Innenansichten - Ein Besuch im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen

Von Susanne Fritz

Man kann das Leben nur rückwärts verstehen,
aber leben muss man es vorwärts.

Sören Kierkegaard

Alles kann beschrieben und zum „Datenträger” der eigenen Geschichte werden. Nicht immer entscheiden darüber Geschmacksfragen, häufig gehorcht die Wahl des Schreibmaterials der puren Not. Dann wird zu Brief oder Tagebuch, was dem dringenden Bedürfnis nach Aufzeichnung nützlich und im Augenblick verfügbar ist. Zigarrenpapier beispielsweise, eine 65 Meter lange Morserolle oder das Laken eines Ehebettes; lose Kalenderblätter und karierte Notizzettel, später mit Paketschnüren oder roten Schleifen zusammengebunden, zwischen die nüchternen Deckel eines Büroordners geheftet. Einfache Schulhefte finden sich im Bestand des Archivs ebenso wie wuchtige Lederbände, die mit Goldschnitt noch kostbarer erscheinen und den Wunsch des Autors nach Wertschätzung und Haltbarkeit verraten. Fotos, Postkarten, benutzte Fahrscheine ergänzen die Berichte. Eine Haarlocke, getrocknetes Laub gesellen sich zu den Sätzen, ein Ausschnitt aus einer Tageszeitung oder ein agitatorisches Flugblatt werden inmitten persönlicher Notizen aufbewahrt. Zeichnungen können einfangen, was dem Verfasser in Worten unmöglich zu beschreiben ist. So sind auch Künstler zu entdecken, wie jener Soldat aus dem 1. Weltkrieg, der die bereits erwähnte Morserolle dicht mit Zeichnungen und Karikaturen füllte, oder jener Reisende in der Schweiz, dessen gezeichnete Szenen aus dem Leben die schriftlichen Notizen an Witz und Originalität weit überflügeln.

Das Deutsche Tagebucharchiv beherbergt eine beeindruckende Sammlung persönlicher Aufzeichnungen von Menschen, die bis dahin unscheinbar und stumm blieben, sich kaum anders haben bemerkbar machen können als im engsten privaten Umfeld, häufig nicht einmal dort. Die Motive, mit persönlichen Aufzeichnungen zu beginnen, sind vielfältig. Eins der wichtigsten ist wohl, sich zu erleichtern, ein Ventil zu finden, indem man aufschreibt, was einen sonst erdrücken würde. Schreiben als Selbstreflexion, um Distanz zu den Ereignissen zu gewinnen, Gewissheit in Phasen großer Zweifel und Unsicherheit.

Viele Menschen werden darum mit Beginn der Pubertät zu Autoren, manche bleiben es ihr Leben lang. Einsame finden im Tagebuch vielleicht den ersehnten, fiktiven Partner, die leeren, weißen Seiten werden zum Freund, mit dem sie sich unterhalten können. Andere wiederum richten sich an einen realen, geliebten Menschen, mit dem sie gegenwärtig nicht anders kommunizieren können als auf dem Papier, wie jene Frauen, deren Männer im Krieg vermisst werden und deren Schicksal ungewiss ist. Schreiben, um nicht unterzugehen im Strudel der Ereignisse, um die gestörte Verbindung aufrechtzuerhalten, um Trost zu finden und Hoffnung zu hegen. Vom Wunsch nach Frieden und zivilem Leben zeugen insbesondere die unzähligen Feldpostbriefe und Aufzeichnungen, die während des Kriegs, in Gefangenschaft, auf der Flucht und in provisorischen Quartieren unter schwierigsten Bedingungen geschrieben wurden. Mit dem Risiko, entdeckt und womöglich als Spione bestraft zu werden, bezeugen die Autoren das schier Unsagbare, Ungeheuerliche. Beim Lesen solch authentischer Zeilen wird unmittelbar spürbar, wie Menschen sich in existentiell bedrohlicher Lage an der Sprache festhalten und aus dem Schreiben sogar neuen Lebensmut schöpfen können.

