Ausgabe: Juli/August 2006  


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»Kann man denn davon leben?« - Über Literaturpreise als notdürftige Antwort auf die Lebensfragen der Schriftsteller

Von Joachim Zelter

»Kann man denn davon leben?« Fast jeder Schriftsteller bekommt früher oder später diese Frage zu hören. »Kann man denn davon leben?« Wildfremde und allzu vertraute Gesichter stellen mir in schöner Regelmäßigkeit diese Frage. Sie fragen mit einem leichten Kopfschütteln, so als dürfte ich eigentlich gar nicht mehr am Leben sein. So als wäre meine bloße Existenz eine Verletzung des gesunden Menschenverstandes. Also antworte ich: »Wie Sie sehen, lebe ich noch.«

Das Leben eines Schriftstellers ist – bekanntermaßen – alles andere als gesichert. Und, um die Wahrheit zu sagen, ich selber stelle mir in mancher Nacht die Frage: Wie kann man von solch einem Beruf leben? Wie soll das weitergehen? Wie lange kann das noch gut gehen? Und je länger ich über derlei Fragen nachdenke, desto mehr bin selbst überrascht, all die Jahre irgendwie als Schriftsteller gelebt beziehungsweise überlebt zu haben. Manche Jahre begannen ohne jede materielle Perspektive. Ich war mir sicher, dass es mit der Schriftstellerei zu Ende gehen würde, dass ich reumütig nach jeder sich bietenden Arbeit Ausschau halten würde – das Ende dieser Jahre erlebte ich dann (zu meiner eigenen Verwunderung) unverändert im Beruf des Schriftstellers. Und auch Verwandte und Freunde teilten diese Verwunderung: »Als ich ihn näher kennen lernte«, schrieb eine Freundin, »sprach er von seinem baldigen Ende als Schriftsteller. Heute ist er es immer noch.«

Nun verdanke ich dieses wundersame Leben und Weiterleben maßgeblich dem Glück großzügiger Literaturförderung, die ich in Form von Stipendien und Preisen erhalten habe. Gleich einem Deus ex machina halfen mir diese Zuwendungen über schlimme Monate und Jahre hinweg. Ohne sie wären viele meiner Bücher nicht zu Ende geschrieben, vielleicht nicht einmal begonnen worden. Ohne sie hätte sich selbst die Frage »Kann man denn davon leben?« erübrigt. Womöglich hätte ich ohne Preise und Stipendien den Schriftstellerberuf längst aufgegeben. Wer weiß.

Wenn einem ein Preis oder ein Stipendium zugesprochen wird, empfindet man zunächst unendliche Erleichterung angesichts der existenziellen Tragweite eben jener Frage »Kann man denn davon leben?« – auch wenn man weiß, dass ein Preis oder Stipendium nur für eine begrenzte Zeit (allerhöchstens ein Jahr) das materielle Dasein eines Schriftstellers absichert, also nur aufschiebende Wirkung hat. Trotzdem überwiegt zunächst dieses Gefühl unbeschreiblicher Erleichterung, gepaart mit einem Anflug leiser Genugtuung, dass mit dem Preis oder Stipendium nicht nur der Schriftsteller für eine gewisse Zeit noch Schriftsteller ist und bleiben darf, sondern dass damit auch (nach wie vor das Wichtigste) sein Werk – über alle Tauschwertlogik des Buchmarktes hinweg – eine Würdigung, ein Verständnis, eine Legitimation erfährt. Derartige Gefühle der Erleichterung und Genugtuung weichen jedoch sehr bald selbstkritischen Fragen: Ob man den Preis oder das Stipendium tatsächlich verdient hat. Und (selbst wenn ja), ob zahlreiche andere Autoren dieselbe Auszeichnung nicht genauso oder weit mehr verdient hätten als man selbst. Dies ist die dunkle, die beschämende Seite literarischer Auszeichnungen: Indem man sie entgegennimmt, weiß man, dass unzählige andere Autoren eben diese Auszeichnung nicht bekommen haben, dass sie noch weniger wissen als man selbst, wie sie die Frage beantworten sollen: »Kann man denn davon leben?«

Bei Preisverleihungen begleitet mich das Bild schiffbrüchiger Gestalten, die gemeinsam an Treibgut sich klammernd mitten im Ozean driften. Hin und wieder kommt ein Kreuzfahrtschiff vorbei, das auf wahllose Art einige wenige von ihnen (für begrenzte Zeit) an Bord nimmt. Die anderen bleiben zurück.

Mancher Beobachter stellt sich (zu Recht) die Frage, ob die Vielzahl von Preisen und Auszeichnungen, die ein Autor bekommt, Ausdruck und Ergebnis einzigartiger literarischer Qualität ist oder ob sie einer kumulativen Logik folgt, in der ein Preis den nächsten nach sich zieht, die Preise sich wechselseitig befruchten, beflügeln und legitimieren, gemäß dem positivistischen Zirkel: Der Preisgekrönte ist qua Preis, den er verliehen bekommt, beglaubigt und ausgewiesen, diesen auch mit Recht entgegenzunehmen, sonst würde er ihn ja nicht bekommen. Derartige Zirkelschlüsse gelten besonders dann, wenn ein Autor gleich mit mehreren Preisen hintereinander bedacht wird. Preis D ist richtig, weil Preis C, ist richtig, weil Preis B, ist richtig, weil Preis A ... Die Richtigkeit einer Auszeichnung erweist sich durch frühere Auszeichnungen, die wiederum künftige Auszeichnungen bedingen, und so weiter und so fort ... Eine solche Haltung variiert den autoritären Grundzug des zeitgenössischen Literaturbetriebs, welcher mit Vorliebe Wörtern mit dem Buchstaben B huldigt: das Beeidete, das Beglaubigte, das Bewahrheitete, das Bewährte, das Bekannte, das Bedeutende, das Bedeutete ...

