Der Blickfänger - Ein Besuch in der Schatzkammer des Sammlers, Antiquars und Verlegers Jürgen Holstein

Von Michael Bienert

Auf dem Schreibtisch von Jürgen Holstein stapeln sich Bücherbestellungen. Wieder klingelt das Telefon. Einer der führenden deutschen Buchhändler ist am Apparat. Er fleht um ein einziges Exemplar eines begehrten Buches, das Jürgen Holstein im Eigenverlag herausgebracht hat. Nicht um es weiterzuverkaufen, sondern weil der Händler es unbedingt in seiner Privatbibliothek sehen möchte. Vergeblich. Die vierhundert Exemplare der Erstausgabe sind weg, und eine Nachauflage wird es nicht geben. „Auch dieser Buchhändler hat im Sommer einen Werbeprospekt zugeschickt bekommen und nichts bestellt”, sagt Jürgen Holstein lächelnd. Pech gehabt.

Blickfang heißt das heiß begehrte Buch. Selten hat eine so abgelegene  Neuerscheinung die Bücherwelt derart in Entzücken versetzt. Blickfang ist der opulente Katalog einer Büchersammlung, die Jürgen Holstein und seine Frau in zwei Jahrzehnten zusammengetragen haben. Auf über fünfhundert Seiten dokumentiert der großformatige Band in Farbe eintausend Bucheinbände und Schutzumschläge aus Berliner Verlagen der Weimarer Republik. Ein Fest fürs Auge, und mehr als das: eine kulturhistorische Pionierarbeit und, so viel ist jetzt schon sicher, ein Standardwerk zum Thema Buchkunst. 

Dass die Zwanziger Jahre eine sehr experimentierfreudige und produktive Zeit waren, gerade auf den Gebieten der Typographie, Werbung und eben auch Buchgestaltung, wusste man ja schon. Aber welche kreative Explosion sich damals ereignete, das hat man so noch nie zu Gesicht bekommen. Man ist hingerissen von den Büchern unbekannter Verlage und den Ideen ihrer Einbandgestalter. Das opulente Bilderbuch ist zugleich ein kompendiöses Lesebuch: Jürgen Holstein hat zwölf Spezialisten um vertiefende Aufsätze zum Thema gebeten, die raffiniert in die alphabetische, das heißt spielerische Ordnung des Buches eingelagert sind: Sie beginnt mit A wie Amerika, Anarchismus, Anthologien, Architektur, Autos und endet mit Z wie Zeitgenössische Literatur und Zeitschriften.

Was ist das für ein Mann, der so ein Wunderbuch auf den Markt bringt? Sammler können ziemlich weltentrückte Sonderlinge sein. Die Wohnung von Jürgen Holstein, ein unscheinbarer Bungalow in einem nobleren Viertel der Hauptstadt, wirkt abgeschottet gegen die Umgebung, am Klingelschild steht eine Chiffre, die Fenster sind vergittert. Warum, wird klar, sobald man einen Blick auf die dort gebunkerten Schätze erhaschen durfte. Drinnen im Hause empfängt den Besucher die pure Freundlichkeit. Einen knorrigen alten Herrn über siebzig erwartete man, statt dessen sitzt einem ein mitteilungsfreudiger, wacher und agiler Mann gegenüber, dem man den Jahrgang 1936 nicht recht glauben möchte. Hält das Sammeln von Büchern etwa jung? Und woher rührt diese Obsession?

Zu den prägenden Eindrücken der Kindheit muss die Bibliothek des Vaters gehört haben, eines Grafen von Holstein. „Ein Lebenskünstler, der nach dem Ersten Weltkrieg aus der Kadettenanstalt auf die Straße gesetzt wurde. In der Republik lebte er ganz gut von dem Geld, das die Mutter mit in die Ehe gebracht hatte”, erinnert sich der Sohn. Nachdem der Vater den Heldentod im Zweiten Weltkrieg gesucht hatte, schlug sich die Mutter im zerstörten Nachkriegsberlin mühsam mit den sechs Kindern durch. Mit 16 Jahren wollte Jürgen die Schule verlassen und unbedingt einen Bücherwagen haben, um auf der Straße Handel zu treiben. Das verhinderte die Mutter. Doch durfte der Junge später bei einem Antiquariatsbuchhändler in die Lehre gehen.