Diese Lektüre ist manchmal schwer erträglich, denn die Stille des Papiers bewahrt jeden Seufzer, jeden unterdrückten Schrei. An die Berichte von „Zeitzeugen” in einschlägigen Dokumentationen ist der Fernsehzuschauer inzwischen ja gewöhnt; die Fernsehkultur folgt verlässlichen Regeln und bereitet selbst schlimmste Themen in geradezu beruhigender Weise auf. Die Brief- und Tagebuchschreiber entziehen sich dieser kulturellen Abmachung und ideologischen Kontrolle. Sie sind weniger „raffiniert”, und gerade dass diese Texte unter Ausschluss der Öffentlichkeit entstehen und keinen anderen Zweck verfolgen als einen rein persönlichen, intimen, macht sie für die Kulturforschung so interessant. Mancher mag sich zwar durchaus zu Posen hinreißen lassen und sich – rückblickend vorausschauend – neu erfinden. Memoiren werden schließlich auch dazu verfasst, einen persönlichen Mythos zu konstruieren und zu befestigen; mehr oder weniger bewusste Geschichtsfälschungen gehören zum Genre des Lebensberichts vermutlich ebenso wie der Versuch, aufrichtig zu erzählen. Ein kleines Beispiel für die Manipulation der eigenen Lebensspur: Ein deutscher Offizier lässt seine Geliebte im besetzten Paris unerwähnt, da er damit rechnen muss, dass seine Ehefrau seine Aufzeichnungen einmal lesen wird. Dies erzählt uns der britische Historiker Eric Place und fügt hinzu, er werde beim Umgang mit persönlichen Dokumenten häufig das Gefühl nicht los, ungebeten in fremde Welten einzudringen, wie ein Voyeur etwas zu sehen, was nicht für seinen Blick bestimmt ist.

In den „Blogs”, einer Variante des Tagebuchschreibens im Internet, gehört der Voyeurismus von vornherein zum Spiel dazu. Hier werden Ereignisse und Seelenleben umgehend einer anonymen Öffentlichkeit preisgegeben. Die Verfasser offenbaren weniger ihr geheimes Leben, als dass sie schauspielern, Identitäten erfinden. Wer hier schreibt, tritt auf – und ist lieber ein Held als ein Verlierer. Doch gerade das Internet kann als gigantisches Archiv gelten, als kollektives Weltgedächtnis, das so vergesslich wie verlässlich erinnert, was irgendwo irgendwem geschieht.

Sich zu äußern und gleichzeitig zu schweigen heißt, ein Geheimnis zu wahren, es auszusprechen, ohne es umgehend mitzuteilen. Hierin liegt die persönliche Freiheit, die mancher Schreibende anhand des Tagebuchs sucht und findet. Das geheimgehaltene Buch wird zur Quelle, aus der die eigene Identität sich speist und erneuert. Die im Deutschen Tagbucharchiv versammelten Texte wurden denn auch meist ohne jede künstlerische Ambition verfasst. Obwohl es schon einmal vorkomme, so höre ich, dass einer sich auf diesem Weg seine Entdeckung als Literat erhofft. Dabei lesen sich viele Texte, die das Archiv aufbewahrt, auf Anhieb nicht spannend, sind einfach nur Alltag, graues, eintöniges Leben. Im Tagebuch gibt es kein Diktat der großen, allgemeinen Bedeutung. Es darf auch festgehalten werden, dass nichts passiert. Der Feldprediger J. H. L. Holekamp betonte in seinen Aufzeichnungen von 1793–95 gerade die „Ereignislosigkeit” jenseits der Kriegshandlungen – und hat auch damit eine Spur hinterlassen, die sein eigenes, kurzes Leben bis heute überdauert hat.

Obwohl innerhalb der Geschichtswissenschaft die Alltags- und Mentalitätsgeschichte inzwischen fest verankerte Forschungszweige seien, würden die hierzu notwendigen Quellen bisher nicht in größerem Umfang gesammelt und systematisch der Wissenschaft zugänglich gemacht, heißt es in der Selbstdefinition des Deutschen Tagebucharchivs. Damit ist es für die Erforschung zeitgeschichtlicher Phänomene eine wahre Fundgrube. Ich begegne dort dem jungen Historiker Eric Place aus Brighton und seinem Kollegen Giorgio Liuzzi aus Pisa. Place arbeitet über das Leben deutscher Soldaten in Paris während der Besetzung, Liuzzi über die deutsche Wehrmacht in Friaul und Istrien 1943–45. Die weitgereisten Doktoranden zeigen sich nicht nur beeindruckt von der Fülle des für ihre Arbeit überaus interessanten Materials. Gerade dessen systematische Erfassung und Aufbereitung erspare ihnen eine Menge Zeit. Eine Befragung der Datenbank führe schnell zum Ziel. Nicht nur die entsprechenden Dokumente würden mühelos ermittelt, der Forscher erfahre gleich, auf welcher Seite er das Buch aufschlagen müsse. Das sei einmalig, bekunden die beiden begeistert.

