Auf Lesereise: Von „Wasserglas-Lesungen“ bis „Slam-Poetry-Performances“

Im April 1913 hält sich Else Lasker-Schüler in Prag auf. Eine Lesung aus ihren Werken steht bevor: “Halb neun schlägt es, aber noch immer liegt sie im Künstlerzimmer auf der Ottomane […] Blättert in den Gedichtbänden. Schwankt. Weiß nicht was sie wählen soll. Die Freunde machen Vorschläge. Das Publikum klatscht. Und endlich kommt sie herein. In einem Kleid, das des Himmels Blau trägt und zeitlos ist. Wie ein trotziger Knabe steht sie oben. Nur den Kopf sieht man und den schlanken Hals. Die kurzen braunen Locken der Pagenfrisur rahmen ein merkwürdig interessantes Gesicht ein. Das einer russischen Nihilistin gehören kann. Oder einem Propheten. Noch eine kurze Pause – dann beginnt sie zu lesen. Mit halbem Mund, die eine Seite ist bewegungslos. Und mit jedem Wort baut sie eine neue Welt auf, gibt den Bildern, die im Lesen manchmal unklar grau erschienen, Helle und Leuchtkraft, gibt ihnen Tiefe. Gibt ihnen Klang und Farbe. […] Atemlos horchen alle. Wie unter einem Bann. Die Augen ihrer jungen Freundes- und Bewundererschar brennen ihr entgegen. Demut und Verehrung liegt in ihnen.” So berichtet damals die Essayistin Marie Holzer in der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion über den Abend.

Worin liegt der Reiz einer Lesung? Reinhard Tgahrt hat dem ersten Band der von ihm herausgegebenen Anthologien Dichter lesen ein Motto vorangestellt, das diese Frage wenigstens zum Teil beantwortet. Es stammt von dem in seiner Zeit sehr populären Schriftsteller und Schauspieler Karl von Holtei: “Ob man die großen Dichter vielleicht erst dann verstehen lernte, wenn man sie nicht mehr aus Büchern zu lesen brauchte? Wenn man sie – “tönenden Rhapsoden” gleich – selber hörte?” Marie Holzer geht um einen ganz wesentlichen Aspekt weiter, wenn sie Else Lasker-Schülers Auftritt zugleich als Performance einer außergewöhnlichen Persönlichkeit beschreibt. Zum Besuch einer Lesung gehört eben nicht nur die Neugierde auf den gesprochenen Text, sondern auf das Erlebnis der Begegnung. Wer etwa Harry Rowohlt als Gesamtkunstwerk ankündigen wollte, könnte mit Fug und Recht titeln: “Harry Rowohlt liest und trinkt”.

Jede Zeit hat ihre Zirkel und ihre Kultfiguren, auch bei Lesungen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als diese noch nicht kommerzialisiert waren, zogen die privaten Vorleseabende von Ludwig Tieck, bei denen er sowohl eigene Werke als auch Dramen der Weltliteratur vortrug, Gäste aus ganz Europa an. Um weit mehr als nur ums Vorlesen und Zuhören ging es in den berühmten Berliner Salons von Dorothea Veit, Henriette Herz und Rahel Levin, in denen diese Gelehrte und Dilettanten, Künstler und Dichter, Beamte und Militärs, Bürger und Adlige, Juden und Christen zu “geistreicher Geselligkeit” versammelten. Ein öffentliches Publikum gab es dort so wenig wie über hundert Jahre später bei der Gruppe 47, in der Autoren untereinander ihre Texte vortrugen und diskutierten.

Wer im frühen 20. Jahrhundert nach Autoren sucht, die gleichermaßen für ihre Texte wie für ihre Vortragskunst berühmt waren, stößt unweigerlich auf Karl Kraus. Seine Lesungen sind legendär. Davon zeugen enthusiastische Berichte der Zeitgenossen, aber auch historische Tondokumente, Fotos und Zeichnungen des gestikulierend und mit ausgeprägter Mimik lesenden Kraus. Die expressionistischen Autoren gaben Lesungen, sowohl offizielle, das heißt organisierte Veranstaltungen, wie auch spontane in halböffentlichem Kreis, wenn sie sich in ihren Lieblings-Kaffeehäusern trafen. Für die Dadaisten gehörte die Performance ganz wesentlich zum künstlerischen Selbstverständnis. Bei ihren Auftritten spielten sie auf grandiose Weise mit der Verständlichkeit bzw. Unverständlichkeit von Texten.