Aus Angst vor einer sowjetischen Okkupation verließ Holstein mit seiner Frau und den Kindern 1961 das unsichere West-Berlin. Er arbeitete als Geschäftsführer im Antiquariat Amelang in Frankfurt am Main, ehe er sich 1966 mit Hilfe eines bescheidenen Bankkredits selbstständig machte. Bücher über Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts wurden sein Spezialgebiet. Davon zeugen mehr als hundert Antiquariatskataloge zu Themen wie dem Bauhaus, der Künstlergruppe „Die Brücke”, der russischen und tschechischen Avantgarde bis hin zu Joseph Beuys. Einmal stellte Holstein einen Katalog zum Thema Weltausstellungen seit 1851 zusammen, der gedruckt, aber nie verschickt wurde, weil die National Gallery in Washington das gesamte Konvolut sofort ankaufte. Seine besten Kunden saßen in den USA: Dort klafften nach dem Krieg große Bestandslücken zur deutschen Kunst in den Spezialbibliotheken, gleichzeitig gaben ausgewanderte deutsch-jüdische Gelehrte in Fächern wie Kunstgeschichte den Ton an.

Mit den Jahren entstand ein Netzwerk von Freundschaften in die USA, die zu aufregenden Entdeckungen führten. So lernte Holstein zum Beispiel die Tochter des emigrierten Architekten Erich Mendelsohn kennen. In deren Garage wühlte er so lange in ausrangiertem Gerümpel, bis er den vermuteten Schatz fand. Briefe, Aufzeichnungen, Modelle und sogar selbst entworfene Möbel des berühmten Architekten wurden so für die Nachwelt gerettet.

Im Jahr 1986 saßen Jürgen Holstein und seine Frau, eine gelernte Buchhändlerin, in ihrem Haus am Starnberger See. „Es war das Paradies”, erinnert er sich, „aber eigentlich fühlten wir uns noch nicht alt genug für das Paradies.” Die politische Großwetterlage ließ bereits ahnen, dass die Epoche des Kalten Krieges sich dem Ende zuneigte. Die Holsteins suchten per Anzeige eine schattige Wohnung in Berlin unweit vom Kurfürstendamm. Schattig, um die wertvolle Bibliothek vor Lichteinfall zu schützen. Und in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms war Jürgen Holstein aufgewachsen.

In Berlin angekommen, entdeckte er bei einem Antiquariatskollegen ein gut erhaltenes Exemplar von Döblins Berlin Alexanderplatz mit dem berühmten Schutzumschlag des Buchgestalters Georg Salter. Es war die erste Neuerwerbung nach der Heimkehr. Damit war der Grundstein für die eigene Sammlung von Berliner Buchkunst der Zwanziger Jahre gelegt.

Doch ehe Holstein sich diesem Steckenpferd mit voller Leidenschaft widmen konnte, stellte die deutsche Wiedervereinigung den Antiquar vor neue Herausforderungen. Schockiert sah er, wie Tonnen von Büchern aus DDR-Produktion auf den Müll geworfen wurden und wie die DDR-Kunst in Misskredit geriet. Auf eigene Rechnung reiste Holstein durch die neuen Bundesländer, um Zeugnisse der untergehenden DDR-Kunstlandschaft zu retten. Er besuchte ehemalige Kulturfunktionäre, aber auch Oppositionelle, und sammelte Quellenmaterial ein. Da sich in Deutschland keine Institution dafür interessierte, verkaufte er seine riesige Sammlung zur DDR-Kunst schließlich ans Getty Center in Kalifornien. Er half aber auch Lücken in den ostdeutschen Universitätsbibliotheken schließen, indem er für sie umfangreiche Büchersammlungen von Kunstliteratur aus dem Westen zusammenstellte.

Im Jahr 2001 verkaufte der Antiquar sein Lager, um in Rente zu gehen, das heißt: sich nun ungestört seinen privaten Sammlerleidenschaften hinzugeben. Vor zwei Jahren brachte er ein schönes Buch über Georg Salter heraus, noch nicht ganz so opulent wie Blickfang, aber schon prächtig genug, um von der Stiftung Buchkunst als eines der schönsten Bücher des Jahres ausgezeichnet zu werden. Dieses Buch ist übrigens noch lieferbar, und wer traurig ist, dass er Blickfang nicht mehr kaufen kann, sollte den Salter-Katalog erwerben, solange das noch möglich ist.

