Schauplatz Ohr: Die Lust am körperlosen Text

Von Susanne Fritz

Die Autorin ist eine eher schwerfällige Leserin, sie kann weder schnell noch große Mengen lesen, so praktisch das zweifellos wäre. Immer wieder verliert sie sich im Text, besonders, wenn er sie bewegt. Wenn ein Text, nach anfänglicher Kälte und Gleichgültigkeit, sie unversehens verführt in eine Zone ersehnten und stets überraschenden Lesevergnügens und sie gar nicht weiter vorankommen, ihn nicht hinter sich bringen will. Oder, wie Roland Barthes die schwerfällige, am Text klebende, ihn mit Akribie und Besessenheit zerlegende Lektüre als die reine Wollust preist: „Nichts verschlingen. Nichts verschlucken, sondern weiden, sorgsam abgrasen …“.

Dann werden die Augen müde, der Wille, sich mit einer fremden Welt zu beschäftigen, erschlafft. Die schwerfällige Leserin schweift in Gedanken ab, gähnt, schaut aus dem Zugfenster, die Ebene liegt im Nebel, Baumreihen und Häuser sind nur Schemen. Sie fühlt das Buch auf dem Schoß, in den Händen. Der Text ist noch da, doch er schweigt. Sein Schweigen zieht erneut ihre Aufmerksamkeit auf sich. Barthes: „Die Lust am Text, das ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich." Wieder liest sie. Und da bemerkt sie, dass sie schwitzt. Ihre Pulsfrequenz steigt, ihr Atem folgt einer wachsenden Spannung. Sie ist wieder im Text, und der Text ist in ihr. Ihre Vereinigung ist unerhört, eigensinnig, hoch privat. Auch das Buch, der Körper des Textes, ist von ihrer Begegnung gezeichnet. Der blaue Umschlag wellt sich, sie hat Fingerabdrücke auf den Seiten hinterlassen, Stichwörter, Anstreichungen und eine Fahrkarte als Gegenzeichnung des Gedruckten ...

Manche Texte sind von vornherein „Pretexte“: Vorwand und Material zur weiteren Bearbeitung. Bühnen-, Radio- und Filmtexte bieten neben den vorgesehenen Worten selbst Anhaltspunkte für die Realisation einer Kunstform, die sich vom gedruckten Text in jeder Hinsicht unterscheidet. Gewöhnlich sind sie eigens für die entsprechenden Medien verfasst und haben nur in Ausnahmefällen einen eigenständigen Lesewert. Wird Literatur verfilmt, bleibt der Aufschrei der Lesegemeinde, die das Buch gegen das – für ihr Empfinden – so viel banalere Kino aufs Heftigste verteidigt, nicht aus. Natürlich hatte man sich die Protagonisten, die Orte und Stimmungen beim Lesen völlig anders vorgestellt, intensiver, schöner, reizvoller. Mit ihrem vehementen Plädoyer für das „Original“ verteidigen ärgerliche Leser nicht zuletzt ihre eigene Phantasie und Schöpfungskraft, oder anders: ihre intime und unteilbare Lust am Text, um die sie sich im Kino betrogen sehen.

Diese Haltung wird heute mehr und mehr als peinlich empfunden. Wir haben uns daran gewöhnt, Literarischem allerorts in jeder erdenklichen Form zu begegnen. (Die Autorin des Artikels betreibt selbst die Dramatisierung literarischer Texte, teils aus Überzeugung, teils aus ökonomischer Notwendigkeit, und darf hier selbstkritisch mitreden.) Gerade wer die Literatur liebt, heißt fast jedes Mittel willkommen, das ihrer Verbreitung dienen könnte. Hinsichtlich der entfesselten Hörbuchproduktion bleibt der Aufschrei: „Das Buch ist in Wirklichkeit aber ganz anders!“ jedenfalls aus. Die kleinen Papp- und Plastikquadrate sind ja auch ganz hübsch, zum Verschenken geeignet, ein häufiger Grund für den Erwerb eines Hörbuchs. Dabei ist nur ein kleiner Teil dieser Texte ursprünglich fürs Ohr, die meisten sind vielmehr fürs Auge geschrieben, nicht zum Hören, sondern zum Lesen. Vergegenwärtigen wir uns die zahlreichen Eigenarten dieser unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen.