Ikonen der Vortragskunst wie Karl Kraus sind Ausnahmeerscheinungen. Trotzdem gibt es im 20. Jahrhundert eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren, deren Bekanntheit in Verbindung mit einer typischen, manchmal sehr eigentümlichen Vortragsweise steht. Zu ihnen zählen Elias Canetti, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker oder auch Oskar Pastior, um nur ein paar Namen herauszugreifen. Seit geraumer Zeit garantieren so unterschiedliche Schriftsteller wie Max Goldt, Harry Rowohlt, Rafik Schami und, nicht zu vergessen, auch die Stars der Poetry Slam-Szene, wann und wo immer sie auftreten, gut gefüllte Säle. Ebenso kann man sich schon heute einer ausverkauften Veranstaltung gewiss sein, wenn dieser Tage die Zeitungen ankündigen, die Gruppe 47 – zumindest ein Teil von ihr – werde am 15. April noch einmal tagen und Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf würden an diesem Tag in Lübeck das erste Mal seit 1967 wieder gemeinsam aus ihren Werken lesen,

Viele Verlage schicken ihre Autoren auf regelrechte Lesemarathons – eine zweischneidige Sache. Denn so wichtig dies ist, um neue Bücher oder junge Autoren bekannt zu machen und vice versa dem Autor oder der Autorin die Möglichkeit zu geben, mit ihren Lesern bekannt zu werden, so strapaziös sind diese Lesereisen auch. Manche Autoren absolvieren sie routiniert, vielleicht sogar mit Freude, andere akzeptieren sie schlicht als Tagesgeschäft, das neben dem Schreiben im heutigen Literaturmarkt eben auch zu ihrer Profession gehört – und ihnen einen Gutteil ihres Einkommens beschert. Von den Strapazen einer Lesereise haben sich einige erholt, indem sie sich die schönsten, skurrilsten oder auch anstrengendsten Erlebnisse von der Seele schrieben und kurzerhand wieder zu Literatur machten, wie Rafik Schami mit viel Charme und Humor: “Mein Rekord lag bei 160 Lesungen im Jahr, nicht gerechnet Seminare, Radiosendungen und Tagungen. […] Ich hatte Glück, dass ich jahrzehntelang auf Vorrat geschrieben habe, denn nun konnte ich all die Bücher veröffentlichen und dabei munter reisen”. Sieben Doppelgänger heißt sein Buch, in dem er diese Geschichten erzählt, und sieben Doppelgänger sind dort die Lösung für die qualvolle Situation, bei “über tausend Anfragen im Jahr” dauernd nein sagen zu müssen: “Die Doppelgänger würden mir erlauben, auch die kleinsten Bibliotheken und Buchhandlungen zufrieden zu stellen und damit auch mein Publikum.” Was dabei herauskommt, kann man sich ausmalen – oder bei Schami nachlesen.

Henning Boëtius hat seine Erlebnisse, die er unterwegs als “Gast bei deutschen Buchhandlungen” machte, in einer Der Lesereiser betitelten Sammlung von Erzählungen festgehalten. Um nicht allzu verbittert von den vielen halb oder fast ganz leeren Veranstaltungsräumen, der Unterbringung auf Wohngemeinschafts-Matratzen, exotischen und nicht immer bekömmlichen Speisefolgen, peinlich unbeholfenen Einführungsworten oder unverhofft gekürzten Honoraren berichten zu müssen, entschied sich Boëtius, seinem Erlebnisbericht den freundlichen Plauderton der historischen Reiseliteratur zu geben. Als Motto hat er seinem Lesereiser ein Zitat aus Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser vorangestellt: “Das Jahr, welches Reiser in dieser Lage zubrachte, war, obgleich jeder ihn glücklich pries, in einzelnen Stunden und Augenblicken eines der qualvollsten seines Lebens.” Nicht alle Autoren begegnen ihrem Publikum mit so viel Witz und Milde wie Boëtius. Von Else Lasker-Schüler, Expertin nicht nur für die feinsten lyrischen Töne, sondern auch für harsche Abrechnungen, sind ans Publikum gerichtete Worte wie diese überliefert: “Hören Sie, gehen Sie raus, Sie gefallen mir nicht. Ihre Ausstrahlung kann ich nicht vertragen. Wenn Sie da sitzen, dann kann ich nicht lesen. Ich nicht.”

Der Gerechtigkeit halber sei aber doch auch erwähnt, dass Lesereisen nicht nur für die Autoren, sondern auch für die Organisatoren ziemlich aufreibend sein können. Klaus Siblewski, der Ernst Jandl viele Jahre nicht nur lektorierend begleitet hat, gibt in seinen aus Notizen rekonstruierten Telefongesprächen mit Jandl die folgende Situation wieder: “19. 9. 98, 2. Anruf: Ihm falle erst jetzt in vollem Umfang auf, dass die Absage der Lesung in Bielefeld anscheinend ein Irrtum gewesen sei. Er sei vor kurzem, also eben erst, auf seinen richtigen Terminkalender gestoßen, habe darin nachgesehen und festgestellt, dass die Lesung gar nicht am 17. sei.

