Das veruntreute Wort: Eine polemische Betrachtung zum Übersetzen

Katherine Mansfield kann das: eine einzige Geste so feinnervig und dabei so unverblümt beschreiben, dass Wahrheiten darin aufschimmern, die beim Lesen einen ganzen Geröllrutsch von Gefühlen auslösen. Gesten wie das auffordernde, aber vergebliche Anschubsen einer toten Fliege in einem Tintentropfen, das perfektionierte Lauschen einer alten Lehrerin, die dabei so tut, „als würde sie nicht zuhören“, die Verachtung, mit der eine schöne Frau im Park einen Veilchenstrauß wegwirft, „als sei er vergiftet worden“.

Scharf und so zart, dass man den Schmerz erst Sätze später spürt, schneidet Mansfield durch Verstellungen und Attitüden und Schutzschichten bis auf die Knochenhaut und legt die Empfindungen frei. Die Einsamkeit der Sonntagnachmittage, die Sehnsucht, verstanden zu werden, die Hoffnung auf ein glücklicheres Leben, während man Hüte verkauft oder sich – in Ermangelung eines Prinzen – von einem breit gebauten Herrn im Café de Madrid zum Brandy einladen lässt. Und ihm anschließend folgt, hinaus in den Abend.

Geschichten, hellsichtig und von verhaltener Innigkeit und oft genug unbarmherzig komisch, wenn sich ein „literarischer Herr“ bei seiner Putzfrau nach dem Tod ihres Enkels erkundigt: „Ich hoffe, die Beerdigung war – ein – Erfolg?“ Geschichten, bei denen Lesen, Begreifen und Fühlen eins sind und über den Rand der Seite hinausreichen ins eigene Leben. Wenn man sie im Original liest, auf Englisch.

Denn Mansfield, die – vehementer als sonst ein Schriftsteller – auf Detailtreue bestanden und um genau den richtigen Ausdruck an genau der richtigen Stelle hart gekämpft hat, die akribisch an der Länge und dem Klang eines jeden Satzes gefeilt hat, an Rhythmus und Melodie, und dabei so klar und schön und einfach wie möglich war: das ist so schwer zu übersetzen wie Gedichte und kann nicht anders, als unterwegs in eine andere Sprache zu verlieren. Das weiß man, und das nimmt man hin.

Was man nicht hinnehmen kann, sind die deutschen Übersetzungen von Elisabeth Schnack, die über lange Jahre hinweg ihre Finger in unzähligen Erzählungen und Romanen aller möglichen angelsächsischen Schriftsteller drinhatte. Was sie veranstaltet, hat allerdings weniger mit diesen grundsätzlichen Schwierigkeiten zu tun als vielmehr mit ihren eigenen Marotten. Schnack überträgt nicht, sie bearbeitet, und dieses Bearbeiten läuft auf Verharmlosung hinaus. Sie neigt beispielsweise dazu, in Verkleinerungsformen zu schwelgen, aus einem „Zimmer“ ein „Zimmerchen“ zu machen, ohnehin schon „kleine Augen“ werden „kleine Äuglein“, und wo bei Mansfield „Handkarre“ steht, kriegt man bei Schnack ein „Handwägelchen“ angedient. Wie nett. Wie niedlich. Und wie weit von Mansfield entfernt, der alles Betuliche und Verwischte verhasst war.

