Erinnerungen an das Haus Gottes

Erinnerungen an das Haus Gottes
Ein Gedenkbuch über die Synagogen in Baden-Württemberg

Von Fritz Endemann

Wenige Tage nach dem Pogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als die Trümmer der niedergebrannten Synagogen noch nicht erkaltet waren, predigte am Buß- und Bettag der Pfarrer Julius von Jan in der Kirche von Oberlenningen über das Wort des Propheten Jeremias „O Land, Land, höre des Herrn Wort“. Wo die Kirchenleitungen schwiegen, wagte dieser Dorfpfarrer öffentlich eine klare und entschiedene Abrechnung mit den Verbrechen des Regimes gegen die Juden: „Die Leidenschaften sind entfesselt, die Gebote Gottes missachtet, Gotteshäuser, die den anderen heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt und zerstört. Männer, die unserem deutschen Volk treu gedient und ihre Pflicht erfüllt haben, wurden ins KZ geworfen, bloß weil sie einer anderen Rasse angehörten.“ Von Jan schloss mit den Worten: „Und wenn wir heute mit unserem Volk in der Buße vor Gott gestanden sind, so ist dies Bekennen der Schuld, von der man nicht sprechen zu dürfen glaubte, wenigstens für mich heute gewesen wie das Abwerfen einer großen Last. Gott Lob! Es ist herausgesprochen vor Gott und in Gottes Namen. Nun mag die Welt mit uns tun, was sie will. Wir stehen in unseres Herrn Hand. Gott ist getreu. Du aber, o Land, Land, höre des Herrn Wort.“

Von Jan musste für die von ihm ausgesprochene Wahrheit bitter bezahlen – Verhaftung als „Judenknecht“, Misshandlungen, Verurteilung durch das Sondergericht Stuttgart wegen „Heimtücke“, Haft und schließlich Verbannung.

Es ist gut, dass in dem neu erschienenen „Synagogen-Gedenkbuch“ über von Jans Predigt und Schicksal berichtet wird. Nicht nur weil er ein Gerechter inmitten eines Volks von Tätern und Zuschauern war. Seine Predigt zeigt in bewegender Weise, welchen abgrundtiefen Verrats „an sich selbst und an seinem Gott“ das Volk sich dadurch schuldig gemacht hat, dass es diese Taten gegen die Juden und ihre Gotteshäuser beging oder duldete. Mit mörderischer Konsequenz hatten die Nazis die jüdischen Bürger – durch die „Nürnberger Gesetze“ 1935 – erst zu Fremden in ihrer Heimat gemacht, um sie sodann ihrer religiösen und kulturellen Identität und schließlich ihrer physischen Existenz zu berauben. Diese Rechnung ging auf. Dass es auch um die Grundlagen christlicher Existenz ging, wenn jüdische Menschen in ihrer Religion beleidigt, wenn ihre Gotteshäuser und Kultgegenstände geschändet und zerstört wurden, das ahnte vielleicht mancher; von Jan hat es mutig beim Namen genannt. Was ging nur in den Köpfen von Christen vor, als sie zusahen, wie die Thorarollen, das Wort auch ihres Gottes, verbrannt wurden?

Im ersten Teilband des Gedenkbuches gibt Jürgen Krüger, Kunsthistoriker an der Universität Karlsruhe, einen instruktiven Überblick über die Geschichte jüdischer Kultbauten und -einrichtungen von der Antike bis in unsere Zeit mit sehr reichem Bildmaterial, insbesondere über Typen, Stile und Ausstattungen der Synagogengebäude in Baden-Württemberg. Das ist nicht nur ein wichtiges Kapitel Architekturgeschichte, sondern zugleich eine Darstellung über die Schicksale der jüdischen Minderheit im deutschen Südwesten.

Der zweite Teilband enthält einen Katalog aller je bekannten Synagogen im Gebiet des heutigen Baden-Württemberg, der zerstörten, der wenigen erhaltenen und der neu gebauten, von Aach bis Zwingenberg alphabetisch nach den heutigen Gemeinden geordnet. Der ausführlichen baulichen und historischen Beschreibung von Betsaal und Synagoge ist jeweils eine kurze Geschichte der jüdischen Gemeinde und ein Abschnitt über deren weitere Einrichtungen wie Schulhaus, Mikwe und Friedhof beigefügt.

Diesen umfangreichen Band hat Joachim Hahn, Pfarrer in Plochingen, verfasst, und die Fülle des recherchierten und dargestellten Stoffes ist staunens- und rühmenswert, auch für den, der die bisherigen vorzüglichen, einschlägigen Arbeiten Hahns, insbesondere das Handbuch Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg (K. Theiss Verlag, Stuttgart 1988) kennt und schon oft zu Rate gezogen hat.

Es sind sachliche, nüchterne Angaben, die Hahn zusammengetragen hat, unterstützt durch Hunderte von Abbildungen, wenn möglich von dem intakten Zustand der Gebäude vor 1938. Von den einfachen Landsynagogen zu den städtischen Tempeln im maurischen oder byzantinischen Stil waren ihre Gestalt und Geschichte vielfältig und sehr unterschiedlich, das Ende aber von schrecklicher Einheitlichkeit: Nazitrupps drangen ein, zertrümmerten die Einrichtung, schändeten die Kultgegenstände, legten Feuer. Die ausgebrannte Ruine wurde auf Kosten der jüdischen Gemeinde beseitigt. Nach dem Krieg, oft erst sehr lange danach, errichtete man einen Gedenkstein oder eine Gedenktafel – meist verlegene, hilflose Pflichtübungen, die eher das Vergessen besiegeln als einen Impuls für Erinnerung geben.

