Der Selbstdenker: Zu Elias Canettis 100. Geburtstag

Was hätte er, der bedeutendste Theoretiker der Masse und unerschrockene Tod-Feind, zu den vier Millionen Pilgern am Sarg des polnischen Papstes gesagt? Verlockung und Gefährlichkeit der Grenzüberschreitung des Ichs in der Masse bändigt der Katholizismus – laut Elias Canetti – im Kultus. Zugleich kommt in der trauernden Menschenmenge von Rom, im Ritual ihrer institutionell „mumifizierten” Totenklage die für das Christentum bezeichnende Anbetung des Todes zum Ausdruck, die in der Heiligung des Toten – santo subito! – lauert. Canettis Tod-Feindschaft, seine Empörung über das Sterbenmüssen, war seit Hiroshima nicht mehr von der anfänglichen Hoffnung auf Unsterblichkeit genährt. Den erbitterten Kampf gegen jedwede Versöhnung mit dem Tod hat er auch ohne diese, bewusst naive, Utopie fortgeführt. Der Tod, hat er gesagt, hindere uns am Leben, weil er uns zu überleben zwinge – und in diesem Zwang liege der Keim der Macht. Die großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts basierten auf der Massenproduktion von Leichen. Das unheilbare, aber auch entschlossene Entsetzen über die Sterblichkeit aller Kreatur, das in jedem Tod einen Mord, die Historie als ein Auftürmen von Leichenbergen sieht, ist Canettis wichtigstes Vermächtnis.

Der Autor Canetti hat vor allem drei Städte bewohnt, zu jeder gehört ein Hauptwerk: Zu Wien Die Blendung, zu London Masse und Macht, zu Zürich die Autobiografie. Daneben tritt Rustschuk, wo „alles schon einmal geschehen” ist. Jenes osmanische Donau-Städtchen in Bulgarien, in dem Elias Canetti am 25. Juli 1905 als Sohn sephardischer Kaufleute geboren wurde, ist mithin ein mythischer Ort. Seine Vorliebe für den Mythos, der ja stets das Verhängnis, Mensch und also kein Unsterblicher zu sein, durch Erzählen, Benennen bannen will, und sein Imperativ der Verwandlung, durch die der Sterbliche den Grenzen der Individuation entflieht, wurzeln im Konzept der Tod-Feindschaft und stabilisieren es zugleich. Beide Termini, Mythos und Verwandlung, sind gegen den Begriff der Geschichte gerichtet, der immer zu heilsgeschichtlichen Beschwichtigungen, zur Vertröstung auf später neigt.

Der frühe Geniestreich der Blendung ist ohne Wien nicht denkbar. Wienerisch ist die Janusköpfigkeit von Komik und Grauen; das Wiener Volkslokal und die Wiener Sprachkritik stehen hinter dem dramatischen Konzept der akustischen Maske, das Canetti in seinem einzigen Roman der Epik dienstbar macht: Die Figur besteht aus ihrer unverwechselbaren Sprechweise, jenen „fünfhundert Worten”, die ihr so eigentümlich sind wie die Physiognomie. Büchner und Kafka – später Zentralgestirne seines Dichterhimmels – hat er in den frühen dreißiger Jahren noch nicht oder kaum gekannt, doch wie Kafka schreibt Canetti im Roman über den Büchernarren Peter Kien eine urkomische und doch zutiefst erschreckende Parabel, die mit aller Metaphysik aufräumt, indem sie sie angesichts der fundamentalen Verstümmelung des Menschseins der Lächerlichkeit preisgibt. Diese Absage ist programmatisch: Nach der Blendung konnte es – wiewohl Canetti sich daran versucht hat – keinen weiteren Roman von ihm geben. Vielmehr galt es, alles von Grund auf neu zu denken. Die Erfahrungen des Austrofaschismus, des Jahres 1938, dann des Exils verurteilten den Dichter ebenfalls zum Denker, zu einem unprätentiösen Erkenntniswillen. Canetti bewahrt seine Reinheit durch einen ganz eigenständigen, phänomenologischen Blick; der Widerstand gegen tradierte Termini und Systeme, der Mut zur kompromisslosen Offenheit des eigenen Denkens sind ihm der einzig noch mögliche Ausweis intellektueller Redlichkeit. Rettung verheißt diese freilich nicht mehr. Die seit den dreißiger Jahren geführten, in England zur täglichen Übung gewordenen Aufzeichnungen sind deshalb sein inoffizielles Zentralwerk. Das offizielle der Londoner Jahre ist Masse und Macht.

