Ausgabe: November/Dezember 2007  


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Ray Bradbury und die Männer des Herbstes

Ray Bradbury und die Männer des Herbstes

Von Ingrid Mylo

I.
Ich hatte noch etwas Zeit an diesem Samstagvormittag im Oktober des Jahres 1974. Die Proben zu „Martha, die letzte Wandertaube“ begannen aus irgendeinem Grund später und ich lief, bevor ich ins Theater am Turm ging, noch schnell über den Flohmarkt am Main, wühlte aus einem Haufen Flitter und Müll ein Taschenbuch und nahm es für die verlangten fünfzig Pfennige mit. Hauptsächlich wegen des Stundenglases auf dem Cover, aber auch, weil es in diesem Durcheinander von kaffeefleckiger Spitze, Puppenarmen und angeschlagenem Emailgeschirr so etwas wie ein Buch überhaupt gab. Während der Theaterprobe las ich blickweise in den Seiten. Sonderlich beeindruckt kann ich von den Geschichten nicht gewesen sein, ich habe keine blasse Ahnung mehr, wovon sie handelten. Nur ein Aroma von Staub, Zwielichtigkeit und etwas, das nicht mit rechten Dingen zugeht, ist geblieben. Ralph Möbius, Mitglied der Gruppe „Ton, Steine, Scherben“ und für die Musik der „Martha“-Produktion zuständig, sah mich lesen, griff sich das Buch und gab es mir kopfschüttelnd wieder. Zwei Tage später drückte er mir eine Plastiktüte in die Hand. Darin befanden sich zwei Dinge: ein Spielzeugtier aus Plüsch, ein kleiner Hund, glaube ich, nicht für mich, sondern dem Schauspieler Volker Spengler zugedacht und nur aus Versehen noch in der Tüte. Das andere war Ray Bradburys Roman Geh nicht zu Fuß durch stille Straßen. Der Buchdeckel: vorwiegend blau, mit graubraunen Häuserruinen, die versteinerten Gewächsen glichen, ein kleiner Mann in langem Mantel drehte sein leuchtend gelbes Gesicht in Richtung Betrachter, und vorne rechts thronte ein riesiger, stahlblauer, kahler Frauenkopf, der anstelle von Haaren schwarze, kreisrunde Löcher aufwies.

„Wenn du schon so’n Zeugs liest“, sagte Ralph, der sich ein paar Jahre später Rio Reiser nannte, „dann richtig. Von einem, der’s kann.“

II.
Der, der’s kann, ist ein Zauberer, einer, der Druckerschwärze in Sternenstaub verwandelt, der dürre Buchstaben in seinen Zylinder wirft und blühende Bilder herauszieht, eins nach dem anderen, ein seidiger Rausch bunter Tücher schwebt auf Gegenstände herab, auf Gefühle und Minuten. Vor den Augen des Lesers verändert sich das Vertraute, das Gewöhnliche, und wird Wunderwerk. Wie damals, als Kind, als man Kopf und Taschen voll hatte mit allen möglichen Anblicken und Fundstücken vom Wegrand, und eine Flaschenscherbe war keine Flaschenscherbe, sondern der in der Sonne funkelnde Splitter eines Geheimnisses.

III.
Und ich las. Las das Buch aus der Plastiktüte, sechzehn utopisch-phantastische Meistererzählungen. Las von Leonard Mead, dessen Lieblingsbeschäftigung (das abendliche Schlendern durch die menschenleere Stadt) die öffentliche Ordnung des Jahres 2052 so sehr bedroht, dass ein ferngesteuerter Polizeiwagen den einsamen Fußgänger einkassiert und fortschafft. Von der Kolonialisierung des Mars las ich. Von einem Dinosaurier, der nach Jahrmillionen der Abgeschiedenheit vom Grund des Meeres auftaucht, um den Ruf eines Nebelhorns mit seinem sehnsuchtsvollen Schrei nach einem Gefährten zu beantworten. Von der Aprilhexe, die sich in einen Sterblichen verliebt und tief in der Nacht als Amsel „einen Augenblick lang leicht und sonderbar an die hellen Mondkristalle der Fensterscheibe schlägt“.

IV.
Als den „Louis Armstrong der Sciencefiction“ hat der Schriftsteller Kingsley Amis den am 22. August 1920 in Waukegan, Illinois, geborenen Raymond Douglas Bradbury einmal bezeichnet. Selbst Leser, für die das Genre nichts als ein weißer Fleck auf der Karte ihres Bewusstseins ist, kennen seinen Namen. Er war gerade sieben Jahre alt, als ihm eine Tante aus Büchern von Edgar Allan Poe und Wilkie Collins vorlas. So etwas prägt.


