Ausgabe: März/April 2006  


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Interview mit Elisabeth Walther

„Was jetzt im Augenblick geschieht, das müssen wir festhalten“

Elisabeth Walther, Jahrgang 1922, nach ihrer Habilitation 1962 in systematischer Philosophie Dozentin an der Universität Stuttgart, seit 1990 Leiterin der Forschungsgruppe für Semiotik, war von 1955 bis 1960 Redakteurin der Zeitschrift Augenblick, von 1960 bis 1990 zusammen mit Max Bense Herausgeberin der Reihe „rot“, nach seinem Tod alleinige Herausgeberin.

Die ersten beiden Jahrgänge der Zeitschrift Augenblick – die einmal „eine Zeitschrift wider die metaphysische Behaglichkeit“ genannt wurde – sind 2005 als Reprint im Weidler Buchverlag Berlin erschienen, der dritte Jahrgang kommt in diesem Frühjahr. Herausgegeben von Anja Ohmer unter dem Reihentitel „aspekte der avantgarde“ enthalten sie jeweils auch Vorworte der Zeitgenossen Elisabeth Walther, Ludwig Harig und Eugen Gomringer. 250 und 218 Seiten, 32 bzw. 30 Euro.

Informationen unter www.weidler-Verlag.de.

***

Wie kam es zur Gründung der Zeitschrift Augenblick?

Dazu kam es, weil der Sohn des Verlegers Karl Fischer, Klaus Jürgen Fischer, Student an der Kunstakademie war und wie die meisten Kunststudenten auch bei Max Bense hörte. Sein Vater verlegte eine Zeitschrift namens Agis. Blätter zur Förderung der Humanität, war damit wohl aber nicht mehr zufrieden und fragte Max Bense, ob er sie nicht herausgeben wolle. Bense hat sich das angeschaut, sagte jedoch, es sei nicht sein Stil und seine Idee und er wolle lieber eine eigene Zeitschrift machen. Fischer war dann auch ganz begeistert von seinen Vorschlägen.

Du hast sie von Anfang an begleitet?

Ja, natürlich, Bense hat sofort gesagt: „Du musst die Redaktion machen, du musst“, und da blieb mir nichts anderes übrig. Aber da ich das auch sehr gerne tat, habe ich keine Einwände gehabt.

Wie sah das Konzept der Zeitschrift aus?

Auf jeden Fall international, auf jeden Fall nicht nur reine Literatur, sondern auch Essays und Kritiken und Rezensionen und Literaturtheoretisches und auch ein bisschen bildende Kunst. Musik konnte man leider nicht aufnehmen, aber auf jeden Fall sollte die Zeitschrift möglichst breit und international sein. Und wir wollten insbesondere junge Autoren gewinnen, die noch nicht so bekannt waren und modern in ihrer Gesinnung.

Es gibt ein Zitat von Max Bense, in dem es heißt, man möchte „ein Sammelbecken des linken Flügels der Intelligenz“ sein, und „linker Flügel heißt: Eintreten für den aktuellen Marxismus und eine nicht widerlegbare Kritik des Eigentums“ …

Ja, wir wollten eine explizit linke Position, eine explizit moderne und nichts, was schon in anderen Zeitschriften publiziert war, Texte von jungen Leuten und eben auch aus dem Ausland. Aber wir hatten keine Vorurteile gegen etwas, was uns nicht hundertprozentig gefiel, sondern man sagte: „wir probieren“. Es waren immer Experimente und sie sind bewusst als solche verstanden worden. Es war eine junge Equipe, alle areligiös, gegen die CDU natürlich, gegen gewisse Tendenzen der Amerikaner, sehr für die Franzosen, später auch für die Brasilianer, die Konkreten, Gomringer, Heißenbüttel, durch ihn Gertrude Stein und durch mich Francis Ponge, Henri Michaux, Raymond Queneau oder auch Entdeckungen älterer Literatur wie die von Denis Diderot zum Beispiel.

