Ausgabe: September/Oktober 2007  


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Alles Erzählung – über den Wert des Scheins bei Gianni Celati

Alles Erzählung – über den Wert des Scheins bei Gianni Celati

Von Susanne Fritz

"Biografische Daten gebe ich nicht oder ich gebe sie falsch an", erklärt Celatis Freund und Förderer Italo Calvino, "jedenfalls versuche ich sie immer wieder aufs Neue zu verändern. Fragen Sie mich ruhig, was Sie wissen wollen, ich werde Ihnen antworten. Aber ich werde Ihnen nie die Wahrheit sagen." Jedes Mal, wenn er sein Leben festgelegt und objektiviert sehe, überkomme ihn Angst. Deshalb versuche er, die gleichen Dinge immer wieder anders zu sagen. Ein Autor zähle allein durch seine Werke. Und wenn eine Biografie Relevanz habe, dann die erfundene.

Alle Wirklichkeit ist Erzählung, ihr Wahrheitsgehalt Vertrauenssache. Ob wir einer Geschichte Glauben schenken, hängt von der Erzählkunst ab, von sprachlicher Schönheit und Verführungskraft, ebenso wie von der Bereitschaft des Lesers und Zuhörers, sich den wundersamen Spiegelungen der Sprachwelt zu überlassen. So lauscht – in Calvinos Buch Die unsichtbaren Städte – der Mongolenherrscher Kublai Khan den unerhörten Ausführungen Marco Polos über entlegene Provinzen seines Reiches, die er nicht selbst in Augenschein nehmen kann. Derart aufs Hörensagen angewiesen, schwankt der Souverän zwischen Zweifeln und Gewissheit, Faszination und Bedenken. Auf die Kunstform des narrativen Berichts wird Gianni Celati in seinem jüngsten Roman zurückgreifen.

Italo Calvino, damals Herausgeber einer Literaturzeitschrift und Lektor bei Einaudi, sei sein erster Leser gewesen und sein "Schutzschild", erzählt Gianni Celati in einem Zeitungsbericht, denn bei ihm habe er seine Manuskripte abgeliefert und sich um nichts weiter zu kümmern brauchen: "Ich musste nicht den Schriftsteller spielen. Es gab keine Buchvernissagen oder ähnliche Desaster."

Celatis Geschichten entstehen jenseits großer Versprechungen. Manchmal schreibt er zwanzig Jahre an einem Buch. Zu Cinema Naturale notiert er: "Wenn dieses Buch, über sein Leben befragt, sprechen könnte, würde es, glaube ich, wie der Pilger Dante Alighieri antworten: Ich war wahrhaftig ein Schiff ohne Segel und ohne Steuer, zu verschiedenen Häfen und Mündungen und Gestaden getrieben von dem trockenen Wind, den die schmerzende Armut ausströmt."

Gianni Celati begleitet seine Figuren auf Irrwegen, während plötzlicher und anhaltender Erregungszustände. Bei einer allzu vordergründigen Ausübung des Alltäglichen, beim Fall aus ihren Rollen, beim Verlust ihrer Selbstbeherrschung, ihrer Sprache, ihrer psychischen und physischen Fähigkeiten, die sie im Leben der anderen halten. Mit seinen Gehetzten, Versagern und Zweiflern steigt er aus, verstummt, erzählt, erholt sich und wandert. Mit genauer Beobachtungsgabe, großer Phantasie, feinsinnigem Humor und Ludwig Wittgenstein im geistigen Gepäck begibt sich der Schriftsteller an die Ränder der festen Welt, der gesicherten Urteile, der eindeutigen Wahrnehmung und eindimensionalen Sprache – um ganz langsam zu neuen Gewissheiten vorzudringen.

Die Sonne hat keinen Ort am Himmel über der Poebene. Ihre Strahlen dringen hier in eine "Luftschicht, die sehr viel dichter und schwerer ist als andere". In diesem Gemisch aus Dunst, Staub und Industriesmog blendet das Licht und bleibt doch diffus, ohne den Gegenständen Konturen zu verleihen, Schatten. Es scheint zu vibrieren, alles zittert, man ist geblendet, traut seinen Augen nicht. Diese Welt besitzt keine Festigkeit, ihre vagen Erscheinungen bieten Anlass für allerhand Spekulationen und Hirngespinste, denen Celatis Figuren gebannt folgen – jenseits der enormen Geschäftstüchtigkeit, die den reichsten Landstrich Italiens beherrscht: einst ein ausgedehntes Sumpfgebiet mit launischen Wasserläufen, weshalb selbst das Nachbargehöft in Sichtweite nur auf großen Umwegen zu erreichen war.

Massiver Verkehr durchflutet heute die Ebene, durchzieht sie mit Adern aus Blech, Abgasen und Dreck. An ihren Rändern Fabriken, Megamärkte, Auto- und Einrichtungshäuser; dahinter Felder, große Stallungen, Schlachtbetriebe, Käsereien. Gianni Celati hielt es in dieser Welt, in der die Menschen unsichtbar geworden sind, sich in ihren Fahrzeugen und Häusern verstecken, wo alle Leidenschaft schnellem Profit und teuren Autos gilt, nicht länger aus. Anfang der achtziger Jahre hat er seine Stelle an der Universität Bologna aufgegeben, wie etliche seiner eigenen Figuren die Flucht ergriffen, und schreibt wie James Joyce fortan im selbstgewählten Exil. Er bekennt sich zum Nomadischen, lebt im Senegal, in der Normandie, in den USA, heute im südenglischen Brighton; übersetzt Swift, Melville, Conrad, Stendhal, Céline, Michaux, dreht Dokumentarfilme und schreibt weiterhin Erzählungen über die Poebene.

