Ausgabe: September/Oktober 2005  


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Zehn Jahre später. Eine Erinnerung an Thomas Strittmatter in zehn Kapiteln

Am 29. August 1995 starb mit 33 Jahren Thomas Strittmatter an Herzversagen. Betrübt und bestürzt nahmen damals Freunde und Feuilleton “von einem lieben Menschen”, einem der ”interessantesten und begabtesten Autoren der jüngeren Generation” Abschied.

1 Leise Unruhe
Am Anfang und Ende: St. Georgen im Schwarzwald. Thomas Strittmatter ist dort 1961 geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen; nach dem Abitur 1981 studierte er Malerei in Karlsruhe, lebte ab 1986 als Autor in München, zog 1993, mit einem Stipendium des Senats ausgestattet, nach Berlin. Doch immer wieder kehrte er in den Schwarzwald zurück: “Home is where the heart is.”

2 Inventur
In der 1991 erschienenen offiziellen Festschrift anlässlich der 100-jährigen Wiederkehr der Stadterhebung von St. Georgen resümiert einer der Chronisten die Jahre 1933ff: "Die Judenverfolgung fand in St. Georgen nicht statt. Dazu fehlten die Juden. Es waren keine ansässig.” In den lakonischen Sätzen liest man eine gewisse Erleichterung: Man hat sich nichts zu Schulden kommen lassen. Was zu beweisen ist. Der Verfasser vergisst nicht, die “paar Juden” zu erwähnen, “die als Händler hin und wieder vorbeikamen”. Zu ihnen gehörte auch “der Juden-Jockel, der mit Vieh handelte […]. Er wurde weder gehaßt noch geliebt. Man brauchte ihn, ohne daß man ihm ganz traute." Aufrichtigkeit eines unbedarften Heimatforschers oder Chuzpe? Thomas Strittmatters Darstellung der Epoche deckt sich jedenfalls mit dieser Version: Viehjud Levi schrieb er 1981 mit knapp zwanzig Jahren. Schauplatz: “Schwarzwald”, Zeit: “Vor dem Zweiten Weltkrieg”. Der umherziehende Viehhändler Levi lebt in enger wirtschaftlicher Symbiose mit dem Bauern Horger; der aufkeimende Antisemitismus kommt in Gestalt von Bahnarbeitern in die Gegend, die gewachsenes Mit-, zumindest Nebeneinander zerstören. Am Ende wird Levi erschossen aufgefunden, Horger und seine Frau Krecencia sterben bald darauf unter unbekannten Umständen. In seiner Prägnanz, seiner verknappten Handlung und sparsamen Sprache, die mehr andeutet denn ausdeutet, berührt das “Volkstheaterstück” (Strittmatter) ebenso wie durch die dichte Atmosphäre und ausdrucksstarke Figurenzeichnung. Die vom Autor vorgegebene Anweisung bleibt für vieles gültig, was danach von ihm erscheint: “Die Figuren dürfen nie geschwätzig sein. Lange Pausen sind notwendig, nie aber darf die Spannung der Sprache zusammenbrechen.”

3 Zeiten, unverhoffte Tage
Den “Juden-Jockel” oder Levi kannte Strittmatter aus Erzählungen seines Vaters, ebenso wie den Taubmann aus Raabe Baikal oder den skurrilen Knecht Rot aus dem Polenweiher, der immer nur in Flaschen pinkelte. Apropos: Polenweiher, gleichfalls ein „Volkstheaterstück“, Ort: Schwarzwald, Zeit: 1943-46, handelt wieder von Verdrängungen, im Großen und Kleinen. Dass sich an einen herausragenden Erstling ein nicht minder gefeierter Zweitling anschließt, ist selten. Strittmatter hatte Erfolg, sehr früh schon. Mit beeindruckender Stetigkeit honorierten Kritiker, Juroren und Fördergremien sein Talent. Seit er mit Viehjud Levi 1981 den ersten Preis beim baden-württembergischen Landeswettbewerb für Volkstheaterstücke errang, erhielt er binnen 14 Jahren 15 Preise und Stipendien.