Nicht nur das Exil, die sprachliche Exterritorialität, auch dieses Selbstdenkertum hat ihn zu einem Autor gemacht, der notorisch verspätet beachtet wurde. Nach der drei Jahrzehnte währenden Arbeit an Masse und Macht versuchte er es nochmals als Erzähler. Die Stimmen von Marrakesch sind eine Suche nach den eigenen sephardischen Wurzeln – und die Wiederentdeckung oralen Erzählens. Canetti muss Meister dieses Fachs gewesen sein, ebenso ein begnadeter Zuhörer. So führt schon das Marokko-Buch hin zu jener Trinität der Sinnlichkeit, die der Autobiografie – Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr, Das Augenspiel – ihr ästhetisches Programm gibt. In Canettis dreibändigem Porträt des Autors als junger Mann ist die eigene Lebensgeschichte literarisiert; die historische Wahrheit besagt, ähnlich wie bei Goethe, nichts gegen die der „Dichtung”. Denn die Wahrheit der Erinnerung liegt für ihn in der Authentizität des Erinnerns, nicht in der des Erinnerten.

An dieser durch und durch reflektierten, im Rückgriff auf die Literaturgeschichte überaus raffinierten Selbst-Mythisierung hat sich die Lesefreude des Publikums entzündet und den „exotischen” ersten Band der Autobiografie zu Canettis erstem Bestseller gemacht. Doch ist ihm just diese Selbst-Mythisierung vorgeworfen worden, als 1990 der Roman Die gelbe Straße von Veza Canetti erschien – 27 Jahre nach ihrem Tod. Canetti hat seine erste Frau in Die Fackel im Ohr als Heilige und Gegenmutter, nicht aber als Schriftstellerin geschildert, denn hätte er sich dazu entschlossen, so hätte er eine zu Lebzeiten gescheiterte Autorin schildern müssen.

Dies ertrug er nicht, so wenig wie das Bekanntwerden ihrer Behinderung. Er hat dem sozialistischen Publizisten Ernst Fischer wegen dieser Indiskretion die Freundschaft aufgekündigt. Mit ihr versank in der Autobiografie auch Canettis eigene Zugehörigkeit zur Linken weithin im Nebel der Berliner Episode; der Zirkel um die Brüder Herzfelde, Grosz und Brecht, den er in Berlin gestreift hatte, schloss sich zum Bannkreis. Nur Isaak Babel ragt aus ihm als Lichtgestalt heraus, und man meint, Canetti habe Wochen mit ihm verbracht – dabei waren es allenfalls zweieinhalb Tage.

Mit dem Schweigen über Vezas Geheimnis war ihm freilich auch unsagbar geworden, dass es die an Lebensjahren Ältere als Autorin wesentlich dank seiner gab. Als Schriftstellerin war die Übermutter, deren Auftreten die Herrschaft der leiblichen beendet hatte, seine erste Schülerin, der er eine Publikationsmöglichkeit bei Herzfeldes Malik-Verlag verschaffte. Immer wieder versuchte er, Vezas Texte durchzusetzen. Als es ihm endlich gelungen war, wurde sein früheres Schweigen zum Argument gegen ihn: Man lastete es ihm als Verschweigen an. Seither hat ein Canetti-Bashing eingesetzt, in dem kaum zufällig eine Rolle spielt, dass er mit weiteren Schülerinnnen – nämlich mit Friedl Benedikt, deren unter dem Pseudonym Anna Sebastian publizierter Roman Das Monster inzwischen endlich auf Deutsch vorliegt, und mit Iris Murdoch – sexuelle Beziehungen unterhielt, als es die mit Veza längst nicht mehr gab. Als die von ihrem Witwer John Bayley und ihrem Biografen Peter Conradi betriebene Heiligsprechung der toten Murdoch die „ganze Wahrheit” über Canetti ans Licht zu bringen schien, hielt dessen Selbst-Lebensbeschreibung vor den Augen einer auf Skandale abonnierten literarischen Öffentlichkeit nicht mehr stand.