Mit Blickfang wollte sich das Ehepaar Holstein den Traum vom perfekten Buch erfüllen. Der gelbe Halbleineneinband mit Prägedruck, das dicke Papier, die Typografie, die Bilder, die beiden Lesebändchen in Gelb und Rot – es passt alles perfekt zusammen. Und selbstverständlich muss ein Buch über das Äußere von Büchern einen perfekten Schutzumschlag haben, auf festem, an den Rändern oben und unten umgeschlagenem Papier. Doch als der Umschlag aus der Druckerei kam, stellte sich heraus, dass auf einer Innenklappe der Abstand einer Textspalte zur Falzung falsch berechnet war. Also ließ Jürgen Holstein den ganzen Umschlag für teures Geld nochmals drucken. Dabei schlich sich nun aber ein Druckfehler auf dem Klappentext ein. Mit diesem Makel ist das Buch dann ausgeliefert worden: Wenn schon die Welt nicht perfekt ist, dann muss man auch Büchern Mängel zugestehen. Wie sagte der große Kleinverleger Victor Otto Stomps? „Gute Bücher müssen auch gute Druckfehler haben.”

Trotz des vergleichsweise hohen Buchhandelspreises bleibt Blickfang ein Zuschussgeschäft für Jürgen Holstein. Er hatte nicht damit gerechnet, daß die großen Feuilletons das Buch derart bejubeln und die Nachfrage anheizen würden. Jetzt zeigt es sich, dass er die doppelte Menge hätte absetzen und vielleicht sogar schwarze Zahlen schreiben können. Eine grandiose Fehlkalkulation auf höchstem Niveau.

Um das Buch zu finanzieren, haben Holsteins ein Gemälde des Malers Bernhard Heisig verkauft, das im Büro hing. Seinen Platz an der Wand nimmt jetzt ein berühmtes Fotoplakat von Joseph Beuys ein. Lebensgroß marschiert Beuys mit Filzhut und geballter Faust auf den Betrachter zu. „La rivoluzione siamo Noi”, hat Beuys 1972 unten auf den Rand gekritzelt: Die Revolution sind wir, die Künstler. Dem Kunst- und Buchliebhaber Jürgen Holstein liegt dieses Bild sehr am Herzen. „Meine Frau und ich hatten es vor zwanzig Jahren schon mal besessen. Anlässlich einer großen Ausstellung haben wir es an ein amerikanisches Museum verkauft und danach haben wir es zehn Jahre lang vermisst.” Vorletztes Jahr wurde ein gleiches Plakat aus der Serie mit einer anderen Nummer in Berlin zum Verkauf angeboten, ebenfalls von Beuys signiert. Sofort griffen Holsteins zu. Der Kaufpreis entsprach ziemlich genau der Summe, die sie seinerzeit beim Verkauf erlöst hatten. Das nennt man Sammlerglück.

Am 26. Januar erhält der Sammler, Antiquar und Verleger Jürgen Holstein den Antiquaria-Preis zur Förderung der Buchkultur in der Musikhalle Ludwigsburg.

Zum Weiterlesen:

Jürgen Holstein, Blickfang. Bucheinbände und Schutzumschläge Berliner Verlage 1918–1933. Eigenverlag 2005. 520 Seiten, 198 Euro (vergriffen)

Jürgen Holstein, Georg Salter. Bucheinbände und Schutzumschläge aus der Berliner Zeit 1922-1934. Eigenverlag 2003. 166 Seiten, 88 Euro

Mehr unter www.holsteinbuch.info.


Michael Bienert ist Autor zahlreicher Bücher und berichtet für das Feuilleton der Stuttgarter Zeitung aus Berlin. Zuletzt erschien von ihm (gemeinsam mit Elke Linda Buchholz) Die zwanziger Jahre in Berlin. Ein Wegweiser durch die Stadt, 2005.

Mehr unter www.text-der-stadt.de.