Könnte man ein Buch als das gleichzeitige Vorhandensein sämtlicher Zeichen eines Textes charakterisieren, die in jedwede Richtung, in allen erdenklichen Geschwindigkeiten, das eine wiederholend, das andere wiederum auslassend usw., entziffert werden können, so wird bei der Verflüssigung eines Buches zum Hörbuch alles, was zuvor in der Freiheit des Lesers (wie in dessen ästhetischem und intellektuellem Vermögen) gestanden hat, für die gesamte Hörerschaft auf eine Weise festgelegt. Eine Regie übernimmt die Interpretation, ein Sprecher oder Schauspieler leiht dem Text seine Stimme und mit ihr seine unsichtbare und doch spürbare Körperlichkeit, sein Leben, seine Erfahrungen und Einsichten – denn eine Stimme bewahrt all dies auf. Sie ist niemals neutral, sie ist selbst eine Tonspur, die das ausgesprochene Wort, ja selbst den Atem auf ihre unverwechselbare Weise einfärbt.

Hörbuchlabels werben mit diesen Stimmen, die sie als „groß“, „stark“ oder „prominent“ preisen. Diese Stimmen gehören meist populären Sprechern und Schauspielern aus Funk und Fernsehen, ihre Namen und Vertrauen erweckenden Gesichter dienen als Magneten. Der Einfluss des Fernsehens und seiner Gesetze sind derzeit enorm. Die beliebten Darsteller mögen durchaus ernsthafte Vorleser sein, aber sie leisten ihren Beitrag zur Verbreitung der Literatur unter dem Preis ihrer Verharmlosung.

Tatsächlich geht der Käufer kaum ein Risiko ein. Wenn ein Tatortkommissar einen Krimi vorliest, hört sich das fast wie ein echter Tatort im Fernsehen an. Die Stimme des Profis schlägt mühelos eine Brücke zwischen dem stressgeplagten Menschen und der Literatur, deren lautlose Welt er genauso fürchtet, wie er sich nach ihr sehnt. Keine Angst, sein Vortrag wird perfekt sein. Der Schauspieler wird nicht niesen und nicht schmatzen. Er wird keine Silbe verschlucken und kein Wort, das ihm besonders rätselhaft und anziehend erscheint, sich wiederholt auf der Zunge zergehen lassen, um dann die nächste Passage im Flug zu nehmen. Er wird sich nicht im Text verlieren, keine unmotivierte Pause einlegen. Er wird niemals privat sein. Artikulation, Tempo und Rhythmus werden den Sinn des Geschriebenen transparent machen und keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Geschichte in Ordnung ist und des Zuhörens lohnt. Sein Vortrag ist stets moderat, angenehm und in jeder Hinsicht logisch. Mögliche Unwägbarkeiten und Klippen des Textes sind in seiner Stimme getilgt.

Ausgezeichnete Sprecher und Schauspieler erlauben sich natürlich die unverschämten Freiheiten eines wilden Lesers. Sie machen beinahe vergessen, dass es sich beim Hörbuch um eine Konserve handelt, deren Genuss es mit frisch zubereiteten Speisen nun mal nicht aufnehmen kann. (Empört sich ein Bekannter: „Ein Hörbuch hören statt selbst zu lesen? Also bitte. Ich lasse mir ja auch nicht das Essen von einem Automaten in den Mund schieben!“) Diese Genies des Sprechens beten nicht Text für Text unabhängig von seinen Eigenarten und Rissen ungerührt herunter. Ihre Stimmen sind selbst unrein, sind spröde, brüchig, mal zu fleischig, mal zu dünn, vom Leben gezeichnet, hungrig und müde und hilflos und rechthaberisch in einem. Sie sind selbst beredt genug, um sich mit dem Autor auf Augenhöhe zu begeben. Serienstar oder Sprechkünstler: Ob eine Stimme beim Hörer ankommt, bleibt höchst subjektiv. Ernsthafte Buchhändler raten ihren Kunden, ein Hörbuch vor Erwerb anzuhören, und halten selbstverständlich ein Abspielgerät bereit.

