Ausgabe: November/Dezember 2006  


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Ein Porträt des polnischen Übersetzers und Vermittlers Karl Dedecius

"Ich war es nicht gewohnt, in einer einsprachigen Welt zu leben, ich hatte Verlangen nach der Sprachenvielfalt meiner Kindheit" - Ein Porträt des polnischen Übersetzers und Vermittlers Karl Dedecius

Von Lore Ditzen

Was haben Miroslav Klose, Lukas Podolski, Karl Dedecius und zum Beispiel Anatol Gotfryd gemeinsam? Die Herkunft aus Polen, auf die sich in diesem Jahr besondere Aufmerksamkeit richtete: auf die polnischgebürtigen besten Torschützen der deutschen WM-Nationalmannschaft, auf den großen deutschen Übersetzer anlässlich seines 80. Geburtstages, auf den angesehenen Berliner Zahnarzt, der in seinen jetzt veröffentlichten Erinnerungen Der Himmel in den Pfützen berichtet, wie er als jüdisches Kind in Polen der Vernichtung entkam.
 
Geburtsland Polen, Erfolgsland Deutschland: dazwischen wechselnde Grenzen und Staatszugehörigkeiten, wechselnde Identitäten, Verluste und Erfolge. "Unsre Polen” nennt man stolz die jungen Fußballer; der polnische Zahnarzt ist längst, von respektvoller Zuneigung umgeben, angesehenes und förderndes Mitglied der Berliner Gesellschaft und zugleich in Wesensart und Sprachklang Botschafter der Kultur seines Landes. Sein bewegender Überlebensbericht steht – wie manche ähnliche – für ein exemplarisches Schicksal in schlimmer Zeit. Im Singular empfehlen sich Polen, fast jeder kennt einen, den er dankbar loben kann: für professionelle Geschicklichkeit, Fleiß und Zuverlässigkeit, für Liebenswürdigkeit, menschliche Wärme und gute Umgangsformen: ”mein Pole”, hört man voller Dankbarkeit sagen, aber das Land hinter dem Menschen bleibt, abgesehen von Kulturferien und fortwirkenden Irritationen durch die Geschichte, für viele noch immer weitgehend terra incognita, ein Land mit fremder Sprache.

Dass es ein reiches, verwandtes und – nicht nur im neuerdings betonten und erwünschten merkantilen Sinn – europäisches Land ist, hat keiner uns so nahe zu bringen vermocht wie Karl Dedecius. Davon zeugen nicht nur seine zahlreichen Übersetzungen, sondern auch Stiftungen und Institutionen, Verlagsreihen und Preise, die von ihm angeregt wurden und zum Teil seinen Namen tragen, sein umfangreiches Archiv mit Hunderten von Dokumenten und Korrespondenzen. In der Viadrina (der Universität in Frankfurt / Oder) steht es der Forschung zur Verfügung und wird die Weiterführung seiner Arbeit ermöglichen. Er vereint beide Länder in der eigenen Person: von seinem "Januskopf”, den er dem doppelten Erbe deutscher Herkunft und polnischer Heimat verdanke, spricht er in seinen Erinnerungen. Den Reichtum, den er dadurch gewann, schenkte er an beide Länder zurück – Exempel der Ermutigung in unserer von Nationalitäts- und Identitätsproblemen, von Misstrauen und Verlustängsten bedrängten Gegenwart. Sein Buch stiftet Vertrauen. Es bringt uns nicht nur das Nachbarland näher, sondern macht auch die Geschichte des eigenen Landes – wie die Europas – größer und interessanter.

"Du übersetzt / mein Gedächtnis / in dein Gedächtnis”, schrieb Tadeusz Rózewicz, einer der ersten polnischen Dichter, den Karl Dedecius für Deutschland entdeckte, dankbar an den zum Freund gewordenen Übersetzer, mit dem Schluss: ”dann tragen meine Gedanken / Früchte / in deiner Sprache”.

Dedecius ist in beiden Sprachen aufgewachsen. Als ein – später so genannter – "Volksdeutscher” wurde er 1921 in Lodz geboren, jener im Textilgoldrausch ab 1821 groß gewordenen Fabrikstadt, die nicht nur die polnische Landbevölkerung, sondern auch die Abkömmlinge der schon früher aus dem Westen zugewanderten deutschen Kolonisten anzog. Die Familiengeschichte von Dedecius ist paradigmatisch mitteleuropäische Geschichte, deren auf sozialen Notlagen und wechselnden Herrschaften beruhende Grenzverschiebungen schwer nachzuvollziehen sind. Die Vorfahren waren aus Schwaben und Hessen und Böhmen gekommen, als Religionsflüchtlinge oder als Bauern und Handwerker; sie waren in Schlesien Österreicher, dann Preußen geworden und blieben Deutsche im polnischen Staat und, wie Karl Dedecius‘ Vater, in der Stadt Lodz, die "in den letzten Jahrzehnten dreimal die Staatsangehörigkeit gewechselt hatte”. Der Vater wurde städtischer Beamter; er schickte den Sohn auf das polnische Gymnasium der Stadt, eine Schule mit humanistisch geprägtem hohem Anspruch, die Sprachen und Kenntnisse der klassischen Antike vermittelte.