Geschichte ist Erinnerung, aber die Erinnerung hat auch ihre Geschichte. An den ausführlich dokumentierten Schicksalen der Synagogengebäude oder Ruinen nach dem Krieg wird diese Erinnerungsgeschichte deutlich. Wohl gab es noch die jüdischen Friedhöfe, die vom Nazi-Terror weniger betroffen waren, aber diese lagen weit weg von den Ansiedlungen, oft halb verborgen am Waldrand, so konnten sie viel leichter „vergessen“ werden als die Gebäude im Ort.

Hätte nach allem, was geschehen war, nicht erwartet werden können, dass den wenigen öffentlichen Relikten jüdischen Lebens in Deutschland besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt zuteil werden würde? Dass die erhaltenen Synagogen wenigstens zu Stätten der Erinnerung und Mahnung gemacht würden? Eine naive Erwartung, jedenfalls für die ersten fünfundzwanzig Jahre der Bundesrepublik. Bis zum Ende der siebziger Jahre wurden zahlreiche in ihrer Bausubstanz bewahrte Synagogengebäude, die sich zum größten Teil in Landgemeinden und kleineren Städten befanden, abgerissen; auch Ruinen, die als solche hätten erhalten oder wiederaufgebaut werden können (zum Beispiel in Mannheim und Rust), wurden beseitigt. Krüger meint, die Dorfsynagogen seien nach dem Krieg in Vergessenheit geraten. Das trifft wohl für zentrale Stellen, insbesondere die staatliche Denkmalpflege, zu. Für die örtlichen Verhältnisse dürfte jedoch eher gelten, dass Gemeinderäte, Bürgermeister und große Teile der Bevölkerung durch die Beseitigung dem Vergessen nachhelfen wollten; vordergründige Rechtfertigungen waren unschwer zu finden, manchmal bedurfte es dieser auch gar nicht.

Einer der gravierendsten Fälle solchen Erinnerungsentzugs ereignete sich in Bad Mergentheim. Die Synagoge war 1938 auf besonders schändliche Weise im Innern verwüstet worden, der Bau selbst blieb jedoch unzerstört, so dass sie 1946 neu ausgestattet und wieder eröffnet werden konnte, als Gotteshaus für Überlebende des Holocaust, die sich als „displaced persons“ einige Zeit in der Kurstadt aufhielten. An der damaligen Einweihungsfeier nahmen Reinhold Maier als Ministerpräsident von Württemberg-Baden und andere politische Prominenz teil. Nachdem sich die Gemeinde 1949 aufgelöst hatte, wurde die Synagoge 1956 an das Bistum Rottenburg verkauft, 1957 wurde sie abgebrochen. Damit wurde ein Erinnerungsort beseitigt, der gleich zwei sehr verschiedene Kapitel jüdischen Lebens in Deutschland hätte bezeugen können. Noch manche Beispiele solcher „Vergessenskultur“ wären in Baden und Württemberg zu nennen: unter anderem in Schwäbisch Gmünd, Müllheim, Horb-Mühringen, Krautheim, Wiesloch.

Erst gegen Ende der siebziger Jahre regte sich bei örtlichen Bürgergruppen Widerstand gegen weitere Abrissaktionen. Exemplarisch dafür ist die Geschichte der Rettung der ehemaligen Synagoge in Freudental (Kreis Ludwigsburg), die Hahn ausführlich dokumentiert. Hier konnte eine sinnvolle Nutzung als Begegnungs- und Bildungsstätte gefunden werden, das „Pädagogisch-kulturelle Centrum“, das seit mehr als zwanzig Jahren fruchtbare Arbeit leistet.

Seither ist eine Anzahl eindrucksvoller und bewegender Gedenkstätten in ehemaligen Synagogen entstanden – etwa in Hechingen, Michelbach an der Lücke, Rottenburg-Baisingen oder zuletzt in Haigerloch, wo einem als Kino und Supermarkt scheinbar rettungslos profanierten Gebäude etwas von der Würde eines Gotteshauses wiedergegeben werden konnte.

Dieses Buch ist keine Schlussbilanz, die Arbeit an der Erinnerung muss weitergehen, muss sich erneuern. Defizite gibt es immer noch: Was etwa soll aus dem gut erhaltenen Synagogengebäude von 1796 in Bad Rappenau-Heinsheim werden? Sollen die halbvergessenen Gedenksteine das letzte Wort öffentlicher Erinnerung sein? Der Rechenschaftsbericht des Gedenkbuches lädt zum Diskurs über neue Lösungen ein. Lebendige Erinnerung hilft der Wahrheit und dient der Gerechtigkeit, und sie schützt auch am besten davor, rückfällig zu werden.

Zum Weiterlesen:

Joachim Hahn / Jürgen Krüger, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus …“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur, Band 2: Orte und Erinnerungen. K. Theiss Verlag, Stuttgart 2007. 982 Seiten, 707 Abb., 59,90 Euro (bis 31. 12. 2007)

Festschrift zum 50jährigen Jubiläum der Synagoge zu Stuttgart, November 1911. Nachdruck hrsg. von Peter Grohmann / Die Anstifter, Stuttgart 2007. 117 Seiten, 10 Euro

Fritz Endemann lebt als Jurist in Stuttgart. Veröffentlichungen und Vorträge vor allem zur Landesgeschichte und zur juristischen Zeitgeschichte, aber auch zu literarischen Themen.