Ausgabe: November/Dezember 2005  


Zurück zur Übersicht der Hefte
Zurück zur Übersicht Hefte 2005


 

Über Schiller im Bilde

Kaum ein Jubiläumsjahr, in dem nicht ein neues Porträt des zu Feiernden entdeckt würde, um kurz danach wegen mangelnder Authentizität wieder zu verschwinden. Im Schillerjahr 2005 ist uns ein solcher Fall erspart geblieben. Doch noch nie war der Dichter so oft und in so vielen Gestalten zu sehen: auf Buchumschlägen und Plakaten, im Fernsehen und im Internet, als Karikatur und Comic-Held, als Salzstreuer und Schokoladenfigur. Angesichts dieser Bilderflut wurde häufiger denn je die nahe liegende Frage gestellt: Wie hat Schiller wirklich ausgesehen? Eine Frage, die auch den Kurator der größten Sammlung von Schillerporträts in eine gewisse Verlegenheit bringt. Denn bis heute gibt es keine solide, auf quellenkritischer Grundlage beruhende Schiller-Ikonographie. Es lässt sich noch nicht einmal klar definieren, welche der überlieferten Bildnisse den Dichter überhaupt darstellen und welche nicht. Auch die schriftlichen Zeugnisse über Schillers äußere Erscheinung weichen in vielen Punkten voneinander ab.

Eine sehr überzeugend wirkende Beschreibung hat fünf Jahre nach Schillers Tod dessen vormaliger Akademiekommilitone Georg Friedrich Scharffenstein niedergeschrieben: „Seine Stirne war breit, die Nase dünn, knorpelig, weiß von Farbe, in einem merklich scharfen Winkel hervorspringend, sehr gebogen, auf Papageienart und spitzig. Die Augenbrauen waren rot, umgebogen nahe über den tiefliegenden dunkelgrauen Augen [und] inklinierten sich bei der Nasenwurzel nahe zusammen. Diese Partie hatte sehr viel Ausdruck und etwas Pathetisches. Der Mund war ebenfalls voll Ausdruck, die Lippen waren dünn, die untere ragte von Natur hervor […] und drückte sehr viel Energie aus. Das Kinn war stark, die Wangen blass, eher eingefallen als voll und ziemlich mit Sonnenflecken besät. Die Augenlider waren meistens inflammiert, das buschige Haupthaar war rot von der dunklen Art. Der ganze Kopf, der eher geistermäßig als männlich war, hatte viel Bedeutendes, Energisches, auch in der Ruhe.“ Vergleicht man diese nicht gerade beschönigende Schilderung mit anderen Aussagen, wird deutlich, dass Schillers Äußeres von den Menschen seiner Umgebung recht unterschiedlich wahrgenommen wurde. Selbst über die Augenfarbe gibt es mindestens drei sich widersprechende Angaben.

Fest steht, dass Schiller, gemessen an seinem Ruhm und seiner Lebensdauer, gebührend oft und auch von bedeutenden Künstlern porträtiert worden ist. In einem Zeitraum von gut dreißig Jahren sind mehrere Büsten, Gemälde, Zeichnungen und Silhouetten entstanden, die fast alle schon zu Lebzeiten des Dargestellten oder kurz nach seinem Tod in Druckgrafiken umgesetzt und verbreitet wurden. Doch selbst wenn es eine lückenlose Aufstellung dieses umfangreichen Bestandes gäbe: Wüssten wir dann, wie Schiller wirklich ausgesehen hat? Ist die Frage nach seinem tatsächlichen Aussehen, nach der „Porträt-Ähnlichkeit“, überhaupt richtig gestellt? Müsste man, angesichts der deutlich differierenden zeitgenössischen Darstellungen und erst recht der vom Geniekult des 19. Jahrhunderts geprägten postumen Bilder, nicht vielmehr fragen: Wie wurde er von wem gesehen? Zu welchem Zweck wurde er auf welche Weise dargestellt? Welche Rolle spielen die Bildtraditionen, der Zeitstil, welche die individuellen Darstellungsabsichten der Porträtisten und ihrer Auftraggeber? Allein über Anton Graffs Entscheidung für den Typus des Melancholikus und über die Homerbüste im Hintergrund des Gemäldes von Ludovike Simanowiz ließen sich ganze Abhandlungen schreiben.