Aus diesem Bildungsfundus haben viele polnische Dichter geschöpft, wenn sie in ihren Texten menschliche Erfahrungen im Würgegiff der Geschichte, zwischen aufgezwungenem Schicksal und individueller Haltung, ausleuchteten: Czeslaw Milosz zum Beispiel, Zbigniew Herbert, Adam Zagajewski, um nur einige von denen zu nennen, die Dedecius durch seine Übersetzungen bekannt gemacht hat. Und dieses Spektrum eines immer gewahrten europäischen Erfahrungszusammenhanges mit seinem Reichtum an Metaphern und Allusionen bewahrte wohl die polnischen Schriftsteller (bei allem durch die wiederholten Teilungen des Landes behaupteten Nationalbewusstsein) vor Pathos, Sentimentalität und Chauvinismus. Es erlaubte ihnen auch jenen freizügigen Umgang mit Sprache, der sich in spielerischer Phantasie wie in doppelbödiger Ironie oder in einer – von sicherer Gewissheit durchdrungenen – äußersten Lakonie auszudrücken vermochte.

"Verglichen mit der Selbstverständlichkeit dieser Gedichte kam mir die Sprache unserer pathetischen Bekenntnisse eigentümlich weltfremd vor”, schrieb der heutige Leiter des Hanser-Verlages, Michael Krüger, als er als Student zum ersten Mal der Dichtung von Herbert und Rózewicz in Übersetzungen von Dedecius begegnete. Das war 1966, und Walter Höllerer notierte im gleichen Sinn "Ausnahmestellung und Überlegenheit”.

Der "Latinität” Polens, das gegen seinen Willen aus historischem und politischem Zwang dem Osten zugeschrieben worden sei und doch ausgewiesenermaßen im Herzen Europas liege, hat Karl Dedecius in dem Lebenslauf aus Büchern und Blättern ein eigenes überzeugendes Kapitel gewidmet. Dass er ihr gerecht zu werden und damit Polen nach Europa zurückzuholen vermochte, verdankt er seiner Schule. Sie hatte neben den polnischen auch deutsche Lehrer; die Schülerschaft war polnisch, russisch, deutsch, jüdisch, interkonfessionell. Es gab die Begegnung mit den Großen der polnischen Literatur, vor allem mit dem polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz. Die ethischen Fragen, die sich in seiner Dichtung stellten ("Die Pflicht zur Treue, das Recht auf Untreue”), wurden für den Schüler Dedecius "Ausgangspunkte für Entscheidungen”.

Bis 1939 war diese Schule eine multinationale Gemeinschaft. Dann wurde die Einheit der Klasse zerschlagen. Wir kennen das Ende dieser Geschichte, die Verbrechen und Verluste und die Jahrzehnte dauernden Zwänge, die es über Polen, auch die Verluste, die es für Deutschland brachte. Aus dem "volksdeutschen” Abiturienten Dedecius wurde beim deutsch-russischen Überfall auf Polen durch Einberufung zum Militär ein deutscher Soldat, später in Stalingrad ein russischer Kriegsgefangener auf Jahre. Sein Vater, der geachtete deutsche Bürger und Beamte des polnischen Lodz, wurde von den deutschen Besatzern amtsenthoben. Bei Kriegsende kam er, man weiß nicht wie, ums Leben, "er zahlte”, schreibt der Sohn, ”den Preis der Treue”. Karl Dedecius lernte im Gefangenenlager russisch, machte sich mit russischer Literatur vertraut und später mit ersten Übersetzungen auch verdient. Das war nach der Entlassung, 1949, als er die Freundin seiner Jugendjahre, einen soliden bürgerlichen Berufsweg und eine gute Position fand.

Sprache blieb sein Zuhause: Tadeusz Rózewicz war der erste der polnischen Autoren, mit dem er – ergriffen von dessen lakonisch mit historischer Wahrheit gesättigten Texten – Kontakt aufnahm und den er in Deutschland bekannt machen konnte. Das war sehr schwierig: sein erster Versuch bei Peter Suhrkamp und in Gegenwart von dessen Assistenten Siegfried Unseld endete, etwa 1953, ergebnislos. ”Nach diesem Krieg”, zitiert Dedecius den Verleger, dessen Haus später eine der wichtigsten Adressen polnischer Autoren werden sollte, "wird sich in Deutschland niemand mehr für slawische Literatur interessieren.”

"Abends nach der Arbeit widmete ich mich dem Lesen. Ich war es nicht gewohnt, in einer einsprachigen Welt zu leben, ich hatte Verlangen nach der Sprachenvielfalt meiner Kindheit, las und übersetzte Gedichte.” Die Sehnsucht wurde zur Passion; was als Hobby begann, wurde neben dem erfolgreich verwalteten Hauptberuf bei einer großen Versicherung zur "raison d’être" der Existenz. Aus Auswahl-Bändchen (zum Beispiel in der Edition Suhrkamp) einzelner Schriftsteller wurden repräsentative Bücher, erwuchs die von Dedecius herausgegebene, 50-bändige "Polnische Bibliothek”. Die Stadt Darmstadt ermöglichte ihm in einer Jugendstilvilla die Etablierung eines von Stiftungen getragenen Polen-Instituts, dessen Kuratoriumsvorsitzende Marion Gräfin Dönhoff war. Im Schweizer Ammann Verlag erschien 1996 in vier dicken Bänden ein Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Dedecius sei, heißt es in einer biografischen Übersicht, Übersetzer und Herausgeber von "Hunderten von Büchern”.

