Stuttgarts rote Kreise

Von Cornelia Krauß

Wer sich für die Marksteine in der Geschichte der Arbeiterbewegung interessiert, hat in diesem Sommer zweifach Anlass zum Gedenken: Zum einen jährt sich am 5. Juli der Geburtstag der Wahl-Stuttgarterin Clara Zetkin zum 150. Mal, zum anderen hat vor hundert Jahren, Mitte August 1907, ein richtungweisender Kongress der Sozialistischen Internationale die marxistischen Meinungsführer der Bewegung in der alten Liederhalle vereinigt. Auf Initiative von Clara Zetkin fand parallel dazu eine Konferenz von Sozialistinnen mit der Forderung nach dem Wahlrecht für Frauen und mit der Gründung eines Frauenbüros in der Redaktion der Frauenzeitschrift Die Gleichheit statt.

Bereits der Rückblick auf 1889, das Gründungsjahr der zweiten Sozialistischen Internationale, zeigt, welche politische Agenda die europäische Großmachtpolitik bereithielt, um die künftigen Ideologen zu mobilisieren. Am 30. Januar 1889 erschoss sich der österreichische Kronprinz Rudolf, der in der Monarchie keine Zukunft mehr sah. Zu Beginn desselben Jahres war die Jungrevolutionärin Rosa Luxemburg über die deutsch-polnische Grenze in die Schweiz geflohen, um sich an der Universität Zürich zu inskribieren. Am 20. April wurde im oberösterreichischen Braunau Adolf Hitler geboren. Am 18. Mai hielt der Reichskanzler Bismarck seine letzte Rede vor dem deutschen Reichstag. Am 20. Juli fand in Paris der Gründungskongress der zweiten Sozialistischen Internationale statt, bei dem Clara Zetkin vor vierhundert Delegierten ihre erste Rede über die soziale Lage der Arbeiterinnen hielt.

Die deutsche Delegation unter der Leitung des Reichstagsabgeordneten Wilhelm Liebknecht war die stärkste Fraktion des internationalen Kongresses in Paris. Zu diesem Zeitpunkt waren die Aktivitäten der marxistisch geprägten deutschen Sozialdemokraten außerhalb des Reichstags und der Landtage noch wegen der bis 1890 gültigen Bismarckschen Sozialistengesetze verboten.

Nicht in allen Regionen des Wilhelminischen Reichs wurden die Auswirkungen des Sozialistengesetzes so scharf gehandhabt wie in Preußen. Im Königreich Württemberg zum Beispiel fanden verfolgte Sozialisten Zuflucht, obwohl das Land im Bundesrat jeder von Preußen verlangten Verlängerung des Sozialistengesetzes zustimmte. So schrieb der aus Hamburg ausgewiesene, vom Verleger Dietz nach Stuttgart gerufene Journalist Wilhelm Blos: „Das importierte Bismarcksche Giftgeschöpf konnte in dem bürgerlichen, mit freiheitlich-demokratischen Traditionen genährten Lande Schillers und Uhlands sich nicht ganz so brutal ausleben wie im Junkerland und andern von diesem infizierten Staaten.“

Johann Heinrich Wilhelm Dietz wurde zum organisatorischen Mittelpunkt der nach Stuttgart ziehenden Marxisten. Die Geschicke seines in der Furtbachstraße 12 angesiedelten Verlags bilden – mit schikanösen Hausdurchsuchungen – eine juristische Fallgeschichte par excellence. Obwohl Dietz nach unzähligen Kontroversen mit der Stuttgarter Polizei mit dem Gedanken spielte, in die bedeutendere Verlagsstadt Leipzig zu übersiedeln, verlagerte er lediglich die Druckerei nach Hamburg und blieb mit dem Verlagsgeschäft bis zu seinem Tod in Stuttgart. Sein anspruchsvolles Programm finanzierte er vorwiegend mit dem sozialdemokratischen Satireblatt Der wahre Jacob, das er bereits in Hamburg mit Wilhelm Blos gegründet hatte und nun in Stuttgart weiterführte. 1906 übernahm die SPD den Dietz-Verlag als zentralen Parteiverlag. 1923 wurde dieser nach Berlin verlegt und mit dem Vorwärts vereinigt. In der DDR war er dann der SED-nahe Verlag, während die Bundes-SPD in Bonn den Verlag Dietz Nachfahren gründete, von dem sich der Berliner Karl Dietz Verlag nach einem Rechtsstreit abspaltete.

Im Auftrag von Dietz hatte Clara Zetkin den gesellschaftsutopischen Roman Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887 des amerikanischen Autors Edward Bellamy übersetzt. Als sie nach dem Tod ihres Lebensgefährten Ossip Zetkin mit zwei Kindern krank und mittellos in Paris dastand, war für sie, wie für die anderen nach Stuttgart gezogenen Sozialisten, Dietz die Anlaufstelle. Mit Karl Kautsky, dem aus Wien kommenden Chefredakteur der Theoriezeitschrift Die Neue Zeit, war die Autorin bereits bekannt. Neben dem Haus Rotebühlstraße 145, in dem Kautsky wohnte und an seinem Erfurter Programm schrieb, bezog sie ihre neue Wohnung. Die Polizeibehörde ihrer Wahlheimat empfing sie nicht gerade freundlich. In einem im Staatsarchiv Ludwigsburg verwahrten Faszikel über „Eißner, Klara Josephine genannt Zetkin“ liest sich das so, gezeichnet von einem Kriminalsekretär Roell: „Ich bringe hiemit die Eißner wegen unrichtiger Namensführung ihrer Kinder zur Anzeige. Dieselbe wohnt Rothebühlstraße 147.“ Die polizeiliche Observation sollte ihr Leben weiterhin begleiten.

