Eigensinnige Musen

Karoline Hille und Manfred Metzner präsentieren Frauen aus dem Umkreis der Surrealisten

Von Elke Linda Buchholz

Ein feines, belustigtes Lächeln umspielt die Lippen der jungen Luise Straus-Ernst. Dass ihr Mann sie – zusammen mit einem Seehund – in einem Hundekörbchen platziert hat, scheint sie nicht weiter zu stören. Die Collage von Max Ernst zeigt seine erste Ehefrau 1920, kurz nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Jimmy. Beim Kunstgeschichtsstudium in Bonn hatten sich beide kennengelernt, noch bevor er zum Dadafex Maximus wurde – und sie zu einer der ersten promovierten Kunsthistorikerinnen.

Das riesige, hypnotische Augenpaar, das Max Ernst 1925 auf seiner Fotoarbeit „La Femme visible“ über einem feingezeichneten Horizont aufsteigen lässt, gehört einer anderen Frau: Helene Diakonowa, genannt Gala. Für die charismatische Russin verließ er Luise Straus und ging eine turbulente Ménage à trois mit ihr und ihrem Mann, dem Surrealisten Paul Eluard ein. Gala trennte sich später von beiden und wurde als Muse, Managerin und Modell des Spaniers Salvador Dalí weltberühmt.
Die amerikanische Malerin und Schriftstellerin Leonora Carrington dagegen konnte sich, zumindest in der europäischen Wahrnehmung, nie aus dem übermächtigen Schatten von Max Ernst lösen, in den sie sich als Kunststudentin 1937 Hals über Kopf verliebt und dafür den Bruch mit ihrer schwerreichen Industriellenfamilie riskiert hatte. Als Max Ernst 1940 das Gemälde „Leonora im Morgenlicht“ schuf, auf dem sich die strahlende Schönheit durch einen düster-surrealen Dschungel kämpft, hatten die politischen Katastrophen der Zeit das Liebespaar bereits auseinandergerissen. Er wurde als feindlicher Ausländer in Frankreich interniert, sie floh nach Spanien und stürzte in eine schwere Psychose. Heute lebt sie hochbetagt in Mexiko-Stadt, wohin sie in den 1940er Jahren emigrierte. In ihrem umfangreichen Œuvre vermischen sich surreale Traumwelten mit den Mythen der Alten und Neuen Welt. „Wenn die jungen Leute mir heute sagen, dass ich einen jungen Geist habe, fühle ich mich beleidigt – ich habe einen alten Geist“, schrieb sie 1973. Noch mit über achtzig Jahren war sie künstlerisch aktiv.

Das Vermächtnis Peggy Guggenheims, die – wie man der selbstverfassten Skandalchronik über ihre erotischen Abenteuer entnehmen kann – mit Max Ernst ebenfalls kurze Zeit verheiratet war, ist ihre in Venedig zu besichtigende Sammlung moderner Kunst. Als Galeristin und Museumsgründerin setzte sie sich für Surrealisten und Avantgardisten ein und förderte kontinuierlich das Schaffen von Künstlerinnen. Zur Ironie der Geschichte gehört, dass Peggy Guggenheim selbst Max Ernst mit der jungen Malerin Dorothea Tanning in Kontakt brachte. Mit fliegenden Fahnen lief er zu ihr über und verbrachte die letzten drei Lebensjahrzehnte mit ihr. Dass Tanning selbst eine bedeutende Künstlerin war, unterschlägt sie in ihrer autobiografischen Erzählung Birthday nahezu völlig. In den Mittelpunkt stellt sie ihn: Max Ernst. Dabei wirken Tannings riesige, surreale Stoffskulpturen aus den 70er Jahren noch heute faszinierend wie am ersten Tag und sind unter anderem in der Londoner Tate Modern zu sehen.