Preise und Auszeichnungen sind überwiegend öffentliche Einrichtungen, manifestieren sich in Form von Presseerklärungen, Zeremonien, Laudationes etc. Der Autor wird damit zu einer öffentlichen Figur, und dies in mehrfacher Hinsicht: Sein Name und sein Werk erfahren mit der Preisverleihung eine Würdigung. Ein breiteres Publikum wird auf ihn aufmerksam. Vielleicht sogar ein renommierter Verlag, der bereit ist, die künftigen Werke des prämierten Autors zu verlegen. Andererseits rückt mit der Auszeichnung wiederum die materielle Daseinsfrage des Schriftstellers in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die Frage »Wovon lebt er eigentlich?« beantwortet sich nun in aller Öffentlichkeit, in Form der Bekanntgabe: Er lebt von einem Preis. Jedermann kann hören und lesen, wie viel Geld der Preis wert ist, was der Autor damit aller Voraussicht nach im nächsten Jahr verdienen wird. Der Autor ist damit eine in vielerlei Hinsicht öffentliche und transparente Figur, die sich (öffentlich wie privat) fragen lassen muss: Warum gerade er? Hat er den Preis überhaupt verdient? Oder er bekommt Ratschläge von wildfremden Menschen zu hören: mit dem Preisgeld sorgsam umzugehen, es nicht leichtfertig auszugeben, bitte keine Weltreise oder ähnliches damit zu unternehmen. Andere Berufsgruppen würde man kaum mit derartigen Ratschlägen belehren. Oder ihnen die Frage stellen: »Wovon leben Sie eigentlich?« Die Not des Schriftstellers ist nicht nur die Not des Geldes, sondern auch eine kulturelle Gegebenheit durch die Zuweisung einer bestimmten Rolle. Es ist nicht zuletzt die Rolle verschämter Dankbarkeit darüber, dass man überhaupt noch lebt.

Vielleicht ist es diese Rollenverteilung, die Thomas Bernhard über das Thema Literaturpreise schreiben ließ: »Nur in der äußersten Not und in Lebens- und Existenzbedrohung und nur bis vierzig hat man ein Recht, einen mit einem Geldbetrag verbundenen oder überhaupt einen Preis oder eine Auszeichnung anzunehmen.«

Und trotzdem: Wenn es keine Preise und Auszeichnungen gäbe, dann würde ich sie schnellstmöglich erfinden. Sollte ich je über große Mengen von Geld verfügen, dann würde ich selber Preise in die Welt setzen. An erster Stelle einen Preis mit dem Namen meines Lieblingsautors: Oscar Wilde. Ein solcher Oscar-Wilde-Preis wäre für alle verwegenen und unbekannten und nicht bedachten Autoren bestimmt. Er wäre für diejenigen, die (nicht nur materiell) am meisten der Unterstützung und Ermutigung bedürfen. Er würde besonders an jene Autoren denken, die auf der falschen Seite stehen: literarisch, gesellschaftlich und biografisch, die das falsche Alter haben oder den falschen Pass oder das falsche Schicksal oder den falschen Verlag. Er wäre nicht für die aufstrebenden, sondern für die untergehenden Autoren. Er wäre ein eminenter (mit einem sehr hohen Preisgeld ausgestatteter) Literaturpreis, der gerade die Autoren bedenkt, die einen solchen Preis am dringendsten benötigen, nicht nur wegen des Geldes, sondern auch um des Glaubens willen: des Glaubens der Freunde und der Familie, des Glaubens der Wenigen – und nicht zuletzt des eigenen erschütterten Glaubens an sich selbst. Ein solcher Preis würde nicht dem Offensichtlichen huldigen, sondern das Verborgene erkennen. Er würde den Kritikern eines Autors genau dort Einhalt gebieten, wo sie sich mit ihren Einwänden am meisten im Recht glauben. Genau dort! Er würde punktgenau den Moment herbeiführen, an dem man beginnt, die Dinge (im Zweifelsfall) nicht mehr gegen den Autor auszulegen, sondern zu seinen Gunsten. Er würde nicht zuletzt versuchen, den Autor in die Lage zu versetzen, von seinem Beruf irgendwann in aller Bescheidenheit und Natürlichkeit und Regelmäßigkeit leben zu können – auch ohne Auszeichnungen und Preise.


Joachim Zelter, 1962 in Freiburg geboren, ist seit 1997 freier Schriftsteller. Er erhielt zahlreiche Förderungen und Auszeichnungen: den Thaddäus-Troll-Preis, die Fördergabe der Internationalen Bodenseekonferenz (2000), das Bahnwärter-Stipendium der Stadt Esslingen a. N., das Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg (2003), Arbeitsstipendien des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg sowie das Jahresstipendium des Landes Baden-Württemberg (2005). In diesem Frühjahr erschien sein neuester Roman Schule der Arbeitslosen bei Klöpfer & Meyer in Tübingen.

 


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