Dank seiner Übertragungen fanden viele Autoren auch den Weg in andere Länder. In Krakau wurde er anlässlich des Erscheinens seiner Erinnerungen zu seinem 80. Geburtstag öffentlich geehrt; in Lodz, seiner Heimatstadt, trägt seine einstige Schule seinen Namen und das Historische Museum der Stadt hat eine Dauerausstellung für ihn eingerichtet. Viele andere Auszeichnungen – darunter der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels oder der Orden des Deutschen Adlers in Polen – wurden ihm zuteil. Er war, ist es noch immer, nicht nur ein verdienter Übersetzer, sondern zugleich ein beredter Anwalt und Prophet der Kulturen, ihrer individuellen und ihrer gemeinsamen menschlichen Erfahrungen und Interdependenzen. Das sind große Worte; man kommt in der gebotenen Kürze um verbale Akkumulationen dieser Art nicht herum. Man würde dem Autor des Erinnerungsbandes Ein Europäer aus Lodz gern die Hand drücken – dankbar für seinen Enthusiasmus, seine Überzeugungsarbeit im Dienst einer Poesie, die Adam Mickiewicz "die Regierung der Seelen" nannte, und für die "Bereicherung des europäischen Gesamtspektrums”, wie Dedecius selbst den unerhörten Reichtum polnischer Dichtung bezeichnete.

Das Erinnerungsbuch beglaubigt die Grundlagen seiner Überzeugungen. Es enthält in der persönlichen Geschichte, in der zuweilen noch die spontane Wiedergabe von Erlebtem und Erfahrenem kenntlich wird, die sich der protokollarischen Aufzeichnung auf Tonband verdankt, die Glaubwürdigkeit auch innerlich erlebter Wahrheit. Zuweilen bleibt der Tonfall der mündlichen Erzählung in dem mehrfach aufs Wesentliche reduzierten Bericht (dank der geduldigen Mitarbeit der Slawistin und Publizistin Doris Liebermann) gewahrt. Karl Dedecius ist erkennbar stolz auf das, was er zu leisten vermochte, aber er ist zugleich auch von einer Dankbarkeit und Demut erfüllt, die nur die Gewissheit einer höher legitimierten Pflicht zu gewähren vermag.

Sein Lebensbericht enthält neben den Stationen des eigenen Werdeganges Würdigungen und Epitaphe polnischer Schriftsteller, auch jener jungen, die ermordet wurden oder im Krieg das Leben verloren: ergreifende Zeugnisse. Dedecius ist ein Mann voller Gefühl und Empathie, die sprachlich auf Nuancen reagiert und Harmonie im Klangbild erstrebt. Das hat ihm neben Anerkennung und Freundschaft auch Auseinandersetzungen mit Autoren eingetragen. Zbigniew Herbert zum Beispiel wollte seine zu schmuckloser Härte in der Wortwahl geschmiedeten Texte nicht um besser klingender Stimmigkeit willen geschönt wissen. Nicht in diesem Buch, aber an anderer Stelle kann man auch diese Auseinandersetzungen nachlesen, von denen wohl kaum ein noch so redlicher Übersetzer in der Bemühung um "le mot juste” verschont bleibt.

Viele Begriffe wären tauglich, um Antrieb und Wirkung dieses Lebens zu umschreiben: Fleiß, Beharrlichkeit, Dankbarkeit, Treue. Dedecius hat ein Leitwort bei Robert Musil gefunden, ein seltsames Wort: die "Stete" – es soll "die größere Glückskraft" bedeuten – und Dedecius hat sich ihm anvertraut. Es sieht ihm ähnlich.

Zum Weiterlesen:

Anatol Gotfryd, Der Himmel in den Pfützen. Ein Leben zwischen Galizien und dem Kurfürstendamm. Wolf Jobst Siedler Verlag, Berlin 2006. 280 Seiten, 22 Euro

Karl Dedecius, Ein Europäer aus Lodz. Erinnerungen. 2006. 381 Seiten, 22,80 Euro

Ders., Lebenslauf aus Büchern und Blättern. 1990. 318 Seiten, 15,90 Euro. Beide Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main


Lore Ditzen, geboren im oberschlesischen Beuthen (heute Bytom in Polen) war Redakteurin im Kulturprogramm des SFB (mit Sendungen und Filmen u.a. über Zbigniew Herbert und den bedeutenden polnischen Exilverlag in Paris, Kultura) sowie Mitarbeiterin in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften. Soeben erschien in der Friedenauer Presse mit einem Nachwort von ihr: Josef Czapski, Proust. Vorträge im Lager Grjasowez.


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