Kratzen, Krämpel und Kanonendonner

1806 war ein aufregendes Jahr, auch für Autoren und Buchhändler. Ein kleines historisches Schlaglicht und eine Wiederentdeckung

Von Michael Bienert

“Früh Canonade bei Jena darauf Schlacht bey Kötschau Deroute der Preußen Abends um 5 Uhr flogen die Cannonenkugeln durch die Dächer um halb 6 Einzug der Chasseurs. 7 Uhr Brand Plünderung schrekliche Nacht. Erhaltung unseres Hauses durch Standhaftigkeit u. Glück”, lautet eine berühmte Tagebuchnotiz aus dem Jahr 1806. Im Telegrammstil hat Goethe die Ereignisse des 14. Oktober notiert, als nahe Weimar die preußische Armee von Napoleons Truppen in die Flucht geschlagen wurde. Die Schlacht von Jena und Auerstedt ist in die Geschichte eingegangen, auch in die Kulturgeschichte, denn fünf Tage später trat der Minister Goethe in der Weimarer Hofkirche vor den Traualtar, um seiner langjährigen Lebensgefährtin Christiane Vulpius ganz offiziell das Jawort zu geben. In der Nacht nach der Schlacht hatte sie ihm durch beherztes Auftreten gegen marodierende Soldaten das Leben gerettet.

Das Jahr 1806 war für die Deutschen ein bewegtes Jahr, ein Schwellenjahr – durchaus vergleichbar mit epochalen Daten wie 1848, 1918, 1945 oder 1989. Im Dezember des Vorjahres hatte Napoleon die Truppen Russlands und Österreichs bei Austerlitz besiegt und nun freie Hand, die politische Landkarte Mitteleuropas neu zu zeichnen. Württemberg verdankt ihm seine Rangerhöhung vom Herzogtum zum Königreich vor zweihundert Jahren. Mit der Gründung des Rheinbundes im Sommer 1806 zerbrach das altehrwürdige “Heilige Römische Reich Deutscher Nation” und löste sich auf.

Hegel, der in Jena unter dem Donnern französischer Kanonen seine Phänomenologie des Geistes vollendete, schrieb tief beeindruckt von Napoleons Energie: “Den Kaiser – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Recognoscieren hinausreiten. – Es ist in der That eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier, auf einen Punct concentrirt, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht.” Ähnlich mag es vielen Berlinern ergangen sein, als Napoleon zwei Wochen später triumphal durchs Brandenburger Tor einzog und Quartier im Berliner Schloss bezog.

In diesem Getümmel erschien – im Herbst 1805, vordatiert auf 1806 – eine der wichtigsten deutschen Lyriksammlungen: der erste Band von Des Knaben Wunderhorn, herausgegeben von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Die unruhigen Zeitumstände haben seinem Erfolg keinen Abbruch getan. Andere Bücher aber sind in ihnen untergegangen, wie das Lexicon von Berlin und der umliegenden Gegend, das der Autor und Verleger Johann Christian Gädicke auf den Markt brachte, wenige Wochen vor dem Einmarsch französischer Truppen in der preußischen Hauptstadt. Das Buch verlor dadurch sofort seinen Wert als aktuelles Nachschlagewerk, außerdem lähmte die zweijährige Besatzung durch die Franzosen das Geistesleben und den Buchhandel in Preußen. Dabei hätte das Lexicon ein Klassiker der Berlin-Literatur werden können, so wie Friedrich Nicolais Beschreibung der königlichen Residenz-Städte Berlin und Potsdam, die seit 1769 in vielen Auflagen gedruckt wurde.

“Anfangs kam mir die Idee lächerlich vor: denn man erwäge nur: ein Lexicon über eine einzige Stadt! Späterhin brachte ich in Anschlag, daß in dieser Stadt gegen 200 000 Menschen leben, daß hier des Merkwürdigen und Wissenswerthen so viel vorhanden, welches in manchen hundert Meilen weiten Landstrichen nicht zu finden ist, und ich wagte mich getrost an die Ausarbeitung dieses Lexicons”, schreibt Gädicke im Vorwort. Er war – wie sein älterer Berliner Kollege Friedrich Nicolai – Buchhändler, Verleger und Autor in Personalunion. Ähnlich akribisch wie Nicolai verzeichnete er Straßen, Plätze, Behörden, Kirchen, Gewerbe, Fabriken und Regimenter, sammelte statistische Daten über Kindersterblichkeit, Bevölkerungszusammensetzung oder den Jahresverbrauch der großen Stadt an Weizen, Eiern, Kaffee, Tabak und Branntwein. “Drathzieher waren 25 im Jahr 1802 vorhanden, welche 32 Gesellen und 2 Lehrling unterhielten”, liest man über ein untergegangenes Gewerbe. “Streichen, Krämpel, Kratzen oder Schrubbel, verfertigt Charles Dutton, Krautsgasse No. 30”, lautet der Hinweis auf einen Hersteller von Wollkämmen. Das hat schon seine eigene Poesie. Ergänzend schrieb Gädicke prägnante Artikel über Themen wie den Karneval, Lustbarkeiten oder die Mode. Obwohl Berlin damals noch eine überschaubare Stadt mit Stadtmauer und Stadttoren war, registrierte er bereits typische Metropolenphänomene:
“So mancherley Stände, nach den Einkünften gerechnet, es giebt, fast so vielerlei Moden giebt es auch, und man wird mit einer und derselben Mode keine zweyhundert Menschen zusammen finden können. Was bey dem Einen ganz neue Mode ist, hat der andere schon vergessen, und es gehört ein feiner Blick und viele Kenntnisse dazu, zu bestimmen, welches das Neueste ist. Eine gewisse Uebereinstimmung in einer soliden und geschmackvollen Kleidungsart scheint jedoch herrschend zu seyn, und diejenige von neuem Schnitte, welche ins Lächerliche fällt, wird auch ausgelacht. Ehrsame Bürgersfrauen und alte Damen mögen immer in ihren altmodischen Kleidern erscheinen, ohne daß sie auffallen, und so geht es von Stufe zu Stufe weiter. Dieß ist die Ursache, warum die Kleidungen der Menschen aus der Provinz, oder überhaupt die Fremden, hier viel weniger auffallen, als in mancher anderen Stadt.”

