Ausgabe: September/Oktober 2006  


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Glanz und Trost des Alltäglichen - Ralf Rothmann und seine Erzählkunst voller robuster Würde

Von Michael Borrasch

“Schreiben, in deutscher Sprache dichten, das ist nicht erst seit der unsinnigen Rechtschreibreform ein bisschen wie Tangotanzen in Gummistiefeln – es braucht eine gewisse Leichtfüßigkeit und Gelenkigkeit, damit so etwas wie Anmut und Grazie entsteht. Und diese Mühe lässt einen manchmal verzweifeln an seinem Material, man fragt sich: Wozu der ganze Kram […]. Doch ich habe am eigenen Leib, in eigener Seele erfahren, dass Literatur das Leben reicher macht, dass sie ihm sogar eine andere, eine beglückendere Richtung geben kann […]. Ein Leben ohne Poesie wäre doch nur ein halbes – und das ist immer schwerer zu tragen als das ganze.”
(Ralf Rothmann in seiner Dankesrede zur Verleihung des Heinrich-Böll-Preises im Dezember 2005)

Nun hat seine Kunst auch die Jury des Züricher Max-Frisch-Preises überzeugt. Anfang Oktober vergibt sie ihre Auszeichnung “an den deutschen Autor Ralf Rothmann, den scharfsichtigen Erzähler, der mit Güte, Grimm und Gerechtigkeit den geringsten Dingen Gewicht und dem Leben unscheinbarer Menschen Fülle und Würde verleiht”. Längst hat sich der 53-Jährige zu einem der wichtigsten zeitgenössischen deutschen Autoren entwickelt. Noch vor der Züricher Ehrung erscheinen bei Suhrkamp unter dem Titel Rehe am Meer neue Erzählungen. Eine große Lesereise steht ebenfalls an – es könnte ein Rothmann-Herbst werden.
In den zwanzig Jahren seines Autorenschaffens hat sich Ralf Rothmann in ruhiger Konsequenz an sein Publikum herangeschrieben. Seit 1984 sind sechs Romane, zwei Langerzählungen, ein Schauspiel, zwei Gedichtbände sowie mit dem neuen Buch zwei Erzählsammlungen erschienen.

Verhandelt werden bei diesem “poetischen Realisten” immer wieder die großen, ewigen Themen: Kindheit und Jugend, Einsamkeit und Gemeinschaft, Aufbegehren und Abschiednehmen, Alter und Tod, das Suchen nach einem Platz im Dickicht der Jahre, im Gegenüber.
Maloche und Freiheit, Gewalt und Liebe, Frust und Sehnsucht, kalter Sex und flimmernde Zärtlichkeit – Rothmanns Prosa packt durch ihre realitätsraue Sättigung, sucht aber gleichzeitig Dimensionen, die über das Profan-Alltägliche hinausweisen. Die besondere Kunst dabei: dank eines sorgfältig gearbeiteten Stils entstehen Leseerlebnisse von robuster Eleganz.

Das Ringen um Wahrhaftigkeit und Erlösung zieht sich dabei durch manchen Text, der verzweifelt leidende Schmerzensmann ist eine häufig eingesetzte Figur. Die Haltung des Autors gibt eine klare Richtung vor: ”Im Grunde ist Einsamkeit kein Thema für mich, jedenfalls nicht bewusst. Ich empfinde sie auch nicht als negativ. Sie ist unser eigentliches Element und birgt darum alle Chancen.”

Geboren 1953 in Schleswig, fühlte sich Rothmann später “zu jung für die 68er, aber zu alt für den Punk”. Als sein Vater eine Stelle als Bergarbeiter in Oberhausen annimmt, gerät der Sohn in eine derbe, traurige Welt aus Arbeit und Alkohol. Auf die Volksschule und einige Monate Handelsschule folgen eine Maurerlehre, dann Anstellungen als Krankenpfleger, Taxifahrer, Koch. Und obwohl ihn sein Werdegang für die “Literatur der Arbeitswelt” prädestiniert hätte, wollte Rothmann genau diesen Weg nicht gehen. 1976 zog es ihn wie so viele Aussteiger nach Berlin. 1984 debütierte er als Lyriker: Kratzer erschien zunächst in einem Kleinverlag. Nachdem Rothmann durch Vermittlung seines Förderers Christoph Meckel zum Suhrkamp-Autor geworden war, wurde der Band nach der ersten Erzählung Messers Schneide in erweiterter Form neu veröffentlicht.