Auch jeder Betrachter von Bildnissen trägt, bewusst oder unbewusst, zu ihrer Interpretation bei. Man steht ja nicht nur einer bereits gedeuteten Persönlichkeit gegenüber, sondern deutet diese auch selbst wieder. So wäre zu fragen, nach welchen Kriterien und aufgrund welcher Sehgewohnheiten wir die auf uns gekommenen Bildnisse beurteilen, wie wir uns Schiller vorstellen oder vorstellen wollen. Dabei ist ein Spezifikum von Künstler- bzw. Schriftstellerporträts in Rechnung zu stellen: Nicht nur der Urheber, auch der Betrachter wird hier von der Kenntnis der Werke des Porträtierten schwerlich abstrahieren können. Dies mag einer der Gründe sein, weshalb sich mitunter gerade die zweifelhaften Schillerporträts besonderer Beliebtheit erfreuen. Eines der in Marbach aufbewahrten Gemälde trägt auf der Rückseite die Aufschrift „Mein Schiller“. Bezeichnenderweise handelt es sich um ein Bild, das höchstens eine für den einstigen Besitzer gültige, subjektive Richtigkeit beanspruchen kann. Dass die kleine Marbacher Tuschsilhouette eines unbekannten Federfuchsers am Stehpult jahrzehntelang als Schillerporträt verbreitet wurde, ist nur durch den verständlichen Wunsch zu erklären, eine Darstellung des Dichters bei der Arbeit zu besitzen. Und für die Zuschreibung einiger kränklich wirkender Anonymi spricht nichts anderes als die Absicht, Schillers schlechten Gesundheitszustand bildlich dokumentiert zu wissen. Doch auch wer fast täglich mit Schillerporträts umgeht, ist gegen Fehlinterpretationen nicht gefeit und kann allenfalls eine behutsame Annäherung versuchen. So will ich mich im folgenden auf die Vorstellung von vier Bildnissen beschränken, die mir authentisch erscheinen.

Da wären zunächst das erste und das letzte Porträt zu nennen, die 1773 oder wenig später entstandene Silhouette des etwa Vierzehnjährigen und die am Tag nach Schillers Tod, am 10. Mai 1805, von Ludwig Klauer hergestellte Totenmaske. Beide Bildnisse erheben keinen Kunstanspruch, können also, trotz aller auch diesen Porträtgattungen eigenen Stilisierung, als weitgehend naturgetreu gelten. Die getuschte Silhouette stammt aus der Sammlung des Intendanten der „Militärischen Pflanzschule“, Christoph Dionysius von Seeger. Er bewahrte die Konterfeis seiner Zöglinge wie eine Schmetterlingssammlung auf, um – ganz nach der damaligen Mode – aus den Gesichtszügen, vor allem aus der Form des Profils, Rückschlüsse auf den Charakter zu ziehen. Ähnliche Ziele verfolgten die Anhänger der von Franz Joseph Gall begründeten Phrenologie, einer Disziplin, die durch den Vergleich von Schädelformen, vor allem anhand von Gipsabgüssen, geistige und seelische Eigenschaften der Personen zu definieren suchte. In „Gallscher Manier“, das heißt als Abformung des gesamten Kopfes, ist auch Schillers Totenmaske gestaltet. Ohne auf die historisch überholten und durch späteren Missbrauch diskreditierten Methoden der vergleichenden Physiognomik zu rekurrieren, wage ich die Behauptung, dass sowohl die Silhouette als auch die Totenmaske, selbst dann, wenn man nicht weiß, wer der Dargestellte ist, auf eine besonders markante und geistvolle Figur schließen lassen.