4 Einführung ins Gewerbe
Der Literaturbetrieb nahm den sympathisch-schweigsamen Schwarzwälder mit offenen Armen auf. Strittmatter ließ es sich gefallen, ohne sich anzubiedern. 1984 trat er beim Klagenfurter Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis an. Mit Der Schwarzwursthammer. Aus einem Erzählprojekt – so der damalige Titel – gewann er prompt den Ernst-Willner-Preis. Erneut beschäftigte er sich auf seine eigenwillige Art mit Heimat und Dialekt, Region und Herkunft. Strittmatter erwies sich als talentierter Umschreiber einmal gefundener Themen unter Ausnutzung aller medialen Möglichkeiten. Von Viehjud Levi existieren neben der alemannischen Urfassung auch eine hochdeutsche Fassung (1983) und eine Hörspielversion (1982). Auch Didi Danquarts gleichnamiger Film, der im Herbst 1999 in die Kinos kam, basiert ursprünglich auf einem Drehbuchentwurf von Strittmatter, der dem Auswahlausschuss für Filmförderung beim Bundesminister des Innern schon 1982 vorlag, aber abgelehnt wurde. Polenweiher (1984) ist vom Autor selbst für Radio (1985) und Fernsehen (1986) bearbeitet worden, die Verfilmung von Raabe Baikal war geplant, harrte nur noch der Finanzierung.

5 Brüder
Kaum einer der Rezensenten kann auf die Nennung von Ödön von Horváth und Franz Xaver Kroetz als Strittmatters literarischen Brüdern im Geiste verzichten. Einen anderen vergisst man. In Strittmatters nachgelassener Bibliothek – zumeist gängige Titel großer Erzähler in Taschenbuchausgaben, keine bibliophilen Stücke, einige Werkausgaben – findet sich in einem Insel-Bändchen der Kalendergeschichten eine fingierte Widmung mit Kugelschreiber: "Für Thomas Strittmatter. Johann Peter Hebel". Wer immer sich auch den Scherz erlaubte, er besaß literarischen Sachverstand. Ernst Bloch, der die Auswahl der Hebelschen Prosastücke besorgte, bemerkt im Nachwort: "Er erzählt, aber wie, Hebel ist leicht, lebhaft, dicht, spannend, bedächtig in einem. Seine Form ist […] doch so, daß sie nicht eilt. Geht in ehemaligem ländlichen Ablauf vor sich, obwohl in Kuriosem."

Das hätte Hebel sicher gefreut und Strittmatter gewiss gerne über sich sagen hören. Man muss darüber hinaus gar nicht die gemeinsame alemannische Herkunft erwähnen oder beider Vorlieben für Wirtshäuser (als Erzähl- und Genussorte) und Figuren, die an den Rändern der Gesellschaft stehen. In Hebels Unverhofftem Wiedersehen vergehen fünfzig Jahre wie im Flug: “Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der Siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuitenorden wurde aufgehoben und Polen geteilt …”. Strittmatter zollt dieser rasanten Raffung in Raabe Baikal Tribut: “In Asien wurden Revolutionen ausgedacht, geplant, durchgeführt […] die Menschen hungerten in Afrika, in der fernen Sowjetunion […] drohte ein Atommeiler zu explodieren. […] Eine Feuersbrunst zerstörte die Stadt Lissabon […] und in San Francisco drohte nach wie vor ein Erdbeben.” Das „Merkt wohl ihr Leute“ aber, mit dem Hebel häufig schließt, fehlt bei seinem Nachfahr. Wer nach Theorem, Begründung und Moral sucht, wird nicht fündig. Ein letztes Wort ist selten gesprochen, der verbalen Zurückhaltung des Autors entgegenkommend, der hin und wieder begeistert Walter Benjamins Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows zitierte: "Es ist nämlich schon die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten." Woher kommt die Mädchenleiche in der Erzählung „Kahlschlag“ (1986)? Hat sich der Zinnscherer tatsächlich an der Sturmbühlkät vergangen (Denkschrift zur Sache des Zinnscherers, 1981)? Richtet der Schuss, der "irgendwann fällt", den Unhold (Minidrama, 1987), und: war dieser überhaupt einer? Wer tötete Levi? Vorhang zu, die Fragen bleiben offen.