In etlichen Kratzer-Gedichten stellte Rothmann seine verzagend-hoffnungslosen Lebensanwärter vor. Schuften, ohne die Sonne zu sehen, und unter dem Titel “Geburtstag” die Zeilen: “Jeden Tag bricht eine Welt zusammen, und ich liege im Sterben von Anfang an.” Dazu “Bergschäden, Familienbild”, und die Ur-Konstellation aus erniedrigender, zerstörerischer Maloche und unerreichbarer Privatidylle scheint komplett: “Unter Tage schaufelt uns ein Mann / ein schön möbliertes Grab / und Töpfe voller Eintopf. / Im Dunkeln verblüht sein blauer Blick / und Flüche schwärzen seinen Stern.”

Es dauert selten lang, bis den Leser der Schweißgeruch elementarer Erfahrungen anweht. Rückblickend bieten die Kratzer-Gedichte einen Eindruck des Kommenden: trotz aller Ernüchterung, trotz aller Wunden aus dem großen Kampf um ein bisschen Glanz im Leben bleibt die Hoffnung auf Erlösung der Impuls aller Anstrengung. So berichten Rothmanns Geschichten stets auch von einem großen Aufgehobensein. “Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie.” Das Zitat aus dem letzten Roman Junges Licht  bündelt diese tröstliche Haltung aufs Schönste.

Rothmann ist kein resignierter Vertreter einer Welt im Niedergang, vielmehr ein äußerst warmherziger, Anteil nehmender Erzähler mit großem Sinn für Humor, und damit meistert er den Spagat: er erzählt unterhaltsam vom tristen Leben der “grauen Masse”. Trotz vulgärer Szenen an der Grenze zur Prolligkeit schafft es Rothmann stets, die nötige Distanz zu wahren. Als Leser fühlt man sich geführt von einem, der die geschilderten Milieus der “kleinen Leute” kennt, diese durchleuchtet, ohne sie zu verraten. “Ich hatte nie ein Programm, und meine Absicht war stets, andere mit meiner Arbeit glücklich zu machen. Daran hat sich nichts geändert”, erklärte Rothmann noch jüngst.

Auch wenn man ihn nicht darauf reduzieren sollte: Durchgesetzt hat sich Rothmann seit den frühen 90er Jahren dank einiger Romane, in denen er als “Chronist des Ruhrpotts” mehr als nur die eigene Herkunft bewahrt hat. Stier, Wäldernacht, Milch und Kohle oder Junges Licht rekonstruieren überzeugend die Enge kleinbürgerlicher Familien im Gummibaum-Deutschland der 60er und 70er Jahre. Späte Nachkriegsdumpfheit reibt sich am Rumoren einer neuen Zeit, doch die rohe Kraft aufmüpfiger Halbstarker weist selten über den Tellerrand von Essen oder Duisburg hinaus. Leser in Rothmanns Alter mögen erkennen, welche Umwege auch sie beim Trainieren von Stolz und Würde zurückgelegt haben. Jüngere lernen mit den Büchern dieses aussöhnenden Beobachters, dessen punktgenaue Schnoddrigkeit kaum Sentimentalität zulässt, wie öde muffig früher pubertiert wurde. Indem Ralf Rothmann im Innern des grauen Alltags seiner so verbissen malochenden Helden stochert, kann er ihnen mit feiner Sprache Würde zurückgeben. Gerade seine distanzierte Haltung jenseits aller Pottfolklore sorgt dabei für Glaubwürdigkeit.

Für den Autor ist der Fall klar: “Ich weiß nicht, was ‚Literatur der Arbeitswelt’ ist. Ich kenne nur Literatur. Und die verdient ihren Namen nur, wenn sie unseren Sinn für die Leiden anderer wach hält, wenn sie uns zum Mitleiden bewegt.”

Neben dem Bewahren einer „abgewickelten“ Welt stehen im Zentrum seiner Romane sensibel beobachtete pubertierende Jugendliche: “Man kann alles mögliche mit Liebe entschuldigen. Doch wer seine Jugend verrät, sagte er, wer sie als Spielerei oder grün abtut, der ist bereits verdorrt. Denn sie hat recht, nur sie!”, heißt es im Roman Stier. Dass Rothmanns Hauptfiguren häufig schüchterne Jünglinge sind, die zwar die tollsten Mädels abbekommen, ohne dass ihnen die Versprechungen der Liebe ganz geheuer wären, fällt auf. Wer von Kindertagen an die auseinander driftende Ehe der Eltern vor Augen hat, wie etwa der 15-jährige Simon in Milch und Kohle, muss solche Skepsis wohl entwickeln.

