiste unverzüglich nach New York. Sie führte akribisch Buch über Lächeln und Gegenlächeln, brachte Klappstullen an den Mann und verzierte eine Telefonzelle mit Blumen, Keksen und Klappstühlen. Sie erntete Beleidigungen, Begeisterung und Gleichgültigkeit – und beschloss das Projekt durch ein gemeinsames Abendessen mit Paul Auster.

Natürlich ist dieses Wechselspiel schließlich auch wieder zum (Künstler-)Buch geworden. In Französisch und Englisch dokumentiert Doubles-Jeux bzw. Double Game den ganzen Prozess, angefangen vom Roman Leviathan. Eingeheftet sind sogar die entsprechenden Textpassagen im Druckbild der amerikanischen Ausgabe – versehen mit handschriftlichen Rotstift-Korrekturen der Künstlerin, die Satz für Satz markieren, wo die Romanfigur von ihrer Person abweicht. Und auf dem eingehefteten Vorsatzblatt steht: „The author extends special thanks to Paul Auster for permission to mingle fiction with fact.“

Zum Weiterlesen:

Sophie Calle, M´as-tu vue? Did you see me? Prestel-Verlag, München 2004. 446 Seiten, auf sieben Papieren gedruckt, mit beigehefteten Postkarten, über 500 Abb., 69 Euro (nur englisch und französisch)

Sophie Calle, Wahre Geschichten. Prestel-Verlag, München 2004. 84 Seiten, zahlreiche Abb., 14,95 Euro

Sophie Calle und Paul Auster, Doubles-Jeux. 7 Bände im Schuber (frz.). Actes Sud, Arles 2002. 42,75 Euro (engl. Ausgabe vergriffen)

Paul Auster, Leviathan. 1996. 320 Seiten, 8,90 Euro

Paul Auster, Das rote Notizbuch. 2001. 62 Seiten, 6,50 Euro

Paul Auster, Die New York-Trilogie. 1989. 384 Seiten, 8,90 Euro (alle Rowohlt Taschenbuch)


Elke Linda Buchholz, geboren 1966, lebt als freie Autorin und Kunsthistorikerin in Berlin. Sie schreibt u.a. für das Feuilleton der Stuttgarter Zeitung, zuletzt erschien von ihr 2003 der Band Künstlerinnen. Von der Renaissance bis heute bei Prestel.