6 Wie arbeitet der Tod
Auffällig oft aber begegnet man in Strittmatters Œuvre dem Tod. Hirsch Levi wird erschossen, Horgerandres vielleicht umgebracht, der Rot-Jockel stirbt an seiner Darmträgheit, Hungerbühler meldet sich freiwillig an die Front und fällt, den Waldarbeiter Josef Zuck zerquetscht ein Baum – eine Aufzählung sämtlicher Arten und Weisen, auf die im Raabe-Roman Maulwürfe, Hasen, Karpfen und Menschen verenden, ergäbe eine Liste von nicht geringer Länge. Dass Thomas Strittmatter um die eigene gesundheitliche Gefährdung, das fehlerhafte Herz, wusste, mag einen unterschwelligen Einfluss auf das Leitmotiv ausgeübt haben. Nicht nur im Raaben hat er nach eigenem Bekunden "die Ausgrenzung des Todes aus unserem Leben" zum Thema gemacht, als wollte er dem Diktum „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ entgegenarbeiten. Dem Tod kann man sich nicht entziehen, der Tod umgibt uns und macht uns befangen angesichts seiner Unvermeidbarkeit und dem Nichtwissen, was danach kommt. Und über den Tod darf der Leser lachen, weil man Tote essen kann: Als plötzlich die vermeintliche Urne mit der Asche von Raabes Vater auftaucht, ist diese mit Schokoladenstreuseln gefüllt, was nur Raabes verfressener Hassfreund Fieber erkennt und diese sogleich verspeist. Möglicherweise hatte ein Rezensent diese skurrile Szene im Hinterkopf, als er Strittmatter als schreibenden Jim Jarmusch (man denke an dessen Film „Stranger Than Paradise“) titulierte?

7 Geteilte Freuden
Filmische Schreibweise – Schreiben für den Film. Zusammen mit dem unwesentlich älteren Regisseur Jan Schütte bildete Strittmatter ein kongeniales Gespann. In gemeinsamer Arbeit entstanden „Drachenfutter“ (1987), „Winckelmanns Reisen“ (1990), „Auf Wiedersehen Amerika“ (1993). Die jeweiligen Protagonisten sind zwei Immigranten aus China und Pakistan auf der Suche nach Asyl in Hamburg, ein norddeutscher Handlungsreisender für Frisörbedarf auf der Suche nach dem Lebensglück, schließlich osteuropäische Juden in den USA auf der Suche nach dem alten Europa – Strangers looking for paradise. Was ihren Erfolg bei Publikum und Kritik gleichermaßen ausmachte, war neben der lakonisch-witzigen Erzählweise die unaufdringliche Sympathie, die Schütte / Strittmatter für ihre Figuren an den Tag legten, lauter tragikomische Existenzen, unstete Reisende, die sich auf ihre Weise der Heimat versichern wollen, auch dort, wo sie völlig fremd sind oder wo Heimat sich ganz anders präsentiert als im erinnernden Rückblick.

8 Verhebung
„Auf Wiedersehen Amerika“ gewann u.a. den Deutschen und den Bayerischen Filmpreis für das beste Drehbuch und lief bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes. Aber nicht alles wurde zu Gold, was Strittmatter anfasste. Von seinen Theaterstücken kam nach Polenweiher keines mehr über die Premiere und eine anschließende Spielzeit hinaus. Die beiden letzten noch zu Lebzeiten uraufgeführten Stücke Brach (2. Fassung) (1992) und Irrlichter-Schrittmacher (1992) wurden zumeist von der Kritik verrissen. Als hätte er in der Großstadt den Anschluss an eine Gegenwart jenseits der archaischen Bezirke, die er im weithin gefeierten Raabe Baikal durchmaß, gesucht und nicht gefunden.