Über den Autor dieser Beobachtungen weiß man wenig. In Berlin kam er 1763 zur Welt und starb dort mit 73 Jahren. Der Katalog der Berliner Staatsbibliothek verzeichnet knapp 100 Titel aus Gädickes Verlag, vor allem Sachbücher. Er selbst verfasste 1818 ein Freimaurer-Lexikon – ein Hinweis auf seine weltanschauliche Orientierung, der zur freigeistigen Gesinnung seiner Lexikonartikel passt. Prominentester Verlagsautor war der Arzt August Wilhelm Hufeland, der 1802 für Gädickes Verlag einen Gesundheitsratgeber schrieb: Der Schlaf und das Schlafzimmer in Beziehung auf die Gesundheit. Enthaltend eine ausführliche Belehrung für diejenigen, welche einen erquickenden und gesunden Schlaf haben und durch diesen ihr Leben zu verlängern wünschen.

Gegründet hat Gädicke seinen Verlag 1798 mit zwei Brüdern in Goethes Weimar. Zuvor arbeitete er sechs Jahre lang erfolgreich als Geschäftsführer im “Industrie-Comptoir” des Weimarer Industriellen, Verlegers und Autors Friedrich Justin Bertuch. Goethe schätzte Gädickes Buchdruckerkünste so sehr, dass er ab 1799 seine Zeitschrift Propyläen bei ihm drucken ließ. Auch Schillers Wallenstein, Maria Stuart und Die Braut von Messina hat Gädickes Druckerei im Auftrag des Tübinger Verlegers Cotta in Weimar hergestellt. Schiller kam das sehr gelegen, dadurch konnte er den Druck vor Ort überwachen.

So war die Firma Gebrüder Gädicke um 1800 auf gutem Wege, als Hausdruckerei der Klassiker und als Weimarer Filiale des Großverlegers Cotta in die Kulturgeschichte einzugehen – doch es kam bald zum Zerwürfnis, weil Gädicke einen Druckauftrag von Cotta und Goethe ablehnte. Da zu wenig Arbeit von dort eingekommen war, hatte sich Gädicke um andere Kunden bemüht, denen er nun Vorrang vor dem Großdichter einräumte. Das wurde sehr ungnädig aufgenommen: Gädicke habe Cotta “auf undankbare Weise sitzen lassen”, schrieb Schiller am 12. Mai 1802 an Goethe. Zwei Jahre später zog die Firma Gädicke aus der Weimarer Enge ins weitläufige Berlin um, in eine bedeutende Verlagsstadt mit 23 Buchdruckereien, 34 Buchhandlungen und 250 Schriftstellern, darunter 36 “Belletristen” und 6 Autorinnen – so verzeichnet in der Originalausgabe des Lexicons von Berlin.

Sie umfasst knapp siebenhundert dicht bedruckte Seiten, das schien selbst dem Verfasser ein bisschen viel. “Da mein Buch etwas stark geworden ist, und heut zu Tage viele Menschen alles compendiös haben wollen, so bin ich schon darauf bedacht, einen Auszug im Taschenformat daraus zu veranstalten. Ich mache das darum vorläufig bekannt, damit nicht irgend ein anderer Autor sich für berufen halte, diese Arbeit zu übernehmen. Wem es also um leichteres Tragen zu thun ist, als um ausführliche Belehrung, der warte nur bis dahin!”, heißt es in Gädickes Vorrede.

Es hat ein Weilchen gedauert, aber genau zweihundert Jahre später bekommt sein Buch nun die neue Chance, eine breitere Leserschaft zu finden. Mit einer um Bilder und Erläuterungen ergänzten Taschenbuchausgabe kann man sich auf einen imaginären Streifzug durch das damalige Berlin begeben – ganz ohne Geruchsbelästigung (es gab noch keine Kanalisation) und Gesundheitsrisiken, über die man erfährt: “Die Liebesseuche kommt in großen Städten häufig vor, und Berlin steht in dieser Hinsicht leider in einem bösen Rufe. Mancher Ausländer hegt die Meinung, daß man nicht in Berlin gewesen, noch viel weniger ein Berliner seyn könne, ohne mehr oder weniger von diesem Uebel gelitten zu haben. So arg ist indessen die Sache Gottlob nicht.”

Zum Weiterlesen:

Michael Bienert (Hrsg.), Berlin 1806. Das Lexicon von Johann Christian Gädicke. Berlin Story Verlag, 2006. 280 Seiten mit vielen Abbildungen, 19,80 Euro

Ausführliche Informationen und Leseproben auf der Buchhomepage: www.berlin-1806.de.

Michael Bienert ist Autor zahlreicher Bücher und berichtet für die Stuttgarter Zeitung aus Berlin. Mehr unter www.text-der-stadt.de.