Was noch? Schnacks leidiger Hang zum Dramatisieren: Mit Ausrufe- und Fragezeichen überwürzt sie Passagen, während im Original nichts dergleichen steht, und einen Punkt verwandelt sie nach Gutdünken in einen Gedankenstrich, als würde nicht ein neuer Satz beginnen, sondern eine Ungeheuerlichkeit. Wo ihr ein „sagte sie“ bei Mansfield zu schwach erscheint, schraubt sie es eigenmächtig zu einem „jammerte sie“ hoch und überhitzt damit den Stil an dieser Stelle. Und weil ihr Mansfield offensichtlich nicht genügt, dichtet sie hin und wieder ein wenig Schnick-Schnack dazu. „Große Tropfen hingen an den Büschen und wollten nicht fallen“, heißt es in „At he Bay“ („Big drops hung on the bushes and just did not fall“), Schnack schmiedet daraus: „Große Tautropfen hingen an den Büschen und zauderten zitternd“. „Zauderten zitternd“ – also wirklich. Und eine Stimme, die „losdröhnt“, „stimmt“ bei Schnack lieber „ein Verslein an“. Mit Mansfield hat es nichts zu tun.

Ein anderes, inzwischen legendäres Beispiel ist Federico García Lorca. In seinem Fall hat es der Übersetzer Enrique Beck – sogar rechtlich abgesichert – fertig gebracht, keinen anderen deutschen Lorca-Übersetzer neben sich zu haben. So konnte er sorglos und ungehindert seine eigenen verblasenen Vorstellungen von Lyrik absondern. Ambitioniert und unbegabt hat er die Schlichtheit des spanischen Dichters in ein Rankenwerk rüschenreicher Pennälerpoesie verkehrt. Seine gestelzten, mit Genitiven verzwirbelten, schwülstigen Versionen haben einem jahrzehntelang (erst seit kurzem sind weitaus bessere Übertragungen im Umlauf) den Geschmack an Lorca verdorben. Selbst eine aus einfachen Worten bestehende und unmissverständlich klare Gedichtzeile wie „Das Schiff auf dem Meer“ (aus „Romance somnámbulo“) reißt er sich noch unter den Nagel: „Barke auf des Meeres Wasser“, findet Beck, klingt besser. Finden andere vielleicht auch, ist aber nicht Lorca, sondern Rufmord, Leichenfledderei.

Aber wie wenig diese älteren Übersetzungen auch mit dem Original zu tun haben mögen, wie sehr sie den Stil verzerren und entstellen und Gradlinigkeit durch Plüsch und Plunder ersetzen: es ist doch immerhin noch korrektes Deutsch, was man da vor Augen hat. Wenn schon nicht unbedingt in den Dienst des jeweiligen Schriftstellers, so haben die Übersetzer ihre Arbeit doch in den Dienst der Sprache gestellt, in die sie das Gedicht, die Geschichte, den Roman übertragen haben. Das ist seit einigen Jahren gründlich anders. Der Punkt, an dem die Beanstandungen heute anzusetzen haben, hat sich verschoben. Es lässt sich nicht länger darüber diskutieren, ob etwas adäquat übersetzt ist, wie sehr oder eben nicht es sich vom Original unterscheidet, es geht nicht mehr um Werktreue: weil das, was einem inzwischen an Übersetzungen zugemutet wird, in vielen Fällen einfach indiskutabel schlechtes Deutsch ist. Fehlerhafte Grammatik, falsche Ausdrücke, verbogene Redewendungen, umständliche Satzkonstruktionen, ungeschickte Formulierungen.

Damit klar wird, wovon hier die Rede ist, reicht ein Blick in die Übersetzung des Romans Mutter eines Fremden von Leland Bardwell, die Hans-Christian Oeser zu verantworten hat. Nach sechs Seiten zuckt man das erste Mal zusammen: „Sollte, was sie so lange im hintersten Winkel ihres Gehirns verborgen hatte, jetzt etwa der Gerüchteküche Futter geben?“ Sollte, wer öfter übersetzt, die Redensarten seiner Sprache nicht besser kennen? Aber weiter. Auf ein und derselben Seite greift Oeser, ohne jedes Gespür für den angebrachten Tonfall, mal zu altertümelnden Begriffen („ein jegliches Geschöpf“), mal zum schnoddrigen Alltagsjargon der Gegenwart („stinknormal“). Und da ihm diese Nummer zu gefallen scheint, spielt er sie gerne und oft: „Jetzt ist die Kacke aber am Dampfen“ und „geruhst du“ ist ein anderes Beispiel. Man kann ihn dabei nicht einmal des Stilbruchs bezichtigen, da so etwas wie ein Stil bei ihm gar nicht existiert. Bloß ungelenke Aneinanderreihungen mehr oder minder verkorkster Konstruktionen. Statt des passenden Ausdrucks nimmt er häufig den daneben liegenden, der eben nicht stimmt, und schon ist der ganze Satz im Eimer, von der Logik ganz zu schweigen. „Was für einen Unsinn wir Menschen verzapfen. Wenn es umgekehrt wäre, wären wir nicht die Krone der Schöpfung.“ Wie: „umgekehrt“? Wenn der Unsinn die Menschen verzapfte?