Jede der Frauen von Max Ernst bietet Stoff für einen Roman – und die Kunsthistorikerin Karoline Hille versteht davon lebendig zu erzählen. Sie ist eine leidenschaftliche Kennerin der Quellen, die sie kritisch liest und fruchtbar macht. Auf das Thema ihres Buches Gefährliche Musen kam die Dada-Spezialistin, die auch über Hannah Höch publiziert hat, als sie bei ihren kunsthistorischen Studien in Zeitschriften der 1920er Jahre immer wieder auf Beiträge von Luise Straus-Ernst stieß: mutig und klar geschrieben, bis heute gut lesbar. Sie fand heraus, dass die Urheberin eine bedeutende Journalistin der 20er Jahre war und nebenher alleinerziehende Mutter. Ihr Leben endete in den Gaskammern von Auschwitz. Um nach Amerika zu fliehen, hätte sie Max Ernst zum Schein ein zweites Mal heiraten müssen, denn ein Paarvisum für beide hatte ihr Sohn Jimmy organisieren können. Sie lehnte ab.

Es gelingt Karoline Hille, die Frauen nicht gegeneinander auszuspielen. Mit Schuldzuweisungen, auch an den immer wieder untreuen Max Ernst, hält sie sich zurück. Die so oft in Paarbeziehungen – und vor allem in künstlerischen – wirksamen Strukturen und Rollenmuster zeigt sie auf, ohne in moralisierende, simplifizierende Täter-Opfer-Modelle abzugleiten. Sie bringt die fünf unterschiedlichen Frauen mit ihren Stärken und Schwächen so einfühlsam und präzise zum Schillern, dass man sich als Leser glatt in sie verlieben könnte. Keine Frage: Es waren nicht zuletzt deren Intelligenz, Kreativität und Eigensinn, die Max Ernst bezauberten. Schönheiten waren sie allerdings auch.

Manfred Metzners Text über die als Meta Erna Niemeyer im pommerschen Bublitz geborene Fotografin Ré Soupault ist eher biografischer Abriss und Vorwort. Trotzdem wird deutlich, dass auch ihr Leben streckenweise ein abenteuerlicher Roman war. Die Hauptsache in seinem Buch Ré Soupault. Die Fotografin der magischen Sekunde sind ihre Fotografien: Diese erst wiederentdeckt und damit die Fotografin dem Vergessen entrissen zu haben, ist Metzners Verdienst. In seinem Verlag Das Wunderhorn brachte er 1988 einen Band mit ihren Frauenporträts aus dem Verbotenen Viertel von Tunis heraus, die erste Veröffentlichung aus dem fotografischen Werk von Ré Soupault überhaupt.

Im Berliner Martin-Gropius-Bau sind bis zum 13. August 250 Aufnahmen von ihr in einer umfassenden Ausstellung zu sehen: Eine Braut mit wehendem Schleier auf einer Pariser Straße, Straßenmusiker, Zoobesucher, Demonstranten, Badende in Norwegen, Fischhändler in Oslo, Straßenkinder in Madrid, Mekkapilger in Tunis und immer wieder ihr Mann, Philippe Soupault, beim Lesen, im Café, beim Interview. Erstmals werden Bilder aus dem Nachkriegsdeutschland sowie persönliche Briefe und Dokumente gezeigt.

Ein außerordentliches Gespür für das Besondere im Alltäglichen zeichnet ihre Fotografien aus: „Ich habe nie eine Aufnahme gestellt. Alles, was ich fotografierte, kam direkt aus dem Leben.“

Ihren Künstlernamen Ré verdankte die Bauhausschülerin dem Dadaisten Kurt Schwitters, entscheidende künstlerische Impulse ihrem Lehrer Johannes Itten. 1924 arbeitete sie mit Viking Eggeling in Berlin an Experimentalfilmen, heiratete später den Filmemacher und Maler Hans Richter, freundete sich als Modejournalistin mit ihrem Redaktionskollegen Erich Maria Remarque an. Ende der Zwanziger entwarf sie in Paris Hosenröcke und Verwandlungskleider für die moderne Frau und ließ sich ihr Modestudio von Mies van der Rohe einrichten. Entscheidend wurde die Pariser Begegnung mit Philippe Soupault, neben André Breton und Louis Aragon Mitinitiator des Surrealismus. Gemeinsam reisten beide quer durch Europa, in die USA und nach Nordafrika, er als Chef-Reporter, sie als begleitende Fotografin. Für mehrere Jahre ließen sie sich in Tunis nieder, bis sie vor den heranrückenden Nazis Hals über Kopf, ohne Kamera und Fotoarchiv, fliehen mussten.