An wen richtete sich die Zeitschrift? Es gab ja schon einige wie Texte und Zeichen, Akzente…

Und den Merkur gab es natürlich immer noch, aber da wollten wir anders sein. Wir richteten uns an die jungen, aufgeschlossenen Leute aus allen Wissensgebieten.

Und wie hat man die Autoren gefunden? Gab es eine Durchlässigkeit der Szene, schon international?

Einer sagte dem anderen, „da ist eine neue Zeitschrift“,  und dann schrieben uns die Leute. Ich habe eine große Sammlung von Briefen in einem Ordner, von Ludwig Harig, Manfred Esser, Peter Bichsel – viele Namen, die du kennst –, alle wollten gerne mitarbeiten: Hans Daiber, der war schon Student bei Max Bense in Jena gewesen, Christoph Bezzel, Oliver Behnssen, Jürgen Becker, Hans Magnus Enzensberger, Albrecht Fabri, Heinrich Böll, Jürgen Beckelmann, Dieter Wellershoff und so weiter.

Als Zeitschriftenmacherin interessiert mich natürlich die praktische Arbeit, Gestaltung, Vertrieb …

Der Vertrieb ging über Buchhandlungen und wurde vom Verlag organisiert, wir hatten „viele“ Abonnenten und die Auflage betrug 1000 Exemplare. Bei der Gestaltung haben wir mitüberlegt, aber der Verlag hat dann das Format und die Zwei-, später die Dreispaltigkeit bestimmt.
Es gab ein Honorar für die Autoren, keine großen Summen, es waren so 45, 50 Mark pro Beitrag damals, das habe ich genau zeilenmäßig ausgerechnet.

Musstest du viel redigieren?

Ja, ja, und ständig Korrekturen lesen, also erst die eingereichten Manuskripte und nach dem Satz noch einmal; einer der Setzer hatte wohl während des Krieges lange beim Militär dienen müssen und hat dann immer Dinge aus dem Militärjargon hineingefitzelt, statt „Etage“ „Etappe“ gesetzt oder den Satz „und dann klatschte die Leiche ins Wasser“ – ich las das, dachte, da war doch gar keiner gestorben in der Erzählung, und es hieß eigentlich, „da klatschte die Leine“ …

Du hast selber im Augenblick geschrieben und auch dafür übersetzt?

In den ersten Jahren habe ich vor allem übersetzt, angefangen mit Francis Ponge, Henri Michaux, Jean Genet. Geschrieben habe ich einige Sachen über die Franzosen, auch über Jean-Paul Sartre und Gertrude Stein, alles Mögliche.

War es schwierig, die Rechte von den französischen Verlagen zu bekommen?

Nein, überhaupt nicht, das mussten die Autoren manchmal selbst arrangieren und die waren froh, wenn sie übersetzt und gedruckt wurden. Man musste keine Rechte bezahlen, das war damals alles noch sehr informell.

Wie oft erschien die Zeitschrift?

Es war am Anfang eine Vierteljahresschrift und jeder Jahrgang sollte ein Supplement haben, davon sind drei erschienen: zum ersten Jahrgang das Arno-Schmidt-Heft Kosmas oder Vom Berge des Nordens, zum zweiten von Max Bense Descartes und die Folgen. Ein aktueller Traktat und als letztes mein Ponge: Einführung in den Kieselstein mit Zeichnungen von Hannelore Busse.

Habt ihr auch Autoren von euch aus angesprochen?

Natürlich, Arno Schmidt haben wir angesprochen und Helmut Heißenbüttel, Ludwig Harig hat sich selbst gemeldet, sein erstes Gedicht hat er im Augenblick veröffentlicht.