9 Die verlorene Melodie
Allmählich tastete er sich wieder an die erzählerische Prosa heran und arbeitete zuletzt an einem Zyklus von sieben Monologen, in denen er “sprachlich-evolutionäre Vorgänge poetisch darstellen“ wollte. Postum erschienen 1996 zwei davon unter dem Sammeltitel Milchmusik. Beklemmend im zweiten Text „Kolk“, wie das nach manchen tierischen Metamorphosen wieder Mensch gewordene Erzähler-Ich sein vermeintlich unmittelbar bevorstehendes Ende halluziniert: „Gut jetzt Sterben, gut, jetzt ist es aus ...“. Hier tritt Strittmatters Begabung zum ruhigen, präzisen Beobachten zutage: angesichts permanenter Reizüberflutung sollen alle Sinne wieder zu ihrem Recht kommen, ein Plädoyer für eine Resensibilisierung, das bereits die gehandicapten und zugleich überempfindsamen Gestalten Taubmann, Fleischbeschauer, Klavierstimmer in Raabe Baikal verkörpern. In der Titelgeschichte verbringt ein abseits lebender Sonderling die Zeit damit, die Geschehnisse vor seinem Fenster und in seiner Teetasse zu beobachten. Eines Tages sagt der Eigenbrötler dem Nachbarjungen, seinem einzigen Kontakt zur Außenwelt, ein Gedicht auf: "MUTTER, MUTTER, D'MILCH WIRD IMMER MEHR oder ähnlich. Es tat ihm leid, daß er (der Junge) es nicht auswendig lernen wollte. Er sagte, er werde das Gedicht auf der Stelle vertonen. Und spielte auf der Maultrommel eine Milchmusik. Du hast recht, sagte ich, das Auswendiglernen hat keinen Sinn, wenn du solche Musik zum Gedicht machst. Über die Musik habe ich auch den Wortlaut des Gedichtes vergessen." Die Melodie wurde gefunden, der Text löste sich dabei in Klang auf – Kunst erweist sich als ein Wechselspiel zwischen Erinnern und Vergessen, als Vergegenwärtigung verschiedener Ab- und Anwesenheiten. Mit Verlusten muss dabei gerechnet werden. Man kann in dem Kauz auch einen selbstironischen Entwurf des Autors als altem Mann vermuten, doch bleibt die Melancholie Strittmatters stete Begleiterin und eigentliche künstlerische Antriebskraft.

10 Apfelduft
Am Ende und Anfang: St. Georgen im Schwarzwald. Der Waldfriedhof. Auf Strittmatters kleiner Grabplatte ein Satz aus Raabe Baikal: "Der Apfelduft wurde ihm wichtiger als das Tageslicht, das nun ohnehin schon früh verlosch." Angeblich lag auch einem anderen Schriftsteller viel am Apfelduft, insbesondere an jenem, der von vermoderten Früchten ausging. Der Sage nach versteckte er davon sogar welche in seiner Schreibtischschublade. Um in produktive Stimmung zu geraten, sei stattdessen empfohlen, einmal in Raabe Baikal nachzulesen, wie schön Äpfel duften können.

Zum Weiterlesen:

Thomas Strittmatter, Raabe Baikal. Roman. Diogenes, Zürich 1990. 296 Seiten, 9,90 Euro

Viehjud Levi und andere Stücke. Diogenes, Zürich 1992. 368 Seiten, 19,90 Euro

Milchmusik. Zwei Monologe. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1996. 80 Seiten, 12,50 Euro

Gunna Wendt, Der Tod ist eine Maschine aus Eis. Annäherung an Thomas Strittmatter 1961–1995. A1-Verlag, München 1997. 120 Seiten, 10 Euro

Anlässlich des 10. Todestages schreibt das Thomas-Strittmatter-Gymnasium St. Georgen einen “Thomas-Strittmatter-Kunstpreis” in den Sparten “Literatur” und “Bildende Kunst” aus.

Näheres unter http://www.st-georgen.de/gymnasium/



Von:
Volker Michel, geboren 1965, erarbeitet an der Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. ein digitales Informationsportal für das Fach Germanistik. In der Reihe SPUREN der Marbacher Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg erschien von ihm 2001 Thomas Strittmatter und St. Georgen im Schwarzwald.


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