Ohne die mehr als achtzig ehrenamtlichen Mitarbeiter, die mit großer Sachkenntnis und persönlichem Engagement die Archivarbeit leisten und in den Lesegruppen tätig sind – jeder Text wird von mindestens zwei Personen gelesen und nach einem Erfassungsbogen detailliert ausgewertet –, wäre das nicht möglich, sagt Frauke von Troschke, die das Tagebucharchiv im Januar 1998 als Bürgerinitiative ins Leben rief. Die Begründer machten gleich deutlich, dass ihr Anliegen weniger sentimental denn kulturell, also politisch zu verstehen ist. Ein wissenschaftlicher Beirat, darunter einige Professoren der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, ist satzungsgemäß dem Vorstand zugeordnet und berät diesen in wissenschaftlichen Fragen bei der Auswertung der archivierten Dokumente.

Zurück zum Anfang: Der Oberbürgermeister von Emmendingen erkannte die große Chance, die dieses einmalige Projekt für die Schwarzwaldgemeinde bot, und mahnte die Ideenstifterin seinerzeit zur Eile: „Mach schnell, sonst schnappt es uns ein anderer weg.” Die Stadt überließ dem Verein Räume im „Alten Rathaus”, die gerade frei standen, nach einem Aufruf in Presse und Rundfunk trafen die ersten Texte ein, die Arbeit konnte beginnen.

Das Deutsche Tagebucharchiv hat ein Vorbild, das italienische „Archivio Diaristico Nazionale” in Pieve S. Stefano bei Arezzo, das Frauke von Troschke kennen gelernt hatte. Dort finden jährlich im September auch die „Autobiografietage” statt: Auf öffentlichen Plätzen lesen Schauspieler Passagen aus ausgewählten Tagebüchern. Lebhafte Diskussionen entspinnen sich, die Jury verleiht den Premio für das beste italienische Tagebuch. Frauke von Troschke hofft, ein solches Festival bald auch in Emmendingen veranstalten zu können, vielleicht schon in diesem Jahr. Gesucht werden noch Sponsoren, denn ganz ohne finanzielle Mittel geht es trotz des enormen Arbeitspensums, das unentgeltlich geleistet wird, auch hier nicht. Dabei ist das Tagebucharchiv längst zur touristischen Attraktion, kurz: zum Wirtschaftsfaktor für die kleine Stadt geworden.
Öffentliche Lesungen veranstaltete das Tagebucharchiv bereits unmittelbar nach seiner Gründung. Unter dem Titel „Zeitreisen” werden seither Texte zu bestimmten Themen zusammengestellt und dem interessierten Publikum vorgetragen. Die zugehörigen, lesenswerten Broschüren sind für eine Schutzgebühr von drei Euro zu erwerben.

Aber kann man denn persönliche Texte so einfach öffentlich machen? Für ihre Überlassung ans Archiv ist Vertrauen die Voraussetzung. Häufig wird der persönliche Kontakt zu den Mitarbeitern gesucht. Der Büroleiter des Archivs, Gerhard Seitz, ist Sozialpädagoge. Für den sensiblen Umgang mit Menschen und ihren persönlichen Zeugnissen sei dies hilfreich, meint er. Mit dem Einsender eines Textes wird ein urheberrechtlicher Vertrag abgeschlossen, der den Status der Übergabe (ob es sich um eine Schenkung oder eine Dauerleihgabe handelt) und die Nutzung des Dokuments regelt. Viele Einsender wünschen sich eine Anonymisierung ihres Namens. Bedingung für die Aufname eines Dokuments ins Deutsche Tagebucharchiv ist sein eindeutig autobiografischer Charakter. Sein Urheber darf nicht prominent, der Text noch nicht in anderer Form veröffentlicht worden sein. Zum Bestand des Archivs zählen mittlerweile 3500 Einzelstücke von rund 1300 Autoren, darunter Haus- und Hofbücher, Feldpostkarten, Korrespondenzen, Tagebücher und Lebensberichte aus mehr als zwei Jahrhunderten. Gerade sind vierzehn Umzugskisten eines Mannes eingegangen, der sein gesamtes Familienleben über Jahrzehnte dokumentiert hat. Stößt die Archivarbeit in Anbetracht solcher Berge nicht irgendwann an Grenzen? Und manifestiert sich hier bereits, was der Philosoph Boris Groys in seiner Politik der Unsterblichkeit die „Überproduktion von Gedächtnis“ nennt?

