Korea: geteiltes Land – geteilte Aufmerksamkeit

Korea ist eingeladen. Seit vielen Jahren gehört es zum Konzept der Frankfurter Buchmesse, einem Gastland die Möglichkeit zu geben, seine Kultur und insbesondere seine Literatur vorzustellen. Nordkorea hat ohne Begründung abgesagt, dabei hatte die deutsche Seite erst im letzten Jahr ein Goethe-Institut mit Bibliothek in Pjöngjang eröffnen können. Das gab Hoffnung in einem Land, das als abgeschottet gilt.

Südkorea nutzt die Gelegenheit mit erheblichem Aufwand. Seit der Leipziger Buchmesse im März reisen 62 Autoren durch Deutschland und lesen ihre Texte, deren deutsche Übersetzungen von Schauspielern vorgetragen werden. In Buchform sind sie auf Deutsch oft noch nicht erhältlich.

Üblicherweise kann ein Gastland damit rechnen, dass in den Lektoraten der Verlage emsig danach gesucht wird, welche Autoren und Werke eine Chance haben, die kurzfristige mediale Aufmerksamkeit im Oktober zu nutzen. Für diesen Herbst aber werden in den Verlagshäusern nur wenige Neuerscheinungen zu Korea angekündigt. Traut man Koreas Literatur nichts zu? Hält man das Leserinteresse und damit die Verkäuflichkeit in Deutschland für zu gering? Gibt es nicht genug kompetente Übersetzer?

In den visuellen Künsten haben Koreaner mit dem Videokünstler Paik Nam June oder dem Regisseur Kim Ki-Duk internationale Aufmerksamkeit erlangt. Kim wurde zuletzt bei der Berlinale 2004 für den Film “Samaria” mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet. Auch die Musik kennt die Sprachbarriere nicht. Der 1917 im heutigen Südkorea gebürtige Yun I-sang, der von 1970 bis 1985 an der Hochschule der Künste in Berlin unterrichtete, hat östliche Klänge in ein Spannungsverhältnis zur modernen Musik gebracht und die westliche damit inspiriert. Wenn sich deutsche Verleger auf dem koreanischen Lizenzmarkt engagieren, dann vorrangig für Manhwas, das Pendant zu den boomenden japanischen Mangas.

Ist es also ein Übersetzungsproblem? Bei der Leipziger Buchmesse 2005, als sich Südkorea Presse und Lesern in zahlreichen Veranstaltungen präsentierte, wurde dies als Grund für die Zurückhaltung in den vergangenen Dekaden genannt, aber auch darauf hingewiesen, dass sich die Qualität der Übersetzungen verbessert habe. Koreanistik wird zwar an deutschen Universitäten selten gelehrt, doch nach der Fußballweltmeisterschaft 2002 in Südkorea und Japan ist die Zahl der Studienanfänger, etwa an der Universität Bochum, deutlich gestiegen.

Jeder, der sich auf die Literatur eines weniger bekannten Landes einlässt – nehmen wir die finnische oder litauische –, wird beim Buchhändler eher den Titel als den Autorennamen nennen und einige Zeit brauchen, bis er den Figuren im Lesefluss Gestalt geben kann, ohne über die Namen zu stolpern. Bei der koreanischen Literatur ist dies eine große Hürde. Viele Koreaner heißen wirklich Park oder Kim, wie häufig kolportiert wird. Aber sie haben eben auch ein- oder zweisilbige Vornamen, die in Korea (wie in diesem Artikel) nachgestellt werden. Dazu kommen unterschiedliche Transkriptionssysteme, die auch das Bibliographieren von Autorennamen erschweren. So ist der oben genannte Videokünstler Paik auch unter Paek und Baek zu finden.