Bei der Suche nach dem Personal seiner Geschichten pendelt Rothmann zwischen überwundener Herkunft und gewonnenem Dasein hin und her. Neben dem Arbeiter bewegt er sich auch im Intellektuellenmilieu, gehören seine Sympathien den immerfort für ihre Sache ackernden unentdeckten Künstlern. Ebenso ist er ein Anwalt der Liebenden und der kauzigen Alten, der Gestrandeten wie der Arbeiter mit frecher Schnauze. Betrachtet man die Orte seiner Werke, fiel neben dem Ruhrgebiet bisher vor allem Berlin auf. Die Erzählung Messers Schneide spielt dort, ebenso der Künstlerroman Flieh, mein Freund, das Schauspiel Berlin Blues und der Roman Hitze.

In den neuen Erzählungen schafft sich Ralf Rothmann nun weitere Schauplätze. Vom Osten Berlins ausgehend gelangt er nach Schleswig-Holstein, an die Mecklenburgische Seenplatte, den Niederrhein und nach Polen. Einsamkeit, Abschied, Tod – auch in Rehe am Meer begegnet man den Menschen dort, wo Hoffnungen bröckeln und Sand im Lebensgetriebe knirscht.

Ein kleiner Bauunternehmer aus dem Osten kapituliert vor dem Termindruck, eine 12-Jährige sieht sich den Anzüglichkeiten des Bekannten ihres Vaters ausgesetzt, eine Frau betrauert ihren verstorbenen Mann, während im Zimmer nebenan die Handwerker rumoren, eine allein erziehende Mutter vermietet ihre Wohnung und kampiert mit ihrem nörgelnden Sohn im Garten.

Dank seiner beeindruckenden Technik von Verknappung und Andeutung kreiert Rothmann Räume voll stiller Dramatik und Tiefe. Dem Leser wird Geduld abverlangt, erst im Nachhall offenbaren die scheinbar unspektakulären Alltagsszenen ihre ganze Wucht. Und noch mehr als früher lässt Rothmann in beinahe jeder Erzählung Tiere auftreten – als geheimnisvolle Beobachter, aktive Teilnehmer, Begleiter am Rande. “Tiere sind Hieroglyphen, wir können sie nie ganz verstehen. Aber alles, was sie machen, hat Sinn. Sie kennen keinen Unsinn, und darum sind sie uns weit überlegen.”

Gut nachvollziehen lässt sich diese Überzeugung Rothmanns in „Der ganze Weg” zum Abschluss des Bandes. Der von Kollegen ständig gedemütigte Tierpfleger des Zirkus Nelly hat eines Tages die Schnauze voll. Als er merkt, “dass einem die Freiheit niemand geben kann. Dann wärs schon keine mehr”, macht er sich auf und davon, “die Lamas immer schön hinter mir her. Ich meine, ich hab sie nicht gerufen, aber die sind ja treu. […] Ich wusste nicht, wie’s weitergehen sollte, klar, aber das war auch egal. Die Tiere standen still in meiner Nähe, stolze Umrisse vor der blauen Nacht, und ich konnte alles in ihren Augen sehen, Alter, den ganzen Weg.”

Zum Weiterlesen:

Messers Schneide. Erzählung. 1986. Broschiert 12,80 Euro oder Tb 5 Euro
Kratzer und andere Gedichte. 1987. 3,99 Euro
Der Windfisch. Erzählung. 1988. 4,95 Euro
Stier. Roman. 1991. 7,45 Euro
Wäldernacht. Roman, 1994. 9,45 Euro
Berlin Blues. Schauspiel. 1997. 10,80 Euro
Flieh, mein Freund! Roman. 1998. Gebunden 9,95 Euro oder Tb 8 Euro
Milch und Kohle. Roman. 2000. Gebunden 13,80 Euro oder Tb 9 Euro
Gebet in Ruinen. Gedichte. 2000. 14,80 Euro
Ein Winter unter Hirschen. Erzählungen. 2001. Gebunden 19,80 Euro oder Tb 8 Euro
Hitze. Roman. 2003. Gebunden 19,90 Euro oder Tb 9 Euro
Junges Licht. Roman. 2004. Gebunden 19,80 Euro oder Tb 8 Euro
Rehe am Meer. Erzählungen. 2006. 19,80 Euro
Alles im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.

Michael Borrasch, geboren 1963 in Bremen, lebt als Kulturarbeiter in Ravensburg. Hier war er u.a. 1994 Mitbegründer der “Freunde toller Dichter”, deren Veranstaltungen er bis heute organisiert.


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