Wenn man die Inhaltsverzeichnisse anschaut, entdeckt man wirklich die großen Namen der Zeit …

Ja, es entsteht ein Bild der fünziger Jahre: Eugen Gomringer, Helmut Heißenbüttel mit den konkreten Ideen oder jemand wie Raymond Queneau mit seinen Hundertausend Milliarden Gedichten, unendliche Kombinationen aus einzelnen Zeilen, die alle immer einen Sinn ergeben.
Wir haben die Autoren dann auch kennen gelernt – viele kamen mal nach Stuttgart, wie Ferdinand Kriwet oder Timm Ulrichs, oder lebten in Stuttgart, wie Martin Walser, der damals am Rundfunk beschäftigt war. Dann waren da die Leute von IBM, die wollten, dass man etwas zur Kybernetik bringt, doch dazu hatten wir damals noch keine Möglichkeit. Es kamen verschiedene Leute auf uns zu, die die Zeitschrift gesehen hatten, oder wir waren an ihnen interessiert. Zum Beispiel hatten wir Eugen Gomringer an der Hochschule für Gestaltung in Ulm kennen gelernt und ihn gleich um einen Beitrag gebeten. Durch ihn haben wir Kontakt mit den Brasilianern bekommen: Décio Pignatari, Haroldo und Augusto de Campos, Cabral de Melo Neto usw. Und so wurde der Kreis immer erweitert.

Musstest du auch Texte ablehnen?

Ja, sicher, wenn sie nicht ins Konzept passten und weil ihre Art für uns nicht modern genug war.

Mir ist beim Durchblättern der Inhaltsverzeichnisse aufgefallen, dass relativ wenige Autorinnen dabei sind …

Es gab schon einige, aber damals haben sich manche vielleicht einfach nicht gemeldet. Hilda Rubinstein, Christine Koller, Brigitte Beck, Marianne Kesting, Gabriele Wohmann sind zum Beispiel erschienen. Doch, es sind schon einige Frauen, aber wir haben sie nicht extra aufgefordert, und manche schrieben ja auch in den anderen Zeitschriften wie Texte und Zeichen oder Sprache im technischen Zeitalter.

Hattet Ihr Kontakte zu deren Herausgebern, Walter Höllerer und Alfred Andersch?

Zu Höllerer ja, und mit Alfred Andersch waren wir freundschaftlich verbunden, er war damals beim Radio in Stuttgart. Seine Frau Gisela Andersch haben wir  auch ausgestellt. Man war miteinander vertraut. Max Bense hat ja überall publiziert, er kannte viele Leute auch noch aus der Zeit vor dem Krieg. Es ist immer erstaunlich zu sehen, wie das, was vor dem Krieg gemacht wurde, noch in den ersten Kriegsjahren und teils danach nahtlos weiterging, das war wirklich verrückt. Benses Arbeit ging weiter. Der Merkur und andere Zeitschriften wurden zwar erst nach dem Krieg gegründet, setzten aber oft frühere unter neuem Namen fort.

Ich würde gerne wissen, wie es zum Titel der Zeitschrift kam?

Es gab eine ganze Reihe von Titelvorschlägen, die Bense gesammelt hatte, Der Zeitgeist, Fröhliche Wissenschaft, Corona und einige andere, er hatte immer wieder neue Ideen. Augenblick kam durch seine Kierkegaard-Studien, er hat sich ja sehr früh mit Kierkegaard beschäftigt. Man denkt immer, er war Atheist und gegen alles, was mit Religion zu tun hatte, deshalb ist es eigentlich erstaunlich, dass er sich so für ihn interessierte. Kierkegaard hatte selbst eine Zeitschrift mit dem Titel Augenblick. Das war der Anlass für Bense und er formulierte: was jetzt, in diesem Augenblick geschieht, das müssen wir festhalten, was im Moment an Ideen, an neuen Möglichkeiten der Literatur, Philosophie und Wissenschaft gemacht wird …

Augenblick finde ich einen schönen und passenden Namen, aber der Untertitel klingt für uns heute ein bisschen kurios: „AESTHETICA, PHILOSOPHICA, POLEMICA“!