Dort stehe, die Lesung in Bielefeld solle am 19. September stattfinden. Am 19. September stehe aber kein Besuch bei einem Arzt aus und auch sonst nichts, womit gerechnet werden müsse – soviel sich im Augenblick sagen lasse. Also könne er am 19. September in Bielefeld lesen. Ob da noch etwas zu revidieren sei und die Absage rückgängig gemacht werden könne? Allerdings müssten die Veranstalter gleich darauf vorbereitet werden, dass vielleicht doch noch ein Arzttermin hineinschneien könne. Oder solle er abgesagt jetzt als abgesagt ansehen? Allerdings falle ihm eben erst auf, also jetzt, während er rede, dass der 19. ja heute sei.”

Manche Autoren und auch manche Kultureinrichtungen betrachten den Boom, den Lesungen seit etlichen Jahren erleben, mit großer Skepsis und als einen bedenklichen, jedenfalls intellektuell relativ wertlosen Auswuchs der Event-Gesellschaft. In dieser Weise hat sich der Autor Daniel Kehlmann schon mehrfach öffentlich geäußert. Seine Argumente sind aus Autorenperspektive völlig plausibel. Sie zielen auf die Frage, wie im literarischen Bereich eine künstlerische Existenz heute möglich sein kann: “Auf den deutschen Autor der Gegenwart […] lauert die prosaischere Verführung des Funktionärsdaseins: Von allen Seiten schlägt ihm die Nettigkeit eines Betriebes entgegen, der ihn am liebsten ununterbrochen in Jurys sähe, auf Autorentreffen, bei Lesefestivals und Rundfunkdiskussionen, als Vortragender in städtischen Bibliotheken. Das Zerstörerische dieses Daseins liegt nicht bloß darin, dass es einen vom Schreibtisch fernhält, sondern, subtiler noch, dass sich ganz von selbst das unter solchen Bedingungen Geschriebene auf einen Ton vorsichtigeren Mittelmaßes stimmt, auf ein abgesichertes, vortragskompatibles Niveau, das schon von vornherein weiß, was ihm die Zustimmung des professionellen Publikums eintragen wird, und das darüber hinaus keine Risiken eingeht.”

Für viele Autoren sind aber Lesungen schlicht eine ökonomische Notwendigkeit. Daran verzweifelte auch schon Else Lasker-Schüler. Sie forderte deshalb: “Der Staat hätte die Pflicht mich zu ernähren.” Seit 1980 gibt es in Darmstadt den Deutschen Literaturfonds e.V. als staatliche Einrichtung zur Förderung der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Gunther Nickel, der dort als Lektor beschäftigt ist, lehnt Lesungen als ein Instrument der Literaturförderung kategorisch ab: “Ich bin kein Freund von Literaturlesungen. Das ist in Deutschland so inflationär geworden, dass ich nicht glaube, dass das noch eine angemessene Form von Literaturförderung ist.” Er setzt deshalb – ganz auf der Linie Kehlmanns – lieber auf Stipendien, die es herausragenden Autoren ermöglichen, ein begonnenes Buch zu Ende zu schreiben.

Das so weit verbreitete Bedürfnis, Sprache und Literatur in einer Authentizität zu erleben, die über das gedruckte Wort hinausgeht, ist nicht einfach nur ein von Marketingabteilungen künstlich erzeugtes Bedürfnis und deshalb auch mit dem Schlagwort “Event” nicht zu erledigen. Allein einen Überblick über sämtliche regionalen und überregionalen Lesefestivals im deutschsprachigen Raum zu behalten, ist kaum möglich; von den tausenden von Einzel-Lesungen ganz zu schweigen. Der Beliebtheit von Lesungen entspricht eine wachsende Reihe assoziierter Phänomene. Vor zwei Jahren erschien im Kölner Tropen Verlag ein Buch Auf kurze Distanz, das sich mit der “Autorenlesung als Kunstform” beschäftigt und beides zugleich sein will: eine Anthologie mit Texten von zeitgenössischen Autoren, die bekannte Lesereisende sind, und ein Praxisleitfaden zur ideenreichen Durchführung von Lesungen. Aus Liveaufnahmen des WDR hat Jess Jochimsen in der Reihe Die Vorleser eine eigene CD mit dem Titel Auf Lesereise zusammengestellt – eine bis auf ein paar hübsche Sequenzen wenig originelle und mehr dem Klamauk verpflichtete Reihung von Anekdoten über komische Situationen, in die Autoren auf Lesereise geraten. Dagegen sind in den Editionen einzelner Hörbuch-Verlage, die Originalaufnahmen von Autoren, zum Teil sogar Mitschnitte von Lesungen bieten, immer wieder veritable Schätze zu heben. Auch einige Buchverlage bieten auf ihren Homepages Links zu Hörproben ihrer Autoren an. Es ist nicht mehr zu übersehen: Neben die klassische Lesung – Tisch, Lampe, Wasserglas – tritt als neue Form die multimediale Lesung.