Mary Bradbury, eine andere Verwandte aus dem väterlichen Zweig der 1630 in die USA eingewanderten Familie, wurde noch im selben Jahrhundert als Hexe in Salem / Mass. vor Gericht gestellt. „Wahrscheinlich“, sagt Ray Bradbury, „habe ich von ihr mein Streben nach Freiheit von Furcht und meinen Abscheu vor Gedankenforschung und jeder Art von Gedankenkontrolle geerbt. Sciencefiction ist ein wunderbares Werkzeug, und ich gedenke es zu verwenden, wann immer es notwendig ist, Vorurteile zu beseitigen und die Menschen wachzurütteln, damit sie einander in Frieden leben lassen.“

V.
Geschichten wie Schläge von Mottenflügeln. Geschichten, in denen Frauen auf der Veranda sitzen und sticken und dann sehen, wie „am Rand ihres Blickfelds die Welt aufleuchtet und Feuer fängt“ – und die Erbsen in der Küche bleiben für alle Zeiten ungepalt. Geschichten, in denen Menschen in die Vergangenheit reisen und dabei durch einen Fehltritt den Tod eines grün-gold-schwarz glitzernden Schmetterlings verursachen, und als sie zurück in der Gegenwart sind, Jahrtausende später, ist die Sprache verstümmelt und ein anderer Mann Präsident. Geschichten, in denen fliegende Menschen wie „Spinngewebe von den Sternen herabsinken“, in denen das Summen eines Elektrizitätswerkes in Arizona in „die engsten Nischen des Schädels hinaufsteigt und einen Gesang auslöst wie einst Liebeslieder“ und in denen ein Nachtwächter, zum Äußersten entschlossen, um die Erhaltung von Filmkulissen kämpft. Um die Rettung der Träume.

VI.
Ein Sciencefiction-Autor, der seine Worte wie Waffen gegen den Fortschritt einsetzt. Nichts Gutes kommt von Übermorgen: Also schreibt Bradbury gegen die Medien und die Maschinen, schreibt gegen die Weiterentwicklung der Technik, gegen die Zukunft selbst. Unerbittlich, vehement und Jahrzehnte hindurch. Das hält die Forscher nicht ab: Atombombenabwurf und Videoüberwachung sind die Geister, vor denen er warnte und die man trotzdem rief. Und kein Meister ist in Sicht, keine Ecke, in die das gefährliche Spielzeug verbannt werden könnte. Dass Bradbury dennoch nicht locker lässt, nicht ablässt von seinen Überzeugungen, hat etwas Unbelehrbares, etwas von der hilflosen Wut eines Jungen, der Steine und Erdklumpen gegen die Welt der Erwachsenen schleudert, mit der er nicht einverstanden ist.

VII.
Der chinesische Kaiser Yuan, der einen Flugdrachen und dessen Erfinder verbrennen lässt, damit nicht irgendwann „ein Mann mit einem bösen Gesicht und einem bösen Herzen“ diese Maschine zu bösen Zwecken missbraucht.


Mister Albert Brock, der beim Psychiater landet, weil er „gegenüber Apparaten, die ewig grunzen“, gewalttätig wird: Er tritt ein Radio tot, zerbeißt Armbandsender wie Walnüsse, erschießt den Fernseher und stößt das Telefon den Müllschlucker hinunter. Dann hat er Ruhe. „Die Stille kam mir vor, als hätte ich Eiskrem in den Ohren.“


Der Sergeant, der ein winziges Gerät konstruiert hat, das mithilfe des Rost-Faktors in der Luft alles Kriegsmaterial zerfallen lässt.


Die Müllkutscher von Los Angeles, die am 10. Dezember 1951 mit Funkgeräten ausgerüstet werden: „Wenn die Atombomben auf unsere Stadt gefallen sind, dann werden diese Sender zu uns sprechen. Und unsere Müllautos werden die Leichen aufnehmen.“

VIII.
Zwischendurch ein Kapitel, das einen zu Atem kommen lässt. Es ist genau einen Satz lang: „Für den Rest dieser Nacht passierte nicht mehr viel.“ Ein Satz, auf den man sich retten, an den man sich klammern kann wie an die eine Planke, die vom Untergang des Schiffes übrig geblieben ist. Dann ist das Kapitel zu Ende. Darum herum tost und wütet das Geschehen.

IX.
„Nehmt euch vor den Männern des Herbstes in acht.“ Denn das Böse kommt an einem regenverhangenen Oktobertag in die Stadt, kommt in Gestalt von Mr. Cooper und Mr. Dark und kommt auf leisen Sohlen. Es kommt mit dem Zirkus nach Green Town: mit Fahnen, Drehorgeln, blauen Blitzen, mit dem Geruch von Zuckerwatte und Lakritz. Mit einem Spiegelkabinett, in dem die Seelen ertrinken wie Schiffbrüchige im eisigen Meer. Mit einem Karussell, das das Alter der Mitfahrenden Runde um Runde, Jahr um Jahr, vor- oder zurückstellt. Das Böse, jahrhundertalt und bestrebt, weitere Jahrhunderte zu überdauern, braucht ständig Nahrung: Es nimmt sich die Tränen und die Alpträume der Menschen, nimmt ihnen Schmerz, Schuld und Angst. Dafür werden sie – um der Jugend, des Geldes oder des Ruhmes willen – zu Verrätern: an sich, an ihren Überzeugungen, an ihren Freunden. Vor den Versprechungen der Verführer gibt es nur einen Zufluchtsort: die Bibliothek mit ihren Büchern, dieses Arsenal, randvoll mit Wissen und Phantasie und der Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen.