Beim Blick in die Vitrinen wird die Handschrift zur Botschaft. Wieder ist die Palette unendlich, individuell wie die Verfasser selbst, ihre Lebensumstände und Themen. Da ist die routinierte Handschrift des Vielschreibers, die säuberliche des Buchführers, die gehetzte dessen, der unter Zeitdruck das Überlebensnotwendige hinschreibt. Man erkennt eine im Schreiben ungeübte Hand, die, die aufschreiben muss, um die Seele von Unerträglichem zu befreien, oder die beschwingte und leichtsinnige Hand, die notiert, wozu das Glück oder schlicht die Schreiblust sie verführt. Manches Schriftbild entstammt dem Computer. Was aus dem Drucker kommt, sieht ja schon fast aus wie eine Buchseite. „Derjenige, der mit dem Leben nicht lebendig fertig wird, braucht eine Hand, um die Verzweiflung über sein Schicksal ein wenig abzuwehren. […] mit der anderen aber kann er eintragen, was er unter den Trümmern sieht“, heißt es bei Franz Kafka, der Brief und Tagebuch zur reinen Kunstform erhob und die auftretenden Menschen, sich selbst eingeschlossen, zu Kunstfiguren. Die Besucherin taumelt. Eigene Erinnerungen sind wachgerufen. An persönliche Erlebnisse. Weit über diese hinaus.


Deutsches Tagebucharchiv e.V.
Markplatz 1
79312 Emmendingen
Öffnungszeiten für Besucher: Montag bis Freitag 10 bis 12 Uhr, Dienstag und Mittwoch 15 bis 17 Uhr
Führungen und Recherchen nach Vereinbarung
Tel. 07641 / 574659

E-Mail: dta@tagebucharchiv.de

www.tagebucharchiv.de

Susanne Fritz lebt als Autorin und Regisseurin in Freiburg im Breisgau. Tagebuch schreibt sie seit ihrem zehnten Lebensjahr, lieber aber Geschichten. . Sie hat die Erzählungen Ein Schaf an der Leine, Theaterstücke und Hörspiele sowie Auszüge ihres Romanprojekts „Sumidero – Am Abgrund entlang“ u. a. in Allmende veröffentlicht.

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Einige Zitate:

„Nach dem Mittagessen am 16. Januar bekam ich von Deinem Kompaniechef den Bescheid, dass du seit 25. November 1943 gegen 15 Uhr vermisst bist. Noch heute, nachdem schon bald eine Woche darüber ist, habe ich es noch nicht ganz begriffen. Geahnt habe ich es schon länger. Ging doch ein Tag wie der andre vorüber, ohne Post von Dir.“

Luise S., Januar 1944

„Mariewerder überfüllt von Russen und Flüchtlingen. Zu zwanzigst in einer Stube. Finde Jodzek mit meinen Sachen. Exzellenz von A. erschöpft und elend auf der Landstraße, nachts viermal vergewaltigt, Männer alle zum Schippen. Bärbel hohes Fieber. Angststimmung: es soll gleich wieder geräumt werden.“

Brigitte B., 25. Februar 1945

„Den 8ten Apr. fing ich wieder zu arbeiten an.
Den 8ten Apr. ging ich nachmittags ein wenig mit unserem Zeugwärter spazzieren.
Den 9ten Apr. wie gestern.
Den 10ten Apr. Ebenso.
Den 11ten Apr. Wollte ich nachmittags nach Thielt reisen; es wurde aber nichts daraus.“

Johann Heinrich Ludolph H., Feldprediger, um 1793

„Ich kann mir nicht vorstellen, jemals die Hand von ‚der Feder‘ zu lassen, solange ich denken und meine Hand bewegen kann. Aber auch diese Zeit wird irgendwann kommen, und was geschieht dann mit der Truhe und all den Büchern darin? [...] Dass mich die Entdeckung Ihres Archivs so berührt hat, sagt mir, dasss ich anfange, öfters darüber nachzudenken, ob ich all das, was da auf Tausend von Seiten verfasst ist, einst verbrennen oder irgendwohin tragen soll, wo es bewahrt wird.“

Ulla B., 14.Oktober 2005