Nach dem Bombardement der Sehnerven für maximalen Warenabsatz wird nun unser Gehör aufs Schärfste umkämpft. Die armen Augen können einfach nicht mehr. Das ist nur verständlich: die tägliche Bilderflut, die Bildschirmarbeit, das ständige Wachsein und Reagieren-Müssen in Beruf und Straßenverkehr, das Surfen im Netz usw. ermüden sie. Wir würden so gerne lesen, aber die Grenze des visuell Verkraftbaren ist erreicht. Also Füße hoch, Augen zu und sich vorlesen lassen. Wer Glück hat, hat dafür einen geliebten Menschen, die Einsamen drücken auf den Startknopf des CD-Players. Hörbücher sind die praktischeren Bücher. Sie kommen unserem Anspruch auf Effektivität nach, der von uns verlangt, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun und dabei noch immer eine Hand oder den Blick für Weiteres frei zu haben. Denn wir sind ausgelastet und gelangweilt, erschöpft und begierig gleichzeitig. Eine Freundin: „Moby Dick würde ich nie lesen, hab’ nicht die Zeit. Aber das Hörbuch: wunderbar!“ Als Mutter hat sie dabei ganze Bügelberge bewältigt. Serien wie „Bügelhörbuch“ sorgen für gute Unterhaltung und Weiterbildung bei zeitraubender, unliebsamer Tätigkeit, da wird die Wäsche fast schon von alleine glatt. In anderen Haushalten laufen stattdessen eben Radio oder Fernseher.

Mit zweistelligen Wachstumsraten wird das Hörbuch vom Börsenblatt zum „Hoffnungsträger der Branche“ erklärt. Die Beteiligten sind zufrieden. Noch immer betreten neue Hörbuchverlage den Markt, besetzen Nischen. Nicht selten wird das Tonstudio im eigenen Wohnzimmer eingerichtet, Bemerkenswertes entsteht in Heimarbeit.

Die Palette der verfügbaren Titel ist enorm. Sachbücher, Reiseliteratur, Lebensberatung, Biografien, Kinderbücher; Hörspielklassiker werden neu aufgelegt und oder frisch inszeniert. „Verlierer“ sind derzeit (von wenigen Ausnahmen abgesehen) Autorenhörbücher. Der Käufer entscheidet sich für die Profistimme – oder liest das Buch selbst. Dass authentisches Material durchaus begehrt ist, beweist hingegen die Erfolgsgeschichte des Kölner Verlags supposé, der ausschließlich Originalaufnahmen, erzählte Wissenschaft und Audiokunst editiert. Dort sind Entdeckungen zu machen.

Der Weg vom Hörbuch zum Internetportal ist nicht weit. Hier streift es seine physische Gestalt ab und wird zum Datenfluss. Wir sind im Reich der körperlosen Texte angelangt, die entweder direkt anzuhören oder auf den MP3-Player zu laden sind. Wie in der Musikbranche droht Internetpiraterie, denn die körperlosen Texte sind flugs kopiert, versendet und weiterverkauft. Durch Kopierschutz und digitale Wasserzeichen soll der Wilderei Einhalt geboten werden. Die Zahl per Download verfügbarer Hörbuchtitel steigt beständig.

Große Portale wie soforthoeren.de, claudio.de oder audible.de halten mitunter noch die Backlist der Hörbuchverlage bereit, während diese ihre Spitzentitel lieber auf herkömmlichen Tonträgern vermarkten. Denn die Verteilungsschlüssel zwischen Verlagen und Portalen sind strittig, die Verlage klagen über zu geringe Beteiligungen an den Downloads und drohen mit Qualitätsminderung ihrer Produktionen.

Noch geht der Großteil der Hörbücher über den stationären Buchhandel, die Portalbetreiber werben aber schon um eine direkte Zusammenarbeit. „Mit Downloadterminals“, so ein Sprecher, „könnte der Buchhandel seine Kunden aktiv an dieses neue Medium heranführen und über eine Umsatzbeteiligung auch an Folgekäufen beteiligen.“ Möglicherweise steht schon bald eine MP3-Zapfsäule in unserer Lieblingsbuchhandlung und wir verlassen sie beschwingt mit dem Knopf im Ohr. Vielleicht mit einem raren, ganz besonderen Titel, dessen kostspielige physische Produktion als Buch oder CD nicht lohnen würde.

Genug am Bildschirm gesessen. Die Augen sind müde. Und die Ohren?
John Cage: „Was wir brauchen, ist Stille.“
Ein Blick auf das blaue Bändchen vor mir auf dem Tisch, vom leidenschaftlichen Gebrauch gezeichnet …
Ja.

Susanne Fritz lebt als Autorin und Regisseurin in Freiburg im Breisgau. Sie hat die Erzählungen Ein Schaf an der Leine sowie Theaterstücke und Hörspiele veröffentlicht. Ihr Roman Heimarbeit wird im Herbst bei Klöpfer & Meyer erscheinen.