1945, nach der Trennung, lebte Ré in New York – und bezog das ehemalige Studio von Max Ernst. Ob sie ihm begegnet ist? Gut möglich. Das Beziehungsnetz der Surrealisten und Avantgardisten in Paris und später in Amerika war dicht gewebt. Die Fotografin Lee Miller etwa, die 1929 als amerikanisches Fotomodell nach Paris zu Man Ray ging und mit ihren Künstlerporträts zu einer der bedeutendsten Fotografinnen der Zeit wurde, hat Leonora Carrington und Max Ernst in Südfrankreich 1939 aufgenommen und später Dorothea Tanning und Max Ernst in Arizona. Anders als für Lee Miller blieb die Fotografie für Ré Soupault eine Episode in ihrem Leben, der sie selbst wenig Bedeutung zumaß. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete sie als Übersetzerin – unter anderem von Lautréamont – und Hörspielautorin.

Erst jetzt tritt Ré Soupault in der öffentlichen Wahrnehmung langsam aus dem Schatten ihres berühmteren Mannes heraus – ebenso wie die faszinierenden Frauen um Max Ernst. Deren Biografien sind durch die Wechselfälle des Lebens und den – wie die Surrealisten es nannten – „objektiven Zufall“ zwar wie an einer Perlenschnur mit Max Ernsts Leben verbunden. In Karoline Hilles Buch jedoch stiehlt der „Meister“ ihnen nicht mehr die Schau. Er kommt nur als Nebenfigur ins Bild. Selbst das Buchcover mit dem etwas melodramatischen Titel Gefährliche Musen verbannt den Maler in den Hintergrund. Wenn man Vorder- und Rückseite zusammen betrachtet, erkennt man das ganze, 1948 surrealistisch inszenierte Foto: Es zeigt Dorothea Tanning beim Schach gegen Max Ernst. In Karoline Hilles Buch sind die Frauen am Zug.

Zum Weiterlesen:

Karoline Hille, Gefährliche Musen. Edition Ebersbach, Berlin 2007. 240 Seiten, 80 Abb., 25 Euro

Manfred Metzner (Hrsg.), Ré Soupault – Die Fotografin der magischen Sekunde. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2007. 192 Seiten, zahlr. Abb., 25,80 Euro

Außerdem die Fotobände von Ré Soupault, Paris 1934–1938. 1994; Tunesien 1936–1940. 1996; Frauenportraits aus dem "Quartier réservé" in Tunis. 2001. Hrsg. von Manfred Metzner. Verlag das Wunderhorn, Heidelberg

Ursula März, Du lebst wie im Hotel. Biographischer Essay über Ré Soupault. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1999. 144 Seiten, 70 Abb., 19,50 Euro

Louise Straus-Ernst, Nomadengut. Autobiografie 1914–1942. Hrsg. von Ulrich Krempel. Sprengel-Museum, Hannover 2000. 243 Seiten, 18 Euro

Peggy Guggenheim, Ich habe alles gelebt. Bekenntnisse einer Sammlerin aus Leidenschaft. Lübbe TB 1998. 344 Seiten, 12, 95 Euro

Nur antiquarisch sind die Lebenserinnerungen von Dorothea Tanning (Birthday) und die Bücher von Leonora Carrington (Die ovale Dame, Ein Flanellnachthemd, Das Hörrohr, Unten) erhältlich.


Elke Linda Buchholz, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet als freie Autorin, Journalistin und Kunsthistorikerin in Berlin. Sie veröffentlichte u. a. 2003 den Band Künstlerinnen. Von der Renaissance bis heute. Zuletzt erschien von ihr zusammen mit Michael Bienert Kaiserzeit und Moderne. Ein Wegweiser durch Berlin im Berlin Story Verlag.