Seine Verbindung zum ehemaligen Heimatland bleibt intensiv, pessimistisch, wehmütig. Im Zwei-Personen-Stück "Auftritt des Schauspielers Vecchiatto im Theater von Rio Saliceto" zeigt er sich zornig: Ein in die Jahre gekommener Schauspieler, Attilio Vecchiatto, kehrt nach großen Erfolgen im Ausland in seine Heimat Italien zurück. Doch kein Theater will ihn mehr engagieren, nur in einem kleinen Schuppen in der Pampa, umgeben von Schlamm und umnebelt von Schweinegestank, dürfen der Shakespeare-Darsteller von Weltformat und seine Frau Carlotta auftreten. Ihr Versuch, den zufällig hereingeschneiten Motorradfahrern und Hausfrauen Theaterkunst zu bieten, gerät zum Debakel, in seiner Not erteilt der greise Schauspieler – mal von seiner Frau gebremst, mal nach Kräften unterstützt – seinem unsichtbaren Publikum eine "Lektion Finsternis": ein Beckettscher Abgesang auf das Leben, die Zukunft, den Tod. Nachdem die einzige Zuschauerin, eine "alte Bäuerin mit Einkaufstasche", die der Vorstellung zumeist schlafend beigewohnt hat, fort ist, beschließen die beiden zu sterben. Mit dem Bühnenlicht erlischt ihr Leben.

Der Einbildungskraft Vorrang gewähren vor dem trivialen Augenschein der Welt – in Celatis 2006 auf deutsch erschienenem Roman Fata Morgana schließt sich vorerst der Kreis zu Italo Calvinos Unsichtbaren Städten, das dafür Pate gestanden hat:

Das Leben der "Gamuna" ist reine Illusion. Ein Bewusstsein außerhalb der unzähligen Luftspiegelungen, die ihre Stadt umgeben und die auch ihre Körper besetzen, um von Zeit zu Zeit aus ihnen in die wahrnehmbare Welt geschleudert zu werden, existiert nicht. "Sie sagen, jeder laufe hinter bestimmten Illusionen her und keiner könne es anders machen, weil alles zu derselben Verwünschung gehöre." Dieses kuriose Völkchen ist "aus dem Flimmern in der Luft entstanden, genau wie die Luftspiegelungen oder Trugbilder der Fata Morgana entstehen. Ihre wirklichen Namen? Wer weiß sie noch?" Ihre Hauptstadt "wurde schon von einer anderen Bevölkerung bewohnt, die aber spurlos verschwunden ist […]. Von den Gründen ihres Auszugs weiß man nichts; doch das Seltsamste daran ist, dass diese Einwohner bei ihrem Weggehen reich ausgestattete Häuser, Autos, Büros und Banken, Radiosender, Bibliotheken, Bewässerungsanlagen, Gärten voller Blumen und Bäume und zudem Tausende von Ölgemälden mit ihren Porträts zurückließen." Die ehemals reiche Stadt rottet vor sich hin, während die Gamuna sich ihren Träumen vom "bleischweren Zauber der Erde" hingeben. Von den einstigen Errungenschaften des Fortschritts machen sie ihren ganz eigenen, für den Fremden gänzlich undurchsichtigen Gebrauch, sodass dieser "nach einigen Stunden in Gamuna Valley von einer akuten Trostlosigkeit befallen" wird. Der Leser aber erliegt dem Zauber dieser phantastischen Miniaturen, die sich zu einer unterhaltsamen, poetisch weisen, auch schwermütigen Geschichte menschlicher Hoffnungen und Abgründe fügen. Celatis anthropologischer Bericht liest sich wie ein zerbrochenes Kaleidoskop westlicher Sicht auf exotische Lebensweisen. Oder ist es umgekehrt? Für Fata Morgana erhielt der Autor den Premio Viareggio 2006 und der Roman stand im Januar 2007 auf der SWR-Bestenliste.

Gianni Celati wurde 1937 in Sondrio geboren. Zu seinem siebzigsten Geburtstag danken wir ihm für sein eigenwilliges Werk jenseits des Zeitgeists.

Zum Weiterlesen von Gianni Celati (alle Übersetzungen von Marianne Schneider):

Fata Morgana. Roman. 2006. 224 Seiten, 19,50 Euro
Cinema Naturale. Erzählungen. 2001. 240 Seiten, 19,50 Euro
Erzähler der Ebenen. Geschichten. 1997. 144 Seiten, 15,90 Euro
Alle Wagenbach, Berlin

Landauswärts. 1993. 176 Seiten, 7,95 Euro
Mondphasen im Paradies. 1999. 263 Seiten, 9,95 Euro
Beide Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt a. M.

Und von Italo Calvino:
Die unsichtbaren Städte. Neuübersetzung von Burkhart Kroeber, Hanser Verlag, München 2007. 176 Seiten, 17,90 Euro

Susanne Fritz lebt als Autorin und Regisseurin in Freiburg im Breisgau. Sie schreibt Prosa sowie für Radio und Theater und hat Celatis Zwei-Personen-Stück "Auftritt des Schauspielers Vecchiatto im Theater von Rio Saliceto" übersetzt. Soeben ist ihr Roman Heimarbeit bei Klöpfer & Meyer in Tübingen erschienen.


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