Aktuelle Ausgabe: Juli/August 2006


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Gottfried Benn – Der Mensch in der Geschichte

Von Matthias Bormuth

Im Mai 1956 erschien, wenige Wochen vor Gottfried Benns Tod, als seine letzte Veröffentlichung das Gedicht „Kann keine Trauer sein“. Der Arzt und Dichter hatte die Zeilen am Jahresanfang geschrieben, im Wissen, “schwer erkrankt” zu sein, und in der Ahnung, wahrscheinlich operiert zu werden. So verwundert das Thema nicht:

„In jenem kleinen Bett, fast Kinderbett, starb die Droste
(zu sehn in ihrem Museum in Meersburg),
auf diesem Sofa Hölderlin im Turm bei einem Schreiner,
Rilke, George wohl in Schweizer Hospitalbetten,
in Weimar lagen die grossen schwarzen Augen
Nietzsches auf einem weissen Kissen
bis zum letzten Blick –”

Gewidmet war es der literarischen Monatsschrift Merkur, deren Herausgeber Benn nach den zwölf Jahren des Schweigens 1948 eingeladen hatte, wieder mit Gedichten und Essays an die Öffentlichkeit zu treten. Nun schließt sich der Kreis und lakonisch schreibt der Kranke am 6. Januar 1956 an Hans Paeschke: „Ob man aus einem Krankenhaus wieder herauskommt weiss man nie. Also erlaube ich mir, Ihnen ein letztes Gedicht zu senden.” Ein halbes Jahr später verdichtet sein letztes Schreiben an die Herausgeber, im Pathos des Beiläufigen zugleich Resignation und Wohlwollen ausdrückend, seine Dankbarkeit für die Jahre der Zusammenarbeit: „Ihnen beiden einen guten Sommer. Immer Ihr dankbarer Gottfried Benn.” Benn sollte tatsächlich nur noch dessen Anfang erleben, er starb am 7. Juli. Die märkische Erde erlaubte leichte Spatenstiche, wie Benn es sich im Gedicht gewünscht hatte.

Acht Jahre zuvor war sein Ton noch nicht elegisch gestimmt. In der literarischen Szene verfemt, vor allem weil er nach Hitlers Machtergreifung für die Intellektuellen im „Neuen Staat“ eine große Zukunft hatte anbrechen sehen, antwortete er im Juli 1948 provokativ auf Paeschkes Frage, ob der Merkur etwas von ihm veröffentlichen dürfe: “Wenn man wie ich die letzten 15 Jahre lang von den Nazis als Schwein, von den Kommunisten als Trottel, von den Demokraten als geistig Prostituierter, von den Emigranten als Renegat, von den Religiösen als pathologischer Nihilist öffentlich bezeichnet wird, ist man nicht so scharf darauf, wieder in diese Öffentlichkeit einzudringen.” Zum Glück gehörte die Übertreibung zum stilistischen Repertoire von Benn; in Wahrheit war sein Interesse, wieder gelesen zu werden groß. Gerne überließ er Paeschke als erstes sein dem Anschein nach spontanes Antwortschreiben, das er jedoch vielfach überarbeitet hatte und das in Berlin schon vor der Veröffentlichung “wie eine Bombe einschlug”, glaubt man Benns eigenen Worten. Vor diesem “Wiedereintritt in die deutsche Literatur” waren 1948 lediglich in der Schweiz die Statischen Gedichte erschienen.

Der „Berliner Brief“ schwankt polemisch zwischen Angriff und Verteidigung. Die eigene Enttäuschung über den Nationalsozialismus und die Isolation, in die sein kurzzeitiges Engagement ihn bis über 1945 hinaus getrieben hatte, fordern Benn heraus, seine Sicht der Dinge anzudeuten. Dass die Autobiografie Doppelleben Klaus Mann zugestehen wird, “klardenkender” gesehen zu haben, in welche Richtung sich der scheinbare “Wendepunkt” der Geschichte entwickeln würde, ist das eine; das andere Benns Versuch, das eingeräumte Fehlurteil grundsätzlich im Blick auf die Spannungen zwischen dem schöpferischen Individuum und der historisch verstrickten Gesellschaft zu rechtfertigen. Damit erklärt sich Benn auch die Ablehnung, die er bis 1948 im Kulturbetrieb der Nachkriegszeit erfuhr.