X.
Nachdem Bradbury mit achtzehn Jahren die Zeitschrift Futura Fantasia herausgegeben und nahezu im Alleingang (unter verschiedenen Pseudonymen) mit diversen Beiträgen bestückt hat, nachdem er mit zwanzig genügend Druck und Disziplin aufgebracht, eine Geschichte pro Woche verfasst und an Zeitschriften wie Super Science Stories, Weird Tales und Planet Stories geschickt hat (zehn Jahre später hießen die Adressen Esquire, Collier’s und Saturday Evening Post), veröffentlichte er 1947 seinen ersten Erzählband Dark Carnival. Danach eine Flut von Büchern: Erzählbände, Romane, Essays, Drehbücher (darunter 1953 das von Moby Dick, dessen Entstehungsgeschichte Bradbury 1992 in dem Roman Grüne Schatten, weißer Wal schildert), Gedichtbände, Theaterstücke, Kinder- und Jugendbücher. 2007 wurde ihm der Pulitzerpreis für sein Lebenswerk verliehen.

XI.
Die Jungen in den Büchern sind meist elf Jahre alt, oft heißen sie Spaulding. Und mit ihnen tauchen – wie Rilkes weißer Elefant, der dann und wann und als Refrain vorübergleitet – bestimmte Details immer wieder auf: eine amerikanische Kleinstadt in Illinois namens Green Town. Der Mars als Wille und Vorstellung und Synonym für die Suche nach dem Sinn des Lebens. Der Zirkus, Jahrmärkte, Rummelplätze, Vergnügungsparks mit monströsen Ausstellungsstücken. Äpfel, mal als reine Frucht, mal als „die goldenen Äpfel der Sonne“ in einer Gedichtzeile von W. B. Yeats oder in Metaphern: tanzende Frauenfüße machen ein „Geräusch wie Sommeräpfel, die in weiches Gras fallen“, und Nachtfalter tippen wie „Apfelblüten die fernen Straßenlaternen“ an. Der Tod, natürlich, ob er nun ein einsames Geschäft ist oder kommt, um jemanden im Weidenkorb zu holen, der Tod in vielen Formen und Farben. Als Wind jagt er den Weltreisenden Allin, als Mr. Munigant lutscht er einem angeblichen Hypochonder, dessen Knochen zum Erbarmen schmerzen, das Skelett aus dem Leib. Er nötigt einem armen Farmer seine Sense auf und zwingt ihn in die Rolle des Schnitters. Väter, die erfinden und träumen und von Rätseln leben, und Mütter, die einen kühlen Kopf und die ihre Hände fest in den Taschen der Küchenschürze vergraben haben, Erdung der Familie. Überhaupt die Familie: Hort und Heim und Schutz vor den Ungeheuern, die im Fortschritt lauern und in der Unwissenheit. In den Schoß der Familie kehren die Kinder am Abend zurück, müde von den Spielen des Tages. „Wer als Letzter zu Hause ist“, schreit Douglas in dem Roman Löwenzahnwein, „is’n Nashornpo!“


Zum Weiterlesen:

Schneller als das Auge. Geschichten. Übersetzt von Hans-Christian Oeser. 2006. 336 Seiten, 19,90 Euro
Geisterfahrt. Erzählungen. Übersetzt von Monika Elwenspoek. 2000. 272 Seiten, 19,90 Euro
Fahrenheit 451. Roman. Übersetzt von Fritz Güttinger. 1981. 176 Seiten. 7,90 Euro
Der illustrierte Mann. Roman. Übersetzt von Peter Naujack. 2002. 320 Seiten, 9,90 Euro
Das Böse kommt auf leisen Sohlen. Roman. Übersetzt von Norbert Wölfel. 2003. 272 Seiten, 9,90 Euro
Löwenzahnwein. Übersetzt von Alexander Schmitz. 1983 (antiquarisch)
 (alle im Diogenes Verlag, Zürich)

Ingrid Mylo, Jahrgang 1955, lebt als Schriftstellerin in Frankfurt a. M. und Kassel. Demnächst erscheinen von ihr kürzere und längere Prosatexte unter dem Titel Männer in Wintermänteln im Verlag Das Arsenal, Berlin.


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