Da sie sich bisher durch ihre unzähligen Artikel und die Mitorganisation des entscheidenden Gründungskongresses der zweiten Internationale in Paris auch als Rednerin eine Position unter den Marxisten geschaffen hatte, übertrug Dietz ihr bald die Herausgabe einer Frauenzeitschrift. Die erste Nummer der Gleichheit erschien am 11. Januar 1892, sollte als Rundbrief alle zwei Wochen herauskommen und vor allem als klassenkämpferisches Blatt die Interessen der Arbeiterinnen vertreten. Zunächst fand die Zeitung wenig Aufmerksamkeit im weiblichen Proletariat und wenig Interesse bei der männlich dominierten Parteiführung. Langsam stieg die Abonnentinnenzahl, so dass die Zeitung 1905 Gewinn erbrachte und sich selbst tragen konnte.

Zu diesem Zeitpunkt erlaubte Zetkins Position als gut bezahlte Chefredakteurin ihr neben den Parteiaktivitäten auch einen gehobenen Lebensstandard. Seit November 1899 war sie mit dem gut zwanzig Jahre jüngeren Maler Friedrich Zundel verheiratet. Wegen seiner Begeisterung für die sozialistische Bewegung war er als Kunststudent nach der Organisation eines Streiks von der Kunstschule gewiesen worden. Nachdem er sich an Clara Zetkin gewandt hatte, verschaffte diese ihm mit Hilfe einiger Parteifreunde Unterkunft in der Eugenstraße 17 und ein Atelier in der Olgastraße 7. Mit den Zetkin-Söhnen Maximilian und Konstantin freundete er sich an und schuf nacheinander Porträts von ihnen und ihrer Mutter.

Seine sozialistischen Ideen hatte er noch als Student in dem sozialen Drama Entlassen! niedergeschrieben, und seine figürliche Malerei thematisierte Arbeiter, Bauern und Handwerker. Seine Bilder wurden in den Großstädten Europas gezeigt. So schrieb Rosa Luxemburg im Januar 1902 aus Berlin an Clara Zetkin, dass sie zusammen mit dem Parteifreund Franz Mehring zwei Porträts von Zundel besichtigt habe: „Der Alte hat ihm besser gefallen als der Junge, und er bewunderte die feine Ausarbeitung des Kopfes. Überhaupt hat er ja gleich auf den ersten Blick erkannt: ein starkes und ernstes Talent.“

1903 bezog das Ehepaar Zundel ein neu erbautes Landhaus mit Garten und Platz für Hunde und Katzen in der Kirchheimer Straße 14 in Sillenbuch und schuf dort ein gastfreundliches, weltoffenes Ambiente. Die Gäste kamen aus der Partei, dazu gesellten sich Freunde aus Künstlerkreisen wie der Maler Felix Hollenberg, die Schauspielerin Gertrud Eysoldt, der Heilbronner Rechtsanwalt Hugo Faisst, Freund und Interpret von Hugo Wolfs Liedern. Clara Zetkin selbst spielte Klavier und ihr Sohn Konstantin Geige. Besondere Bedeutung erlangte das Landhaus Zundel im Jahr 1907 zum Weltkongress der Sozialistischen Internationale. Nicht nur die Sozialistenführer Bebel und Liebknecht, Luise und Karl Kautsky, die russischen Revolutionäre Marchlewski und Alexandra Kollontai kamen hierher – als Lieblingsgast auch Rosa Luxemburg, die im Landhaus eine eigene Mansarde bezog, sowie Wladimir Iljitsch Lenin, der sich eine Wegskizze für die „Datscha Zetkin“ anfertigen ließ.

Die Gruppenfotos aus dem Vorkriegs-Stuttgart haben überlebt, ebenso die radikalen politischen Forderungen. Riskant geblieben ist das Engagement für weltweite Protestaktionen, heute etwa von Globalisierungsgegnern – auch nach dem Fall ideologischer Mauern.

Zum Weiterlesen (Titel ohne Preisangabe sind antiquarisch erhältlich):

Gilbert Badia, Clara Zetkin. Eine neue Biographie. Aus dem Französischen von Florence Hervé und Ingeborg Nödinger. Karl Dietz Verlag, Berlin 1994

Siegfried Bassler (Hrsg.), Mit uns für die Freiheit. 100 Jahre SPD in Stuttgart. K. Thienemanns Verlag, Stuttgart 1987

Angela Graf, J. H. W. Dietz 1843-1922. Verleger der Sozialdemokratie. Verlag Dietz Nachf., Bonn 1998. 357 Seiten, 24,50 Euro

Annelies Laschitza, Im Lebensrausch trotz alledem. Rosa Luxemburg. Aufbau Verlag, Berlin 2002. 688 Seiten, 10 Euro

Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke und Briefe. 2 Bände. Karl Dietz Verlag, Berlin 1984

Maja Riepl-Schmidt, Wider das verkochte und verbügelte Leben. Frauen-Emanzipation in Stuttgart seit 1800. Silberburg Verlag, Tübingen 1998. 320 Seiten, 19,90 Euro

Georg Friedrich Zundel 1875-1975. Katalog zur Ausstellung der Kunsthalle Tübingen 1975

Cornelia Krauß, geboren in Schwäbisch Gmünd, ist promovierte Theaterwissenschaftlerin. Sie war an verschiedenen Theatern in Wien als Dramaturgin engagiert und lebt heute als freiberufliche Publizistin in Stuttgart.


Am 1. Juli veranstalten Buch & Plakat, das Stadtarchiv und die Naturfreunde Stuttgart einen vierstündigen Stadtrundgang auf den Spuren des Internationalen Sozialistenkongresses 1907. Information und Anmeldung unter Telefon 0711 / 24 62 38 oder kontakt@buch-plakat.de.