Um seine Sicht besser zu verstehen, samt den problematischen Seiten, die Thea Sternheim im Sommer 1933 veranlassten, ihren langjährigen Freund als “Reklamechef der neuen Mordfirma” zu bezeichnen, bietet sich als Einstieg der Essay Nach dem Nihilismus an, den er im Jahr zuvor veröffentlicht hatte. Dort heißt es: “Haben wir noch die Kraft, so fragt sich der Verfasser, dem wissenschaftlich determinierenden Weltbild gegenüber ein Ich schöpferischer Freiheit zu behaupten […]?” Mit der rhetorischen Frage leitet Benn eine kurze Geschichte der entzauberten Welt ein, die allein vom Geist des Rationalismus geprägt sei und im Fortschrittsglauben sich einbilde, alle Probleme verstehen und lösen zu können. Für sinnwidrige und rätselhaft bleibende Brüche ist in diesem Weltbild des Machbaren nach Benn kein Platz mehr. Gegen den vollendeten Nihilismus eines perfektionierten Betriebes, der keine Fragen mehr offen lässt, ruft er den Übermenschen Nietzsches auf, der allerdings nicht biologisch-rassisch aus dem Mittelmaß herausragen solle. Vielmehr betont Benn, dass der “tragisch kämpfende Mensch” notwendig sei, der zur Lebensdeutung neue Werte schöpfe. Im Anschluss an die Studie über Geniale Menschen, die der Tübinger Psychiater Ernst Kretschmer in den Weimarer Jahren mit großer Resonanz vorgelegt hatte, schreibt er: “Wir haben inzwischen die bionegativen Werte studiert, Werte, die die Rasse eher schädigen und sie gefährden, die aber zur Differenzierung des Geistes gehören, die Kunst, das Geniale, die Auflösungsmotive des Religiösen.”

Mit anderen Worten: all jene, die vom Strom des Lebens ans Ufer geschwemmt wurden oder sich dorthin retteten, sind berufen, ihre Sensibilität zu nutzen, um die Flachheit und Untiefe der puren Vitalität geistig zu verdichten. Sie sollen eine “artistische Ausnutzung des Nihilismus” ins Werk setzen. Die Vorstellungen, die sich Benn von der künstlerischen Weltanschauung als Ersatz der altersschwachen Humanität griechisch-christlichen Ursprungs macht, sind recht verschwommen. Dies zeigt sich darin, dass er trotz der Zivilisationskritik das Biologische und Technische grundsätzlich nicht ausnimmt von der emphatisch gesuchten “reinen Expression”.

Aufgrund der Vagheit seiner Ideen kann Benn nach der geschichtlichen Zäsur, als die er den 30. Januar 1933 erlebt, die Akzente seines antinihilistischen Programms entsprechend verschieben. Das „Biopositive“ erhält in den Aufsätzen zur „Züchtung“ vorerst eine prominente Stellung. Allerdings dämpft sich der Enthusiasmus, den Benn anfangs für die Idee empfand, einen “neuen menschlichen Typus aus dem unerschöpflichen Schoß der Rasse” zu schicken, merklich und bald. Nicht ohne Stilisierung des eigenen Herkommens versucht er, die geistige Tradition mit dem Rassengedanken zu verbinden; er beschwört die “Geschlossenheit der protestantischen Erbmasse” und die Renaissance der „Landpfarrhäuser“: “Vielleicht werden, nachdem die alten Pfarrhäuser der deutschen Nation Bildung, Kultur und Besitz an Genialität, also die Reiche des Geistigen erschaffen und hinterlassen haben, ihre jungen Söhne dazu bestimmt sein, dem leidenden Volk den Segen der Erde zu erneuern.” Seine kleinen Artikel unterwandern subtil den offiziellen Biologismus, indem sie auf die Tatsache hinweisen, dass viele Dichter und Denker aus protestantischen Pfarrhäusern stammten: “Der Geist und seine Erlebnisse prägen die Erbmasse tief.”