Als einen Vorläufer mag man die Literaturtelefone betrachten, die es vor Jahren in zahlreichen Städten gegeben hat und noch in einigen gibt: Bei Anruf Dichtung, original vom Autor, von der Autorin gesprochen. Heute kann man sich die Lesung nach Hause auf den PC holen. Der Berliner Verlag der Digitalen Bibliothek hat im vergangenen Jahr zusammen mit dem Literarischen Colloquium Berlin einen interessanten Vorstoß gemacht und ein neuartiges Literaturmagazin gegründet. Es heißt Entdeckungen und erscheint auf CD bzw. DVD. Die CD enthält Texte ausgewählter junger Autoren und die DVD Videoclips mit kurzen Selbstporträts. In welche Richtung sich dieses Projekt entwickelt, wird man sehen bzw. hören. Eine Welt für sich sind die Poetry Slams. Auch sie haben sich als eine Alternative zur “Wasserglas-Lesung” entwickelt und begeistern ein Publikum für das Spiel mit der Sprache, nach dem man bei den meisten literarischen Veranstaltungen vergeblich Ausschau hält. Viele Texte, die bei Poetry Slams vorgetragen werden, funktionieren nur in der Performance, dafür sind sie geschrieben. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass die maßgeblichen lexikalischen Führer durch die Slam-Szene, die beiden von Ko Bylanzky und Rayl Patzak herausgegebenen Planet Slam-Bände, jeweils eine Textprobe, ein Foto des “Slammers” bzw. der “Slammerin” und eine kurze Charakteristik ihres “performativen Stils” geben.

Wer künftig bei dem Überangebot an Lesungen unschlüssig ist, welcher der Vorzug zu geben sei, kann sich an eine Empfehlung des Theaterkritikers Siegfried Jacobsohn halten und einfach mit der ersten anfangen – sei aber gleichzeitig vor einer möglichen Suchtentwicklung gewarnt: “Sie und nicht Sie allein, begehren zu wissen, zu welcher der vier Vorlesungen von Karl Kraus Sie gehen sollen. Zur ersten, unbedingt zur ersten. Denn da bin ich ganz unbesorgt: wenn Sie die erste gehört haben, verkaufen Sie ihr Gewand, um die andern drei auch noch hören zu können.”

Zum Weiterlesen und -hören:

Klaus Bittermann (Hrsg.), Auf Lesereise. Edition Tiamat, Berlin 2004. 208 Seiten, 14 Euro

Thomas Böhm, Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung. Tropen Verlag, Köln 2003. 183 Seiten, 15,80 Euro

Henning Boëtius, Der Lesereiser. Merlin Verlag, Gifkendorf 2001. 70 Seiten, 11,30 Euro

Ko Bylanzky & Rayl Patzak (Hrsg.), Planet Slam. Bd. 1 (2002), Bd. 2 (2004). yedermann Verlag, München. Je 10 Euro

Entdeckungen 1 / 2004. Neue Autoren stellen sich vor. In Zusammenarbeit mit dem LCB. CD-ROM und DVD Video. Digitale Bibliothek, Berlin. 19,90 Euro

Jess Jochimsen, Die Vorleser. Vol. 4: Auf Lesereise. Lübbe Audio, Bergisch Gladbach 2004. CD 14,95 Euro
Rafik Schami, Sieben Doppelgänger. Hanser, München 1999. 166 Seiten, 13,90 Euro

Reinhard Tgahrt (Hrsg.), Dichter lesen. Bd. 1: Von Gellert bis Liliencron (1984, vergr.), Bd. 2: Jahrhundertwende (1989) und Bd. 3: Expressionismus und Nachkriegszeit (1995). Deutsche Schillergesellschaft, Marbach a. N. 303 bzw. 425 Seiten, jeweils 20,45 Euro

Hanne Knickmann lebt und arbeitet in Darmstadt als Literaturwissenschaftlerin und leitet das „Büro für Branchenkommunikation. Buch | Literatur | Wissenschaft“.