Wahrscheinlich liegt der Mangel an Interesse jedoch vor allem daran, dass das kleine Korea, wie so oft in seiner langen Geschichte, im Schatten seiner mächtigen Nachbarn steht. Japan geriet Anfang der neunziger Jahre mit seinem erstaunlichen wirtschaftlichen Erfolg ins Zentrum der westlichen Aufmerksamkeit. Seine Management-Methoden wurden in deutschen Vorstandsetagen diskutiert und der harte Kampf um Weltmarktanteile war von einem sanften Kulturexport begleitet. Ikebana und eine vom Zen-Buddhismus geprägte Ästhetik eroberten deutsche Haushalte. Mit dem Einbruch am japanischen Aktienmarkt und den Jahren der Rezession verlagerte sich die Aufmerksamkeit. Seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts absorbiert nun China mit seinen erstaunlichen Wirtschaftswachstumsraten das Interesse. Darauf reagiert das deutsche Verlagswesen im Sachbuchbereich und mit der Übersetzung von Belletristik und Krimis.

Koreanische Literatur wird hierzulande seit einigen Jahren von zwei Kleinverlagen gepflegt. Bei der Edition Peperkorn sind unter anderem zahlreiche Lyrikbände (eine populäre Gattung in Korea), altkoreanische Volksdichtung und Dramen erschienen. Der Bielefelder Pendragon Verlag konzentriert sich mit seiner “Edition moderne koreanische Autoren” auf die Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und berücksichtigt in letzter Zeit auch die lebendige Szene der Schriftstellerinnen.

Seoul, Buchhandlung Kyobo: ein langer Gang mit den Porträts aller Literaturnobelpreisträger, darunter die Japaner Yasunari Kawabata und Kenzaburô Ôe und der Chinese Gao Xingijan, führt zu den Verkaufsräumen. Ein Platz ist frei. Kann ein Literaturnobelpreis eines Tages zum Durchbruch führen? Und wer hätte Chancen? Ludger Lütkehaus brachte in der NZZ vom 20. Mai schon einmal Kim Wonil, Yi Munyol oder Ahn Junghyo ins Gespräch.

Die moderne Literatur Koreas ist von großen geschichtlichen Einschnitten geprägt. Das damalige Königreich wehrte sich Ende des 19. Jahrhunderts gegen eine Öffnung des Landes. Japan, das schon ab 1853 von den USA mit militärischer Gewalt zur Öffnung seiner Märkte gezwungen worden war, begann seinerseits den Koreanern Handelsabkommen aufzuzwingen. Nach dem Chinesisch-Japanischen Krieg (1894-1895) und dem Russisch-Japanischen Krieg (1904-1905) war Japan militärisch so gestärkt, dass es seine imperialistischen Interessen 1907 in einem Protektorat über Korea und 1910 mit der Annektierung Koreas durchsetzen konnte. Nach dem zweiten Sino-Japanischen Krieg und dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg versuchte Japan, Korea als Nation auszulöschen. Koreanern wurden japanische Namen aufgezwungen, Zeitungen durften nicht mehr auf Koreanisch erscheinen. Unabhängigkeitsbewegungen wurden brutal unterdrückt. Gleichzeitig wurde die Infrastruktur entwickelt und die Schwerindustrie zu Kriegszwecken aufgebaut. Gegen Ende des Krieges drang die Sowjetunion von Norden nach Korea ein und mit der japanischen Kapitulation am 15. August 1945 endete die Kolonialherrschaft. Auf die Befreiung folgte die zunächst provisorische Teilung des Landes in eine sowjetische und eine amerikanische Einflusszone entlang des 38. Breitengrades.

Hier könnte ein thematischer Berührungspunkt für deutsche Leser liegen, denn ebenso wie die deutsche Literatur bis 1989 hat sich die koreanische intensiv mit den Auswirkungen der Teilung und dem zugrunde liegenden Ideologiekonflikt beschäftigt.
Kim Yoon-shik führt in seinem Buch Understanding Modern Korean Literature drei thematische Felder für die Literatur von 1945 bis 1960 an: Für die Zeit zwischen Befreiung und Koreakrieg den Ideologiekonflikt, in dem sich Autoren eher links oder rechts positionierten und sich in unterschiedlich ausgerichteten Vereinigungen (All Korean Writers’ Association und Korean Writers’ League) assoziierten. Sollte die Literatur der ideologischen Bewusstseinsbildung dienen?

Der Kalte Krieg wurde für die Koreaner zum Bürgerkrieg, dort Bruderkrieg genannt. Die beiderseitige Hoffnung auf eine Vereinigung des Landes kam nach dem Koreakrieg von 1950-1953 wieder am 38. Breitengrad zum Stillstand.