Als man 1936 seine Ausgewählten Gedichte in den führenden Parteiorganen als “widernatürliche Schweinerei” denunzierte, zog Benn die Konsequenz und trat, wie er stolz sagte, mit der militärärztlichen Tätigkeit die “aristokratische Form der Emigration” an. Nietzsches Züchtungsutopie gilt dem gesellschaftlich Isolierten nun als “flach”, während die “individuelle Ausdruckswelt” im Kontrast zur staatlichen Rassenideologie erneut Kontur gewinnt: “Nicht das Leben durch Erkenntnisreize biologisch steigern und züchterisch vollenden, sondern gegen das Leben ansetzen den formenden und formelhaften Geist.”

Der „Berliner Brief“ knüpft an die ästhetische Position der rein individuellen Ausdruckswelt an und unterstreicht ihre ethische Bedeutung, dass der Mensch die Geschichte lediglich betrachten solle, während die griechische Idee, er sei ein „zoon politikon“, ein Gesellschaftswesen, zu verwerfen sei. Die neue politische Lage ändert nichts an der grundsätzlichen Haltung des Künstlers: “Demokratie als Staatsprinzip das beste, aber zum Produktiven gewendet absurd!” Die ehemals rein biologisch verstandene Genetik dient ihm nun in der Metapher der “zerebralen Mutation” dazu, den geistigen Fortschritt als unverhoffte und erschreckende Neuerung anzudeuten. Benn ist die allgegenwärtige Rede von den abendländischen Werten zuwider. Polemisch unterscheidet er zwischen den öffentlichen “Kulturträgern” und dem einsamen, unabhängigen “Kunstträger”. Denn die individuelle “Konstitution” – hier klingt wieder Kretschmers Typenlehre des Genialen an – scheint ihm die einzige Garantie zu sein, dass schöpferische Deutungen den Irrsinn der Geschichte zumindest im ästhetischen Ausdruck bannen können.

Die Marburger Rede „Probleme der Lyrik“, die Benns losen Kontakt zu dem anderen Extremisten der Literatur, zu Ernst Jünger, festigte, geht gegen die “Versuchungen der Mitte” an: “Suche Deine Worte, zeichne Deine Morphologie, drücke Dich aus”. Von diesem Anspruch zeugt besonders auch das letzte Gedicht „Kann keine Trauer sein“, das seinen geistigen Materialismus angesichts des kommenden Todes verdichtet. Der Mensch ist in seinem Denken und Handeln genetisch geprägt:

“Wir tragen in uns Keime aller Götter,
das Gen des Todes und das Gen der Lust”
Im rätselhaften Schöpfungsakt der Worte gelingen Augenblicke der Distanz von den Dingen:
„wer trennte sie: die Worte und die Dinge,
wer mischte sie: die Qualen und die Statt
auf der sie enden”

Obwohl der Schlaf des Vergessens, den das monologische Gedicht aufruft, das Leben beschließt, bleiben die Worte. In diesem Sinne ist Gottfried Benn ein Kulturträger, scheinbar wider Willen, der nach 1948 erneut in dichterischer Suggestion Worte schöpfte und sich damit ein Publikum schuf. Sein Gedicht gibt teils namenlosem “Wallen” und teils “Überirdischem” exemplarischen Ausdruck.


Zum Weiterlesen:
Gottfried Benn, Sämtliche Gedichte / Künstlerische Prosa. 2 Bände. 2006. 541 und 479 Seiten, 29,80 Euro (einzeln je 19 Euro)

Briefwechsel mit dem Merkur. 2004. 253 Seiten, 23 Euro

Briefe an den Limes Verlag. 2006. 271 Seiten, 42 Euro

Gottfried Benn – Ernst Jünger. Briefwechsel 1949-1956. 2006. 154 Seiten, 14,80 Euro (alle Klett-Cotta Verlag, Stuttgart)

Gottfried Benn – Thea Sternheim. Briefwechsel und Aufzeichnungen. 2004. 518 Seiten, 32 Euro

Joachim Dyck, Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929-1949. 2006. 464 Seiten, 39 Euro (beide Wallstein Verlag, Göttingen)

Matthias Bormuth, Jahrgang 1963, arbeitet als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen. Publikationen zur Wissenschafts- und Kulturgeschichte, zu Karl Jaspers und Jean Améry. Zuletzt erschienen Gottfried Benn – Ein „Barde des Nationalsozialismus“? und Mimesis und der Christliche Gentleman. Erich Auerbach schreibt an Karl Löwith, beide im Verlag Ulrich Keicher, 2006.