"Abermals ein Jubiläum". Irene Ferchl gratuliert Mascha Kaléko zum 100. Geburtstag

"Ich denke oft ans Leben, wie’s sein könnte,
Wenn’s nicht so wäre, wie es leider ist"
Mascha Kaléko zum 100. Geburtstag

Von Irene Ferchl

Ihr Ton ist unverwechselbar. Auch wenn Mascha Kaléko oft mit Erich Kästner, Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky verglichen, mit ihnen in denselben Topf der Zwanziger-Jahre-Lyriker geworfen wird, erkennt man ihre Gedichte sofort. Das liegt nicht nur am weiblichen "lyrischen Ich", sondern an den fast immer ein wenig düster grundierten Versen, deren Witz und ironischer Blick auf Alltagsprobleme nicht darüber hinwegtäuschen sollten, dass dahinter Verlustängste, Sehnsüchte nach Heimat und Geborgenheit, eine tiefgreifende Erfahrung von Fremdheit lauern.

Wenn Thomas Mann in Bezug auf Mascha Kaléko von "aufgeräumter Melancholie" spricht, hat er sich wohl von der Fassade blenden lassen, während Karl Krolow mit seinem Diktum, bei ihr sei "Gefühl das Gefühl der Ertrinkenden", ein wenig zu sehr dramatisiert. Vielleicht liegt, wie so oft, die Wahrheit in der Mitte oder besser: im Sowohl-als-auch. Tatsächlich war es Marcel Reich-Ranicki, der die in vielen Lexika und Nachschlagewerken schlicht vergessene Kaléko vor einigen Jahren rehabilitiert und in seiner Interpretation des Gedichts "Großstadtliebe" geurteilt hat: "kess und keck, frech und pfiffig, schnoddrig und zugleich sehr schwermütig, witzig und ein klein wenig weise".

Geboren wird Mascha Kaléko als Golda Malka Aufen am 7. Juni 1907 in Schidlow, damals Galizien, heute Polen. Um den Pogromen an den Juden zu entkommen, fliehen die Eltern 1914 erst nach Marburg, später ziehen sie nach Berlin. Dort beginnt die Sechzehnjährige eine Bürolehre, besucht Abendkurse in Philosophie und Psychologie, liest viel und schreibt erste Gedichte. Hübsch, dunkelhaarig und mit lebhaften Augen ist sie natürlich der Schwarm vieler junger Herren, sie verkehrt im Romanischen Café und findet Anschluss an die literarische Boheme. 1929 erscheinen ihre ersten Gedichte im Querschnitt, im Jahr darauf drucken die Vossische Zeitung und das Berliner Tageblatt weitere Gedichte und Prosa, die meist Zwischenmenschliches thematisieren; ihr genauer Blick auf die Sorgen und Hoffnungen der Großstadtmenschen – auch die Arbeitsbedingungen der jungen Mädchen –, auf den alltäglichen Umgang mit den modernen Errungenschaften, und ihre poetische Umsetzung in lockere Reime treffen das Lebensgefühl der Epoche.

Franz Hessel entdeckt sie für den Rowohlt Verlag und stellt ihren ersten Band, Das lyrische Stenogrammheft, zusammen, der 1933 erscheint und sich sehr gut verkauft, aber nach Hitlers Machtübernahme drucken die Zeitungen keine Texte mehr von der Jüdin. Rowohlt publiziert Ende 1934 noch ihr Kleines Lesebuch für Große, doch im Sommer 1935 wird sie aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, erhält damit Schreibverbot, und 1937 stehen ihre Bücher dann auch auf der Liste "schädlichen und unerwünschten Schrifttums".

Zu den beruflichen Problemen kommen private, als sie, die seit 1928 mit Saul Aron Kaléko verheiratet ist, den Komponisten und Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver kennen und lieben lernt, der der Vater ihres Sohnes Steven wird und mit dem sie im September 1938 nach New York emigriert. Wie für viele Zeitgenossen bietet das amerikanische Exil lediglich die Möglichkeit zum Überleben und auch Jerusalem, wohin sie 1959 auf Wunsch des zweiten Ehemanns umziehen, wird keine Heimat für sie, sie lernt zum Beispiel kein Hebräisch. Es bleibt die große Sehnsucht nach der deutschen Sprache und nach Europa, die auch von mehreren Reisen nicht gestillt werden kann.
Neuauflagen und ausverkaufte Veranstaltungen beweisen, dass Mascha Kaléko in Deutschland nicht vergessen ist, aber sie boykottiert gewissermaßen selbst ihr Comeback, weil sie wegen der SS-Mitgliedschaft eines Jury-Mitglieds den Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste zurückweist.