Gerade der Begriff der „Polemica“ war für Bense immer sehr wichtig; später, im zweiten Jahrgang, hieß der Untertitel: „Zeitschrift für aktuelle Philosophie, Ästhetik und Polemik“. Der Verleger wollte einen weniger elitären Untertitel, um ein größeres Publikum zu erreichen. Max Bense sagte immer, man muss polemisch sein, muss angreifen, um Standpunkte herauszufiltrieren.

Der zweite Jahrgang hat nicht nur einen neuen Untertitel, sondern auch ein anderes Format.

Das wollte der Verleger wegen der Abbildungen, deswegen wurde das Format vergrößert, auch um Texte zwei- oder dreispaltig drucken zu können. Wir haben ja immer Kunstwerke abgebildet, von Michaux, Kokoschka, Gisela Andersch, Picasso, Josef Hegenbarth und so weiter. Interessanterweise hat der Verlag das nicht immer so geschätzt, zum Beispiel war er gar nicht erbaut von Giacomettis gehender Figur im ersten Heft, dabei hatte ich die Fotos extra bei Kahnweiler in Paris besorgt.

Nach dem zweiten Jahrgang war erst einmal Schluss – und wie ging es danach trotzdem weiter?

Jedenfalls hatte der Verlag kein Geld mehr, meinte, es wäre für ihn ein zu großes Verlustgeschäft. Ob es nur das Geld war oder auch die ganze Einstellung von Max Bense, weiß ich nicht. Allerdings hat er später ja noch die Bücher von Bense gedruckt und auch die Supplement-Bände. Vermittelt durch Arno Schmidt, der dort veröffentlichte, kamen wir zum Darmstädter Bläschke Verlag. Dort erschienen, nach einer Pause im Jahr 1957, die sechs Hefte des Jahrgangs 1958, und es waren weiße Hefte statt der bisher schwarzen. Das Inhaltsverzeichnis stand jetzt vorne drauf, Platz sparend und auf den ersten Blick zu lesen. Die beiden letzten Jahrgänge kamen dann im selben Erscheinungsbild mit jeweils vier Ausgaben im Verlag Der Augenblick in Siegen heraus. Dann war Schluss.

Warum?

Es war schwieriger geworden, gute Beiträge zu kriegen. Man kann ja nicht immer dieselben Autoren drucken, man will etwas Neues machen, bekommt aber eine Menge Texte zugeschickt, die man nicht veröffentlichen mag. Wenn man also so vielem hinterherrennen muss und wenn dann der Verleger noch ständig sagt, er habe kein Geld …  Wir haben daraufhin gesagt, wir machen Einzelhefte, haben fast gleichzeitig mit der letzten Zeitschrift die „edition rot“ gegründet, kleine Hefte mit jeweils einem Text von einem Autor. Wir sagten übrigens Texte, das war Max Bense wichtig. Literatur war ihm zu wenig, also Texte aller Art, ob Lyrik, ob Prosa, ob Literaturtheorie, ob philosophische Abhandlung, alles ist Text. Schon bei Andersch hieß es ja ebenfalls Texte und Zeichen, und wir haben uns mit ihm oft über Textfragen unterhalten.
Seit 1960 gibt es also die „edition rot“, da konnten die Hefte erscheinen, wenn Geld da war, und gute Texte von Ludwig Harig, Reinhard Döhl, Bense selbst, Charles Sanders Peirce, Francis Ponge, die internationale konkrete Poesie und so weiter. Insgesamt sind 62 Hefte erschienen, zusammen mit Max Bense 52 und zehn nach seinem Tod.

Nochmals zurück zum Augenblick: werden denn die weiteren Jahrgänge ebenfalls als Reprint neu veröffentlicht und gibt es schon Reaktionen auf die beiden ersten?

Ja, so ist es geplant, das Inhaltsverzeichnis des dritten Jahrgangs steht schon im Internet. Von Reaktionen und ob sich jemand dafür interessiert, habe ich noch nicht viel gehört, da müsste man Anja Ohmer, die Herausgeberin fragen.

Die Fragen stellte Irene Ferchl.

 


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