Ungelenk zerrt er Anglizismen über den Teich, zerrt am Satzbau herum und verzerrt die Verständlichkeit. „Angela erschien, klapperdürr, in Shorts und Sandalen gekleidet und aufgrund der Kälte kränklich wirkend.“ An Eleganz ist so etwas schwer zu überbieten. Oeser versucht es trotzdem: „[…] aber den Adrenalinstoß, den sie beide erlebt hatten, als sie sich das letzte Mal liebten, konnte er auch nicht vergessen.“

Dass ein des Deutschen kaum mächtiger Übersetzer mit diesen Stümpereien nicht spätestens am Lektor gescheitert ist, lässt nur zwei Deutungen zu: es gab keinen Lektor, oder der Lektor war – aus welchen Gründen auch immer, Unfähigkeit, Böswilligkeit, Feigheit – nicht in der Lage, korrigierend einzugreifen: dann sitzt er auf dem falschen Platz. Vielleicht hat er sich auch davon irreleiten lassen, dass Oeser irgendwann einmal mit dem Europäischen Übersetzerpreis „Aristeion“ ausgezeichnet worden ist. Das wiederum zeigt, was solche Preise wert sind.

Das wirklich Schlimme aber ist, dass solche Schandstücke den wenigsten noch auffallen. Sie lesen es, ohne sich etwas dabei zu denken. Niemand wäre so dumm und kaufte sich für teures Geld angeschlagenes Geschirr oder Kleider, die Risse aufweisen oder schlichtweg verschnitten sind. Aber gegen Bücher mit kaputten Sätzen hat kaum einer etwas einzuwenden, die lässt man sich sogar von Elke Heidenreich als „Lesen!“swert ans Herz (!) legen – was gilt schon Kultur? Seitenweise geborstene Sprache, an der man sich das Hirn verletzt: und trotzdem gibt es Leser zuhauf, die nach der Lektüre nicht die geringste Schramme aufweisen hinter ihrer Stirn. Was für ein Schluss lässt sich daraus ziehen?

Wenn es auf Qualität offenbar nicht ankommt, wenn die Masse bereitwillig schluckt, was an Minderwertigem an sie verfüttert wird, warum sollten sich die Verlage da die Mühe machen und auf Niveau achten? Das Geschäft funktioniert doch auch so. Also haut Wagenbach Katherine Mansfield gleich noch einmal in die Pfanne und wirft in diesem Frühjahr eine Sammlung ihrer Kurzgeschichten in den entstellenden Versionen von Elisabeth Schnack auf den Markt – dabei gab es bei Manesse eine weitaus angemessenere Übersetzung von Ruth Schirmer. Und neben einigen Neuübersetzungen von Gárcia Lorca steht die Werkausgabe bei Insel immer noch in Enrique Becks Poesiealbum-Versen herum.


Von:
Ingrid Mylo, Jahrgang 1955, lebt als Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin in Frankfurt a.M. und Kassel. 1998 erschien ihr Essay Katherine Mansfield im Verlag Neue Kritik, zuletzt der Prosaband Das Treppenhaus und andere Landschaften im Verlag Das Arsenal, Berlin 2004.