In den fünfzigern und Anfang der sechziger Jahre entsteht eine koreanische Kriegsliteratur, die das Grauen des Krieges thematisiert und so zur Antikriegsliteratur wird. Sie beschreibt Überlebensstrategien unter verheerenden materiellen Bedingungen, extreme Situationen von Verlust, Traumatisierung, seelischer Verrohung und moralische Konflikte zwischen Flucht und Verrat. In dieser Zeit werden literarische Techniken des westlichen Romans aufgenommen, in zahlreichen Entwicklungs- und Bildungsromanen prägt eine Art Realismus die Literatur.

In der Nachkriegszeit bestimmen antikommunistische Propaganda, Militärdiktaturen und autoritäre Systeme die Gesellschaft. Viele Familien sind getrennt, zerstört, die Mütter kämpfen um den Lebensunterhalt, die Väter sind gebrochen oder gefallen. Dies ist laut Kim der dritte Themenkomplex.

Bei dtv wird im Oktober Die Geschichte des Herrn Han von Hwang Sok-yong erscheinen (in Südkorea kam sie 1972 heraus), in der die drei Themenkomplexe eine äußerst dichte Verknüpfung erfahren. Hwang erzählt die Lebensgeschichte Hans als Rückblende vom Totenbett aus: der während des Krieges in Pjöngjang stationierte Arzt widersetzt sich der Privilegierung von kommunistischen Patienten im Krankenhaus und bemüht sich, ein verwundetes Mädchen zu retten, indem er knappes Narkosemittel für eine Operation aus der Abteilung für die Funktionäre der kommunistischen Partei entwendet. Weiterer Ungehorsam und Befehlsverweigerung zugunsten seiner Patienten bringen ihn vor ein Erschießungskommando. Er überlebt, muss unter dramatischen Umständen seine Familie verlassen, flieht nach Südkorea. Obwohl dort ohne Approbation, führt er illegal Operationen durch. Gegen Missgunst und Neid anderer Ärzte versucht er sich moralisch zu behaupten. Da er aus Nordkorea stammt, wird er zum Spielball antikommunistischer Verdächtigungen, wegen Spionage angezeigt, verhaftet und verhört. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis stirbt Herr Han vereinsamt.

Der Protagonist ist einer Person aus Hwangs Familie entlehnt, und auch dessen Lebensweg ist ein Spiegel der koreanischen Wirren und politischen Konflikte. Der Autor, 1943 geboren, kommt 1947 aus Pjöngjang, der Heimat seiner Mutter, nach Seoul; 1962 erhält er einen Preis für eine Erzählung, 1964 wird er nach Demonstrationen gegen die Gespräche zwischen Korea und Japan verhaftet. Er arbeitet als Tagelöhner und studiert den Buddhismus, um Mönch zu werden. Von 1966 bis 1969 absolviert er seinen Militärdienst in Vietnam, in den Jahren danach folgt eine produktive schriftstellerische Tätigkeit. 1980 nimmt er in Gwangju am Aufstand gegen die Militärdiktatur teil, die blutig niedergeschlagen wird. 1989 reist er via Japan ohne offizielle Genehmigung nach Nordkorea, um einer Einladung des Literatur- und Kulturverbandes zu folgen. 1989-1991 ist er Gastschriftsteller der Akademie der Künste in Berlin, später an der Long Island Universität in den USA. 1993 entschließt er sich zur Rückkehr nach Seoul und wird wegen seiner Nordkoreareise zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, aber nach fünf Jahren durch eine Amnestie des späteren Friedensnobelpreisträgers Kim Dae-jung aus der Haft entlassen und als südkoreanischer Kulturvertreter offiziell nach Nordkorea geschickt.

Andere Perspektiven auf den Krieg wählen zwei Romane, die im Pendragon Verlag erschienen sind. Ahn Jung-Hyo beschreibt in Der Silberne Hengst, wie der Krieg ein entlegenes Dorf erreicht und sein Beziehungsgeflecht zerstört. Den Kindern bleibt nur die Hoffnung, dass die Gestalt einer uralten Legende erscheinen wird: der General auf seinem silbernen Hengst. Dieser Roman wurde in den USA sehr positiv aufgenommen und in Korea verfilmt.