Canetti hat trotz Büchner- und Nobelpreis nie wirklich zur Öffentlichkeit gehört. Vom angeblichen „Gottmonster” aus Hampstead war in den Züricher Altersjahren, mit der zweiten Ehe und späten Vaterschaft, ohnehin nicht viel übrig geblieben; und der Canetti stets suspekte Erfolg änderte nichts an seiner intellektuellen Rigorosität. Überdies gab es auch bei anderen Eitelkeiten: Max Frisch etwa, selbst auf den Nobelpreis erpicht, zog sich verletzt von ihm zurück, als sich die Stockholmer Jury völlig überraschend für den Outsider Canetti entschied. Die für Canetti wichtigsten literarischen Wegbegleiter, Abraham Sonne und Franz Baermann Steiner, gehörten zu Wien und London, und beide sind Autoren für ganz wenige geblieben. Wer sie wenigstens dem Namen nach kennt, tut das in der Regel nur, weil sie Freunde Canettis waren.

Unter Steiners Einfluss und dem Eindruck der ersten Nachrichten über den Holocaust bekennt er 1944, die größte geistige Versuchung seines Lebens, gegen die er schwer zu kämpfen habe, sei die, „ganz Jude zu sein”. Vermutlich daher hat er sich nur am Rande über den industriellen Massenmord an den europäischen Juden geäußert, dessen Relevanz für die eigene Massentheorie unterschätzt, während ihm die Atombombe zur Herausforderung seiner Tod-Feindschaft wurde: Die Shoah barg die Gefahr einer impliziten Retheologisierung seines Denkens. Dagegen war die in Hiroshima enthaltene Versuchung des Nihilismus gering, und die Bedrohung durch die Bombe erschien Canetti wohl auch größer.

Canetti hat seine Londoner Wohnung während der zweiten Ehe mit Hera Buschor noch lange gehalten; dort wartete die Urne mit Vezas Asche auf ihn. Erst als auch die viel jüngere Hera ihrem Krebsleiden erlegen und in Bayern beigesetzt war, zog er ganz nach Zürich. Dass er seine letzten Angelegenheiten dort beizeiten regelte, sich um ein würdiges Grab bemühte, den Nachlass versorgte, das projektierte Totenbuch, an dem er lange gearbeitet hatte, fallen ließ, die fortgeschrittenste Fassung seiner Erinnerungen an England und den Briefwechsel mit Veza vernichtete, zeigt nur, wie bewusst ihm die Unausweichlichkeit und Nähe des eigenen Todes war. Ein Sichdreinschicken bedeutete dies aber keineswegs: Es galt, sein Werk, sich, auch Veza, vor postumer Inanspruchnahme zu schützen.

Canettis Tod-Feindschaft ist paradox – so wie das Denken der von ihm geliebten Vorsokratiker. Auch deshalb – nicht nur wegen der von ihm verfolgten Strategie des Verrätselns und Verbergens – ist Elias Canetti nicht zu erklären. „Erklärte Leben sind keine gewesen”, hat er in einer Aufzeichnung statuiert. In dieser Verweigerung von „Sinn”, die keine Beliebigkeit zulässt, sondern die Integrität des Lebens selbst schützen will, lebt seine Tod-Feindschaft weiter.

Zum Weiterlesen:

Elias Canetti, Aufzeichnungen für Marie-Louise. Aus dem Nachlass hrsg. und mit einem Nachwort von Jeremy Adler. Hanser, München 2005. 120 Seiten. 12,90 Euro

Elias Canetti, Gesammelte Werke, Band 10. Aufsätze, Reden, Gespräche. Hanser, München 2005. 400 Seiten. 27,90 Euro (und alle anderen Bände)

Sven Hanuschek, Elias Canetti. Biographie. Hanser, München 2005. 800 Seiten mit 25 Abb., 29,90 Euro

Kristian Wachinger (Hrsg.), Elias Canetti. Bilder aus seinem Leben. Hanser, München 2005. 176 Seiten mit 440 Abb., 24,90 Euro

Werner Morlang (Hrsg.), Canetti in Zürich. Erinnerungen und Gespräche. Nagel & Kimche, Zürich 2005. 240 Seiten. 19,90 Euro


Von:
Steffen Pross, Jahrgang 1957, lebt als Autor und Journalist in Ludwigsburg. Zuletzt erschien von ihm „In London treffen wir uns wieder“. Vier Spaziergänge durch ein vergessenes Kapitel deutscher Kulturgeschichte nach 1933. Im September kommt bei Theiss Angeklagt. Außergewöhnliche Kriminalfälle aus Schwaben (gemeinsam mit Beate Volmari).