1968 muss sie den Tod ihres geliebten Sohnes verkraften, 1973 stirbt Chemjo Vinaver, sie selbst leidet an Magenkrebs und will nicht mehr weiterleben. Um so erstaunlicher ist der Bericht von Horst Krüger, der Mascha Kaléko im Herbst 1974 bei einer gemeinsamen Lesung kennen lernt und sie beschreibt: "Sie war genau wie ein Gedicht von Mascha Kaléko. Entwaffnende Wahrheit des Authentischen: Ein Gedicht, ein lyrisches Ich stand vor mir, klein, schwarz, zierlich. Ironie und Spottlust waren da mit Melancholie sehr anmutig gemischt. Sie war schon gut in den Sechzigern; man sah es ihr aber nicht an. Von weitem hätte man sie gut für eine Frau Ende Dreißig halten können. Sie hatte noch immer die Grazie, die Geschmeidigkeit und die nervöse Unruhe junger Wildkatzen an sich. Der fast lolitahafte Charme sehr junger Mädchen ist ihr bis zu ihrem Tod geblieben.

Dann ihre Lesung. Sie saß neben mir. Sie veränderte sich dabei etwas. Das Mädchenhaft-Kindliche ging jetzt verloren. Sie wurde bewußter, ernster, strenger. Sie ließ sich viel Zeit zwischen den einzelnen Gedichten, machte größere Pausen, scheinbar suchend, scheinbar unschlüssig blätternd. Doch solche Unschlüssigkeit schien mir kunstvoll gewollt. Sie wußte genau, was sie jetzt tat und wollte: vortragen, das feine Gespinst ihrer Verse zum Klingen bringen."

Krüger, der die verehrte Kollegin dann ein paar Tage durch Berlin begleitete, beklagte später, dass sie "zwischen die Zeiten" geraten sei, den gleichen literarischen Rang der Kästner-Tucho-Ringelnatz wollte er ihr aber nicht zuerkennen. Es mussten noch einige Jahre ins Land gehen, bis die Literaturwissenschaft eine Schublade für sie fand: die der "Gebrauchs- und Zeitgedichte im Stil Heines" – was ja aller Ehren wert ist – und man an ihrem Wohnhaus in der Bleibtreustraße in Berlin-Charlottenburg eine Gedenktafel anbrachte. Begraben wurde sie aber in Zürich, wo sie in der Schauspielerin Gisela Zoch-Westphal eine treue Freundin und Nachlassverwalterin gefunden und die letzten Monate vor ihrem Tod am 21. Januar verlebt hatte.
Zum 100. Geburtstag scheint nun tatsächlich eine Kaléko-Renaissance anzubrechen: eine ganze Reihe von Lesungen werden veranstaltet, eine faktenreiche und mit Gedichten gespickte Biografie von Jutta Rosenkranz liegt vor, Neuauflagen oder Neuzusammenstellungen ihrer Werke sowie Hörbücher kommen auf den Markt. Die Dichterin selbst sah Derartiges eher skeptisch, ihr Gedicht "Abermals ein Jubiläum" endet:

Weil alles so vergeht, was dich einst freute
Und was dir wehgetan: Trink Deinen Wein!
Was gestern morgen war, ist heute heute.
Was heute heute ist, wird morgen gestern sein.
Prägt euch das ein.

Zum Weiterlesen:

Mascha Kaléko, Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte. Ausgewählt von Gisela Zoch-Westphal. dtv, München 2007. 160 Seiten, 6 Euro

Das lyrische Stenogrammheft. Kleines Lesebuch für Große. Rowohlt TB, Reinbek bei Hamburg, 2007. 80 Seiten, 5 Euro

Verse für Zeitgenossen. Hrsg. von Gisela Zoch-Westphal. Rowohlt TB, Reinbek bei Hamburg 2004. 80 Seiten, 5,90 Euro

Die paar leuchtenden Jahre. Ausgewählt von Gisela Zoch-Westphal. dtv, München 2003. 368 Seiten, 9,50 Euro

In meinen Träumen läutet es Sturm. Gedichte und Epigramme aus dem Nachlass. dtv, München 1998. 160 Seiten, 7,50 Euro

Jutta Rosenkranz, Mascha Kaléko. 1907–1975. Biografie. dtv, München 2007. 299 Seiten, 14 Euro


Irene Ferchl ist Herausgeberin des Literaturblatts Baden-Württemberg und Autorin literarischer Reiseführer. In diesem Frühjahr erschien die Neuauflage ihres Buchs "Die zweite Hälfte meiner Heimat". Annette von Droste-Hülshoff am Bodensee bei Klöpfer & Meyer.