An diesen beiden Bildnissen, dem frühesten und dem spätesten, müssen sich, zumindest was die Ähnlichkeit der Einzelformen betrifft, alle in den dazwischen liegenden Jahren entstandenen Schillerporträts messen lassen. Unter ihnen scheinen mir die 1787 entstandene Silberstiftzeichnung von Dora Stock und die Gewandbüste Johann Heinrich Danneckers von 1794 der Person besonders nahe zu kommen. Für beide Künstler gilt, dass sie – im Unterschied zu den Urhebern der meisten anderen erhaltenen Bildnisse – Schiller aus jahrelangem, freundschaftlichem Umgang sehr genau kannten. Das spricht nicht nur für eine präzise Wiedergabe der Gesichtszüge, sondern auch für ein darüber hinausgehendes intuitives Erfassen der Persönlichkeit. Wenngleich die Zeichnung ursprünglich als Erinnerungsbild für Schillers Dresdner Freunde gedacht war, darf man auch bei Dora Stock die Absicht voraussetzen, ihn nicht als Privatmann, sondern als eine besondere, „geniale“ Person darzustellen. Diesen Eindruck erweckt nicht zuletzt die leichte Untersicht, aus der sie den Kopf wiedergibt und auf die auch Danneckers Büste angelegt ist. Trotz der hohen Qualität der Zeichnung versteht es sich, dass man nur bei der Büste von einem kongenialen Wurf, einer Ebenbürtigkeit von Künstler und Modell, sprechen kann. Insofern zählt die von Dannecker später mehrfach variierte Plastik zu den seltenen Glücksfällen der Porträtgeschichte.

Unter den in Deutschland geschaffenen Dichterbüsten des Klassizismus kann sie sich vielleicht als einzige mit dem berühmten Voltaire-Porträt von Jean-Antoine Houdon messen. Vergleicht man die Dannecker-Büste mit Schillers Totenmaske, weist sie, bei aller Überhöhung ins Apollinische, eine geradezu verblüffende Porträt-Ähnlichkeit auf.

Das Schillerbild der Nachwelt ist durch Dannecker so stark geprägt worden wie kein anderes Dichterbild durch einen anderen Künstler. Doch aus der außergewöhnlich langen und intensiven Wirkungsgeschichte dieser Büste ergibt sich gerade das Problem: Die Heroisierung Schillers in den Porträts und Denkmälern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, seine politische Vereinnahmung durch die Nationalbewegung, das Deutsche Kaiserreich, das NS-Regime, aber auch die sozialistische „Erbepflege“ stehen einem unbefangenen Blick auf die „authentischen“ Porträts nach wie vor im Wege. Allzu schnell gezogene Parallelen zwischen Aussehen und Charakter, zwischen Leben und Werk sind bis heute gang und gäbe. Wenn selbst ein auf das jugendliche Publikum zielender Schiller-Comic die Titelfigur trotz aller Sommersprossen streckenweise mit dem antiquierten Pathos eines einsamen Helden befrachtet, wirkt das mehr als befremdlich. Zugegeben: Jede Generation wird Schiller neu lesen und sich sein Bild neu konstruieren. Doch während dem Leser eine weit fortgeschrittene historisch-kritische Textforschung als Kontrollinstanz zur Verfügung steht, muss der Betrachter der Porträts noch ohne eine fundierte wissenschaftliche Analyse der Bildquellen auskommen. So bleibt zu hoffen, dass in den vier Jahren bis zum nächsten Schillerjubiläum ein stärkeres Gewicht als bisher auf diesen Gegenstandsbereich gelegt werden kann.


Von:
Michael Davidis, Jahrgang 1947, leitet seit achtzehn Jahren die Kunstsammlungen des Deutschen Literaturarchivs Marbach, aus denen die vier abgebildeten Porträts stammen, (Fotos: Mathias Michaelis)


 Zurück zur Übersicht der Hefte
Zurück zur Übersicht Hefte 2005