Lee Hochols Protagonist in Menschen aus dem Norden, Menschen aus dem Süden wiederum ist 18 Jahre alt, als er in Südkorea in Gefangenschaft gerät und so zum ersten Mal wirklich mit Menschen aus dem anderen Regime in Berührung kommt. Nach dieser konkreten Begegnung empfindet er die kommunistische Propaganda nur noch als Lärmbelästigung. Lee zeichnet beeindruckende Charakterskizzen von Tätern und Opfern und geht den Spuren beider Regime im Individuum nach.

1987 erschien in Südkorea Der entstellte Held von Yi Munyol – ein Schülerroman, in dem sich der Übergang zur Zivilgesellschaft andeutet. Der Schüler Han Pyongtae kommt von einer liberalen Schule in Seoul in eine ländliche Dorfschule, wo noch ein autoritärer Erziehungsstil herrscht. Om Sokdae, der Sprecher der Klasse, unterwirft seine Mitschüler durch ein System von Vergünstigungen und Gewalt. Der schwächere Han Pyongtae widersetzt sich, scheitert und entdeckt seinerseits die Privilegien der Macht. Erst durch die Versetzung eines jungen Lehrers aus der Großstadt in das Dorf kommt Bewegung in die verkrusteten Verhältnisse.

In den achtziger und neunziger Jahren führt die rasante ökonomische Entwicklung zu massiven Umbrüchen in der koreanischen Gesellschaft. Die konfuzianische Großfamilie wird geschwächt, Frauen erobern sich wichtige Positionen, die Bewegung führt vom Land in die Stadt, Seoul wird zu einer Megapolis, die Demokratie stabilisiert sich. Das scheinbar Private bildet den Stoff der neunziger Jahre und der Blick richtet sich auf den Alltag, den Geschlechterkampf, die Sexualität; Vereinsamung und Kommunikationsverlust finden Eingang in Erzählungen. In Anthologien wie Ein ganz einfaches gepunktetes Kleid lassen sich (weibliche) Stimmen entdecken, die uns sehr vertraut erscheinen.

Die Literatur eines geteilten Landes bittet in diesem Herbst um ungeteilte Aufmerksamkeit.

Zum Weiterklicken:

www.peperkorn.de
www.korea-literatur.de
www.enterkorea.de

Zum Weiterlesen:

Ahn Jung-Hyo, Der silberne Hengst. Aus dem Koreanischen übersetzt und mit einem Nachwort von Miran Kwak und Jürgen Kreft. Pendragon Verlag, Bielefeld 2001. 272 Seiten, 18,50 Euro

Hwang Sok-yong, Die Geschichte des Herrn Han. Aus dem Koreanischen von Kang Seung-hee, Oh Dong-sik und Torsten Zaiak. dtv, München (Oktober 2005). 140 Seiten, 12 Euro

Ein ganz einfaches gepunktetes Kleid. Moderne Erzählungen koreanischer Frauen. Hrsg. und übersetzt von Heidi Kang und Ahn Sohyun. Pendragon Verlag, Bielefeld 2004. 248 Seiten, 18,50 Euro

Kim Yoon-shik, Understanding Modern Korean Literature. Edited and translated by Jang Gyung-ryul. Jipmoondang Publishing Company, Seoul 1998. 186 Seiten, 13000 Won

Lee Hochol, Menschen aus dem Norden, Menschen aus dem Süden. Aus dem Koreanischen übersetzt von Ahn In-Kyoung und Heidi Kang. Pendragon Verlag, Bielefeld 2002. 240 Seiten, 18,50 Euro

Yi Munyol, Der entstellte Held. Aus dem Koreanischen von Kim Hiyoul und Heidi Kang. Unionsverlag, Zürich 2004. 128 Seiten, 7,90 Euro


Von:
Tilmann Eberhardt, Jahrgang 1957, lebt als Buchhändler und Verlagsvertreter in Stuttgart. Er hat Südkorea und Japan seit 1993 mehrfach bereist. Von ihm stammen auch die Fotos.